Katja Petrowskaja, geboren in Kyjiw, ist Schriftstellerin. Sie studierte in Tartu, recherchierte in Stanford, promovierte in Moskau und lebt seit 1999 in Berlin. Dort lernten wir uns kennen in der Redaktion der FAS, für die sie, unter anderem, ihre Kolumne Die west-östliche Diva erfand. Meist schreibt sie ihre Texte auf deutsch. Für ihr Buch Vielleicht Eszter wurde sie 2013 in Klagenfurt mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet. 2022 veröffentlichte sie bei Suhrkamp Das Foto schaute mich an. Jetzt hat sie ihr erstes Opernlibretto geschrieben, für die Komponistin Lucia Ronchetti. Das Stück erzählt von einem russischen Doppelgänger, frei nach Fjodor Dostojewski. Die Uraufführung der Oper findet am 26. April statt, zur Eröffnung der Schwetzinger Festspiele. 


VAN: Liebe Katja, ich kenne dich als einen leidenschaftlichen Musikmenschen. Du weißt viel über Musik und ab und zu schreibst du auch darüber. Aber jetzt: ein Opernlibretto! Wie kam es denn dazu?

Katja Petrowskaja: Lucia hatte mir das anvertraut. Wir sind seit Jahrzehnten befreundet. Sie hat etwas, das ich nicht habe. Lucia ist zum Beispiel mutig. Sie probiert immer wieder etwas Neues aus. Wir haben auch am gleichen Tag Geburtstag…

Was ist jetzt aus eurem Projekt geworden? Bist du glücklich mit dem Ergebnis, so kurz vor dem Stapellauf?

Ich kenne die Musik dazu noch nicht! Ich bin bei keiner Probe gewesen, nur die Noten habe ich schon gesehen, die sind wirklich beeindruckend. Hören werde ich das erst bei der Generalprobe. Ich kenne, muss ich sagen, auch nicht sehr viel von Lucias Kompositionen. Aber das, was ich kenne, fand ich immer sehr vielfältig und spannend. Sie ist unglaublich erfinderisch. Jedes neue Stück von ihr ist wie von einem anderen Planeten.

Wie kamst du zur Musik?

Ich habe als Kind im Chor gesungen. Ein gemischter Kinderchor, in Kyjiw. Das war sehr viel mehr als nur ein Chor. Es war so eine Art Rettung.

Rettung wovor?

Es ist dort gelungen, uns über das Singen aus einer falschen Realität herauszuholen.

Was meinst du damit?

Man hat uns dort eine Möglichkeit gezeigt, oder, besser gesagt, eine Tätigkeit gelehrt, wie man wahrhaftig bleibt. Ich konnte erst keine Noten lesen, wir haben alles auswendig gelernt. Wir haben gelernt, wie man nicht durch Atem, Zwerchfell oder eigene Körperlichkeit singt, sondern durch eine Vorstellung. Was bedeutet: Wir haben immer erträumt, wo wir landen müssen. Es ging ums Zuhören und um den gemeinsamen Sound. Ich weiß nicht genau, wie das funktionieren konnte. Aber es war unglaublich. Der Chor heißt ›Schedryk‹.

Nach diesem Weihnachtslied, das als Carol of the Bells weltberühmt geworden ist?

Ja genau. Eigentlich ist es ein ukrainisches Lied. Die Sternsinger singen es, wenn sie von Hof zu Hof gehen. ›Schedryk‹ bedeutet aber eigentlich ›der Großzügige‹. Wie auch immer, dieser Chor wurde Anfang der Siebziger gegründet von Irina Nikolajevna Sablina, der Frau des Dirigenten Roman Kofman. Sie war unsere Chorleiterin. Es gab in der Sowjetunion Menschen, die allein durch ihre Berufung viele gerettet haben. Sie haben sich komischerweise so frei benommen, als wären sie geschützt. Man könnte glauben, es gebe etwas Göttliches in der Geschichte.

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Der Schedryk-Chor im Jahr 2019, mittlerweile geleitet von Marianna Sablina, der Tochter der Gründerin

Ihr seid damals auch öffentlich aufgetreten?

Zwei oder dreimal im Jahr. Dafür haben wir ja immer bis zu zwölf Stunden in der Woche geprobt. Kaum Pionierlieder oder so etwas, aber sehr viele Volks- und Kinderlieder aus der ganzen Welt. Und vor allem klassische Sachen, von Bach bis Messiaen. Wir sind auch zu Konzerten gereist und haben Platten aufgenommen. Einmal, als ich zwölf war, haben wir das Stabat Mater von Pergolesi gesungen, bei dem Festival ›Weisse Nächte‹ in Leningrad. Diese Musik und viele andere Stücke wurden für mich engimatisch. Auch der Ort, wo wir damals probten, war besonders.

