Seit 2007 leitet der englische Dirigent Daniel Harding das Swedish Radio Symphony Orchestra (SRSO), das mich vor kurzem nach Stockholm zu einem Proben- und einem Konzertbesuch einlud. Harding und ich aßen in einem Restaurant, das so fancy ist, dass es nicht mal eine Speisekarte gibt – der Küchenchef persönlich erklärt einem, was am jeweiligen Tag besonders frisch ist und darum auf den Tisch kommt –, aber Harding schien das Essen gar nicht zu beachten, weil er sich ganz auf die Beantwortung meiner Fragen konzentrierte. Fast zwei Stunden lang sprachen wir über die Langzeitbeziehung zwischen Dirigent und Orchester, die Ähnlichkeiten zwischen Musik und Luftfahrt und die Dauerpräsenz von Musik in Hardings Kopf. Am Schluss des Konzerts am selben Abend – mit Werken von Schumann, Brahms und Brett Dean –  bemerke ich, wie Harding noch während seiner Verbeugung einen Ausschnitt aus dem Stück summt, das er gerade dirigiert hat.

VAN: Du bist seit 2007 Chefdirigent beim SRSO. Wie hat sich die  Beziehung zwischen dem Orchester und dir seitdem entwickelt?

Daniel Harding: Ich bin so schlecht darin, etwas, in dem ich selbst involviert bin, aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ich habe den Job 2005 angenommen, da war ich 30. Bis dahin hatte ich als Chefdirigent fast ausschließlich mit diesen tollen Kammerorchestern wie dem Mahler Chamber Orchestra und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen zusammengearbeitet. Das war ein ziemlich geschützter Raum, weil die sehr autonom sind. Man ist da als Dirigent in einer ganz anderen Rolle, du kannst viel Zeit damit verbringen, deine Ideen zu diskutieren.

Mein erster Kontakt mit dem SRSO kam zustande, als ich gerade in Stockholm war für einen Auftritt mit dem Königlichen Philharmonischen Orchester. Der Manager des SRSO kam auf mich zu und bat mich, mir mal eine Probe des Orchesters anzugucken. Ich erinnere mich noch, dass die mich erstaunt hat. Das Licht im Saal war relativ dunkel. Myung-Whun Chung probte gerade das Verdi-Requiem. Er arbeitete mit den Streichern an einem Klang, an einem kleinen Pattern. Es war eine unglaublich konzentrierte, intime Probe, und er holte immer noch mehr und mehr aus dem Orchester heraus. Das ist mir als ideale Arbeitsumgebung in Erinnerung geblieben.

Für mich war das SRSO von Anfang an gut vorbereitet, entspannt und offen. Ich hatte bei ihnen nie das Gefühl, dass man sofort unten durch ist, wenn man mal etwas unglücklich formuliert oder einen kleinen Fehler macht. Sie sind einfach so menschlich.

Ich erzähle dir das alles, weil ich versuche, mich zu erinnern, wie sich das so entwickelt hat. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich 15 Jahre später noch hier sein würde. Am Anfang geht man das Risiko ein und sagt sich: Ich mag diese Leute, ich mag diesen Ort, lassen wir es drauf ankommen. Und dann ist es, wie bei jeder Beziehung, eine Kombination aus harter Arbeit und Glück. Sie sind ein unglaublich unkompliziertes Völkchen. Klassischerweise sagt man ja: ›Oh, wir haben gute und schlechte Zeiten durchgemacht.‹ Nein, nicht wirklich.

Seid ihr denn auch mal unterschiedlicher Meinung?

Ja, auf eine sehr höfliche, schwedische Art. Wir hatten schon mal Meinungsverschiedenheiten bei der Aufnahme neuer Orchestermitglieder. Man kann sich da in eine Sackgasse manövrieren, wenn das Orchester jemanden will und man selbst das aber für eine schlechte Idee hält, oder umgekehrt. Wir hatten im Laufe der Jahre eine Situation, in der wir uns über eine Neueinstellung uneinig waren, und das Orchester war sich untereinander auch nicht einig, was auch normal ist.

Damals habe ich einen sehr erfahrenen Kollegen angerufen und ihn um Hilfe gebeten Er hat etwas Brillantes gesagt: ›Das Beste, was du für das Orchester tun kannst, ist, die Entscheidung selbst zu treffen. Diejenigen, die nicht einverstanden sind, werden denken, dass du von oben was durchdrückst. Aber du bewahrst die Gruppe davor, sich zu entzweien, weil du die Entscheidung von außen triffst.‹ Das war lehrreich.  

Es geht nicht wirklich darum, wie sich die Beziehung verändert hat. Ich glaube, es war Karajan, der mal gesagt hat: ›Chefdirigent zu sein bedeutet, einem Orchester 40 Jahre lang jeden Tag dieselben drei oder vier Sachen zu sagen.‹

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Welche drei oder vier Sachen hast du dem SRSO in den letzten 15 Jahren jeden Tag gesagt? 

Wir sprechen viel darüber, wie wir das spielen, was wir in den Noten sehen. Wir sprechen viel über Akzente, Sforzatos und die espressivo-Symbole, die wie crescendo-diminuendos aussehen. Ich sage nicht, dass das das Wichtigste überhaupt ist, aber es ist erstaunlich, wie sehr wir uns als Musiker:innen erstmal für die enorme Bandbreite der Bedeutung dieser Zeichen sensibilisieren müssen. Wir neigen dazu, einfach irgendwie reinzuhauen. Man sieht was und spielt es mit den Augen, anstatt mit den Ohren zu kontrollieren, ob das, was man gerade gemacht hat, Sinn ergibt. In schlechte Gewohnheiten verfällt man so leicht.

Als Dirigent hat man einen Vorteil: Man befindet sich nicht im Orchester. Jede und jeder im Orchester könnte bessere Ohren haben als man selbst, aber man hört als Dirigent trotzdem Sachen, die die anderen nicht hören. Indem du regelmäßig auf Dinge hinweist, die du hörst, sensibilisierst du die Musiker:innen für das, was du für wichtig hältst. 

Das erinnert mich an eine Geschichte: Im Zweiten Weltkrieg gab es Leute, die an der englischen Küste standen und die Flugzeuge am Horizont beobachtet haben. Und sie wussten, ob es britische Flugzeuge waren, die nach Hause kommen, oder deutsche, die geraden einen Angriff fliegen. Es ist ziemlich schwierig, ein winziges Flugzeug in der Dunkelheit auszumachen, das gerade über dem Horizont fliegt, und dann auch noch zu bestimmen, wohin es fliegt. Noch schwieriger ist es, zu erklären, wie man das macht. Man brauchte damals mehr Leute, die diese Fähigkeiten besaßen, aber man wusste nicht, wie man es den Neuen beibringen sollte. Am Ende wurden die Neulinge einfach neben die gestellt, die es konnten. Ihnen wurde dann immer gesagt: ›Das sind Deutsche. Das sind Engländer.‹ Nach ein paar Wochen oder Monaten hatten die anderen es dann auch drauf. Niemand hat ihnen gesagt: ›Darauf musst du achten.‹

Als Dirigent kann man eine Gruppe von Musikerinnen und Musikern sensibilisieren. Am Anfang redet man übers legato, und die Leute vor einem schauen einen an und sagen: ›Ich weiß nicht, wovon er spricht.‹ Nach einem Jahr sagen sie dann: ›Oh ja.‹ Indem man Themen, die einen stören, immer wieder anspricht, fangen die Leute an zu verstehen, was es ist, wie es sich anfühlt oder wie es klingt.

Das ist wahrscheinlich etwas, das sich im Laufe der Jahre in deiner Beziehung zum Orchester verändert hat.

Es gibt eine fantastische Vertrautheit, und wir können auch vieles abkürzen. Man sagt immer wieder die gleichen Dinge. Gleichzeitig gibt es vieles, was – irgendwann – nicht mehr gesagt werden muss.

Man wird aber auch bescheiden. Man hört das Orchester spielen und denkt: ›Wir haben in diesen 15 Jahren großartige Arbeit geleistet.‹ Dann hört man sich ein Konzert von vor 16 Jahren an und denkt: ›Sie waren da schon verdammt gut.‹ [lacht]

Wie lange, denkst du, sollten ein Orchester und ein Chefdirigent idealerweise zusammenarbeiten?