Wo war das?

In einem Palast aus dem neunzehnten Jahrhundert, der auf einem Hügel steht, über dem Maidan. Er war von einem italienischen Architekten gebaut worden, Vincent Beretti. Ursprünglich war dieses Haus ein Institut für Adelstöchter gewesen, eine der ersten Bildungseinrichtungen für Frauen im zaristischen Russland. Ab dem fünften Lebensjahr ging ich dort dreimal pro Woche hin zum Tanzen und ab dem siebten auch noch dreimal die Woche zum Singen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich immer noch an dieser Adelstöchter-Anstalt sang und tanzte. Ist das nicht genau die Ausbildung, die eine Frau braucht, als Ergänzung zum sowjetischen Schulsystem?

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Du hast Ballett getanzt?

Ja. Ich fing mit fünf an, und als ich zehn war, wurde ich aussortiert. Ich war zu groß geworden. Man war professionell in der Sowjetunion. Gnadenlos.

Fünf Jahre sind eine lange Zeit für ein Kind. Dein Körper weiß das sicher heute noch!

Ha, ha, besonders, wenn man Techno tanzt! Gottseidank durfte ich viel länger singen, als tanzen! Dieser Chor wurde einer der wichtigsten Lehrer meines Lebens. Er hat mich geprägt, auch was das Schreiben angeht.

Wie meinst du das?

Ich habe erst sehr viel später verstanden, wieviel ich beim Singen mitbekommen habe. Jede Formulierung hat einen bestimmten Rhythmus. Diese oder jene Phrase, alles ist Geste. Wenn ich ein Adjektiv hinzufüge oder nur einen Artikel vor ein Wort setze, ändert sich der Tonfall, dann muss ich alles umschreiben. Ich überprüfe alles nach dieser Gestik.

Wie erging dir das beim Libretto-Schreiben? Libretti müssen ja so wahnsinnig verdichtet und kurz sein, weil da die Musik noch dazu kommt.

Dieses Doppelgänger-Libretto habe ich vor drei Jahren geschrieben, das war in der Covid-Zeit und vor dem Krieg. Ich hätte es jetzt nicht machen können. Wir leben in anderen Zeiten. Aber der Anfang der Zusammenarbeit mit Lucia ist noch länger her, das war 2015. Sie hatte eine Kolumne von mir gelesen, über ein Foto von einer syrischen Frau, die auf Lesbos ankommt. Eine Bootsflüchtlingsfrau, eingehüllt in so ein goldenes Tuch. Es ging um unsere Assoziationen dazu, um den Mythos dahinter, die Kunstgeschichte und darum, dass wir nicht mehr fähig sind, zu sehen, was eigentlich geschieht. Die Flüchtlingskrise war ja keine ›Krise‹, es ist eine Katastrophe. Lucia hatte die Idee, dass wir dazu etwas zusammen machen sollten. Ich habe dann für sie den Text zu einem Lamento geschrieben.

Noch keine Oper, aber eine Form, die aus den Anfängen der Oper bekannt ist, von Monteverdis Lamento d’Arianna.

Ja, genau. Wir wollten aber keine ›Agitka‹ machen. Kein Propagandastück zur aktuellen Lage. Lucia hat dann dieses Lamento komponiert, es heißt Lascia ch’io pianga, mit Assoziationen an Monteverdi. Es war für mich ein körperliches Erlebnis, diese Sängerin zu hören, die da auf den Nerven des Pianos spielt.

Diese Musik ging aus von einem Text von dir, den es schon gab. Wie kamt ihr dann ausgerechnet auf einen Text von Dostojewski? Ist Der Doppelgänger eine Literaturoper?

Es war Lucias Idee. Ich war überrascht, dass sie mit diesem Werk auf mich zukam. Es entspricht gar nicht ihrer Kraft und Aktivität, sich mit solchen Zweifeln zu behaften. Der Arbeitsprozess wurde dann ziemlich aufregend, erstens, weil Lucia eigene Vorstellungen hatte und zweitens, weil das Reduzieren nicht meine Sache ist. Es wäre für mich viel einfacher gewesen, etwas ganz anderes zu schreiben, als mich irgendwie an dieser Heiligkeit abzuarbeiten. Dostojewski war ja auch nicht zufrieden mit seinem Werk, er hat bekanntlich eine zweite Fassung geschrieben. Ich habe alle Übersetzungen durchprobiert, die es gibt, ich wollte neue Nebengeschichten erfinden, Varianten ausprobieren, habe viel Sekundärliteratur gelesen, viele Filme gesehen, und irgendwann war ich in so einem Zustand, dass ich mir selbst einen Doppelgänger gewünscht habe, der für mich das Libretto vom Doppelgänger schreiben könnte. Ja! Lucia sagte: Lass uns einfach den Text machen, es ist ein fantastischer Text. Sie hatte recht. Also haben wir uns darauf geeinigt.