Man sagt ja immer: ›Wenn die Beziehung nicht mehr positiv und produktiv ist, muss man sie sofort beenden.‹ Ich frage mich, ob es nicht eher umgekehrt ist: ob wir aufhören müssen, wenn es zu einfach wird.

Wenn man eine Idee ins Orchester gibt, ist es wichtig, dass sie zu 100 Prozent wiedergegeben wird, denn nur so merkt man, wenn es eine schlechte Idee war. Wenn ein Orchester deine Idee nimmt und sie weichspült, dann merkst du es oft nicht und bleibst dabei. Es kann sein, dass man selbst nichts lernt, wenn ein Orchester einen vor der eigenen Dummheit schützt. Manchmal hätte ich vom SRSO gerne ein bisschen mehr Widerständigkeit. Aber ich liebe den Einsatz, den das Orchester zeigt.

Was kann man aus dieser Art der Langzeit-Zusammenarbeit mitnehmen, wenn man woanders als Gastdirigent nur drei oder vier Tage mit einem Orchester hat? 

Es ist ein ganz anderer Beruf. Ich glaube wirklich, dass man als Dirigent zwei Berufe hat. Sie haben einige Gemeinsamkeiten, aber eigentlich sind es unterschiedliche Berufe mit unterschiedlichen Zielen. Es gibt Leute, die beides gut können, und es gibt Leute, die in dem einen Beruf sehr, sehr gut sind und in dem anderen nicht so. Und dann gibt es noch diejenigen unter uns, die in keinem der beiden Berufe besonders gut sind. [Lacht]

Ich habe das Glück, mit den Wiener Philharmonikern zu arbeiten. Wenn ich sie dirigiere, kann ich hören, dass ich in der Schulter ein bisschen angespannt bin. Wenn das Orchester aufdreht, dann schauen sie den Dirigenten ganz genau an. Alles, was einem durch den Kopf und durch den Körper geht, wird in Musik umgesetzt. Es ist überwältigend.

Das klingt ein bisschen beängstigend.

Es ist beängstigend, ja. Es gibt in Wien diesen Witz: ›Wenn wir einen Dirigenten mögen, sorgen wir dafür, dass es gut klingt, und wenn nicht, spielen wir, was er dirigiert.‹

Wenn man Chefdirigent ist, gibt es immer Sachen, an denen gearbeitet werden muss. Das bedeutet, dass man sie auseinandernehmen muss, und es klappt dann nicht unbedingt immer, sie bis Donnerstagabend wieder zusammensetzen. Manchmal muss man kurzfristig Opfer bringen, um langfristig gut zu arbeiten.

Es war interessant, als ich [in der Saison 2016/17] zum Orchestre de Paris gegangen bin. Ich hab mir damals Sorgen gemacht. Mein erstes Programm waren Schumanns Szenen aus Goethes Faust. Dem waren sie auch gewachsen, aber ich erinnere mich an das Gefühl bei den Proben: Alles, was ich gesagt, was ich gefordert habe, hat ihnen das Gefühl gegeben, weniger gut zu sein, als sie es vorher waren. Das Orchestre de Paris ist großartig in Form, ich meine das eher ganz allgemein, dieses Bild: Man geht in einen Nachtclub. Am nächsten Morgen kommt man rein zum Putzen und schaltet das Licht an. Dann sieht es da nicht mehr so gut aus wie um 5.30 Uhr morgens, als alle nach Hause gingen, und das liegt nicht daran, dass sich etwas verändert hätte.

Ein Teil der Arbeit sowohl in Stockholm als auch mit dem Orchestre de Paris besteht darin, zu sagen: ›Was wir jetzt machen, wird unbequem. Das bedeutet, dass das, was vor sechs Monaten großartig geklungen hat, jetzt vielleicht nicht mehr so gut klingt. Da müssen wir durch, um diese bestimmten Muskeln aufzubauen, diese Farben zu kreieren oder etwas Neues zu finden.‹

Das klingt, als ob du lieber als Chefdirigent als als Gastdirigent arbeitest. 

Ich bin mit der Vorstellung  aufgewachsen, dass das das Wichtigste ist. Besonders großen Einfluss auf mich hatten Simon Rattle, Seiji Ozawa und Mariss Jansons, diese drei Typen, die über einen so langen Zeitraum auf so unterschiedliche Weise mit einem Orchester gearbeitet haben. Simon war ein Vorbild in dem Sinne, das er sich noch zu einem Zeitpunkt total reingehängt hat, als der Markt ihm eigentlich schon vermittelt hat, dass es längst Zeit wäre ›aufzusteigen‹. Er sagte sich: ›Warum? Ich hab hier noch zu tun.‹ Mit dieser Denkweise bin ich groß geworden.

Es ist sehr befriedigend, etwas langsam aufzubauen. Mein Debüt als Dirigent habe ich vor 30 Jahren gegeben, aber ich habe erst jetzt langsam das Gefühl, meinen Job zu beherrschen. Das sorgt dafür, dass ich sagen kann: ›Ich kann auch mal was schneller auf die Beine stellen.‹ Ich war jahrelang der Typ, der viel Zeit braucht, der alles kontrollieren und über alles reden will. Das ändert sich gerade. Ich fange an, auch Gastdirigate zu genießen.

Ich wollte mit dir auch gerne über Musik und Fliegen sprechen. Seit 2018 arbeitest du als A320-Pilot bei der Air France. Vom Buch Skyfaring vom Piloten und Schriftstellers Mark Vanhoenacker …

… einem unglaublich poetischen Buch … 

… ist mir in Erinnerung geblieben, was Vanhoenacker über das Musikhören im Flugzeug geschrieben hat. Natürlich kann man keine Musik hören, während man das Flugzeug steuert, weil es einen ablenken könnte. Gibt es Musik, die du gerne hörst, wenn du Passagier bist?

Als Passagier oder als Pilot zu fliegen, sind zwei völlig unterschiedliche Sachen. Als Passagier kann man im Flugzeug unglaublich gut Filme gucken, lesen oder Musik hören. Ich weine bei Filmen eigentlich nie, außer ich sitze im Flugzeug, da werde ich total sentimental. Ich weiß auch nicht warum. Und wenn ich vorne sitze, bin ich cool as ice, das kann ich dir versichern. Es ist schon merkwürdig. 

Ich erinnere mich noch, wie ich mal mit einem befreundeten Piloten geflogen bin, nach Sichtflugregeln [das Flugzeug nach Sicht steuern, nicht mit Hilfe von Instrumenten. Anm. d. Red]. Wir waren über Südfrankreich und flogen entlang der Küste in Richtung Italien. Das Wetter war wunderschön, und unter Sichtflugregeln muss man von Punkt A nach Punkt B nicht in einer bestimmten Höhe fliegen. Du stehst in Kontakt mit den Fluglots:innen: Sie geben dir Informationen über den Verkehr, aber du bist für deine Flugroute verantwortlich, du bist dafür verantwortlich, aus dem Fenster zu schauen. Solange du dich an die Regeln des Luftverkehrs hältst, bist du frei. Du fliegst wie ein Vogel.

Der Freund meinte zu mir: ›Ich möchte, dass du mal was ausprobierst. Ich übernehme den Funk. Ich werde extrem aufpassen. Ich werde meine Augen überall haben, wirklich alles im Blick. Ich möchte, dass du die Kopfhörer aufsetzt, deine Lieblingsmusik hörst und einfach fliegst.‹

Ich habe es zutiefst gehasst [lacht].

Warum? Und welches Stück hast du ausgesucht? 

Ich weiß es nicht mehr. Ich habe irgendwas angemacht, was ich auf meinem Handy hatte. Aber die Musik hat in meinem Kopf zu viel Raum eingenommen, als dass ich mich noch wohlgefühlt hätte beim Fliegen. Oder irgendwas in mir hat gesagt: ›Du machst das hier eigentlich, um mal abzuschalten von der Musik.‹ Im Alltag gucken mich die Leute oft an wie einen Verrückten, weil ich immer irgendwas singe, wenn ich die Straße runtergehe. 

Du hast auch im Taxi gesungen auf dem Weg hierher.