Probenfoto aus Der Doppelgänger in Schwetzingen • Foto © SWR/SSF/Elmar Witt

Du hast dann mit Lucia Ronchetti aber doch ständig weiter gechattet?

Ja, ich nahm Sprachnachrichten auf, mit Vorschlägen zu den einzelnen Szenen, die habe ich ihr geschickt, per Whatsapp. Wie eine Rohrpost. Man erwartet keine Antwort. Ein paar davon stehen jetzt abgedruckt im Programmheft. Am Ende ist der Arbeitsprozess sicher interessanter gewesen, als es der Text sein kann.

Stapelst du da nicht etwas tief?

Ich tröste mich damit: Es gibt so viele phänomenale Opern, die schreckliche Libretti haben!

Das Doppelgänger-Motiv wurde ja von Dostojewski ganz anders angegangen, als es die deutschen Romantiker taten. Der Kanzleibeamte Goljadkin erlebt keine Spukgeschichte, nicht wahr? Eher löst er sich von innen auf. Kann man sagen: So etwas ist spezifisch russisch?

Es ist eine spezifisch Petersburger Geschichte. Eine Stadt voller Beamter. Lauter Männer. Peter der Große hatte sie gebaut als moderne europäische Stadtmaschine und als Bollwerk gegen die alten Adelshierarchien von Moskau. Und dann kommen all diese kleinen Beamten dahin und sind nichts, nur Beamte unter Beamten, und alle verwalten irgend etwas. Was, ist egal. Das erscheint surreal, es ist ein Topos. Moskau dagegen gilt als eine autoktone, normal entstandene Stadt. Eine Stadt der Frauen, eine Braut. Altes Russland mit alten Kirchen. Puschkin hat diese beiden Topoi zuerst verwendet. Danach wurde diese kaum existierende Stadt, die immer dazu tendiert, wieder im Sumpf zu verschwinden, weshalb alle, die da wohnen, nicht ganz real sind als Menschen, zu einem literarischen Traum: Alptraum, Traumstadt. Gespalten, sozusagen, zwischen dem Dasein und dem Nichtsein.

Probenfoto aus Der Doppelgänger in Schwetzingen • Foto © SWR/SSF/Elmar Witt

Bildet sich der arme Goljadkin alles nur ein? Wird er am Ende ›nur‹ verrückt? Oder kommt die Bedrohung doch von außen? 

Diese Frage kann ich leider nicht beantworten. Könnte beides sein. Da ist zum Beispiel der Diener Petruschka. Es gibt viele Petruschkas in der russischen Literatur. Er ist immer besoffen, aber zugleich eine Art Joker, und im Doppelgänger ist er auch noch der Kontrolleur: Durch ihn verstehen wir, dass wir nichts verstehen.

Inwiefern?

Er fragt: ›Soll ich dann zwei Portionen bestellen?‹ Als hätte er den anderen Goljadkin auch gesehen. Oder nehmen wir den Erzähler: Hier spricht Dostojewski selbst. Aber es könnte auch eine Kunstfigur sein, ein imaginärer Autor, also der Doppelgänger von Dostojewski. Einmal sagt er: ›Ach, es wäre gut, ich wäre so ein Dichter wie Homer oder Puschkin, mit minderem Talente würde ich es mir nicht getrauen, diese Szene zu schildern.‹ Das ist blutige Ironie. Sagen wir es so: Der Doppelgänger ist tatsächlich eine Geschichte über Menschen, die etwas anderes sein wollen, als sie sind.

Probenfoto aus Der Doppelgänger in Schwetzingen • Foto © SWR/SSF/Elmar Witt

Also alle. Oder fast alle, seit Beginn der Moderne.

Nun muss ich doch noch über Napoleon reden. Er hat es vorexerziert: Dass ein kleiner Mann sich selbst erschaffen kann aus dem Nichts. Einer aus dem dritten Stand macht eine so wahnsinnige Karriere, überfällt andere Länder, geht über Leichen, krönt sich selbst. Das wird zu einem russischen Trauma. Und dass Menschen in einer Welt, wo so etwas möglich ist, aus den Fugen gehen, das hat dann auch noch eine musikalische Komponente. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.