Oh Gott, das tut mir leid. Seit ich acht Jahre alt bin, spielt den ganzen Tag Musik in meinem Kopf. Was  anderes zu machen, bei dem man sich sehr konzentrieren muss – sodass die Musik mal für eine Weile still ist – ist sehr erholsam für jemanden, der mehr oder weniger besessen ist von Musik. 

Als ich mit Fliegen angefangen habe, wollte ich mir selbst  das Geschenk machen, was Neues zu lernen. Ich dachte, es könnte nicht schaden, es mit dem Dirigieren etwas ruhiger angehen zu lassen. Ich wollte etwas finden, bei dem ich die anderen Bereiche meines Gehirns fordere. Musik ist schon seltsam: Man ist nie gut genug. [lacht] Und wenn doch, bedeutet das nur, dass du zu niedrige Maßstäbe angelegt hast. Außerdem ist sie so vage und unglaublich subjektiv. Ich habe mir also gesagt: ›Wahrscheinlich brauche ich in meinem Leben auch Raum für etwas, das ein wenig objektiver ist, weil ich dann mit der Subjektivität der Musik besser klarkomme. Das würde mir als Musiker und als Mensch gut tun…›

Ich habe Simon Rattle kennengelernt, als ich noch ein sehr junger Dirigent war. Er hat ab dann immer gesagt: ›Dieser Junge hat eine phänomenale natürliche Begabung fürs Dirigieren.‹ Jahrelang hat der großartigste Dirigent, den ich kannte, gesagt, ich hätte eine phänomenale natürliche Begabung. Ich habe das nie in Frage gestellt. Du arbeitest mit diesen Kammerorchestern, und sie machen all deine Schwächen wett. Man sagt: ›Ich will das so‹, und bam – los geht’s.

Dann wird man zu immer mehr Auftritten eingeladen, und man steht plötzlich vor Orchestern, die einen angucken und ihnen steht ›Was machst du da?‹ ins Gesicht geschrieben. Ich hab einen Freund angerufen, der Dirigierprofessor ist. Ich habe ihn gefragt ihn, ob er zu einigen meiner Proben und Konzerte kommen könnte, um mich zu beobachten und mit mir zu besprechen, was ich besser machen könnte. Ich bin süchtig geworden nach diesem unglaublichen Gefühl, wenn einem jemand zeigt, wie man etwas besser machen kann, man es dann anwendet und diesen enormen Rausch erlebt: ›Scheiße, es funktioniert!‹

Als das alles zusammenkam, dachte ich: Und was jetzt? Als Teenager war ich schon ein bisschen geflogen. Das hat mich fasziniert. Ich habe Pilot:innen immer bewundert für ihr universales Wissen über so viele unterschiedliche Dinge. Also habe ich mich daran gemacht, eine Privatpilotenlizenz zu erwerben. 

Ich habe mich in das Fliegen verliebt: Es ist wirklich ein Geschenk, etwas in drei Dimensionen kontrollieren zu können. Ich habe mich auch in den Prozess verliebt, etwas Neues und Schwieriges zu lernen. Wir alle wissen, dass alle intelligenten Musiker:innen ihr Leben lang lernen. Aber es ist nicht dasselbe, wenn man mit Mitte 40 versucht, sich etwas völlig Neues zu anzueignen. Ich mochte es, dass etwas unüberwindbar schien und man dann Schritt für Schritt gemerkt hat, dass man es doch schaffen kann.

Ich verstehe es auch, wenn Leute sagen, dass Musik eine so komplexe und wichtige Sache ist, dass man ihr das ganze Leben widmen soll. Das Argument leuchtet erstmal ein. Für manche mag es stimmen, aber ich halte es für falsch. Es macht mich nicht zu einem besseren Musiker, wenn ich nichts außer Musik im Kopf habe.

Pilot:innen haben klare Richtlinien zur Kommunikation untereinander. Hast du was davon in deinen Probenalltag mitgenommen, zum Beispiel um mit Frustration besser umzugehen?

Es gibt immer irgendwen, der sagt: ›Er ist total ungeduldig.‹ Die, die mich schon lange kennen, meinen, ich sei ›immer noch Daniel‹, auch mit Flugschein. Aber ich habe jetzt mehr Ressourcen, die ich abrufen kann.

Als Dirigent geht man super vorbereitet in die erste Probe. Es gibt dieses Klischee, dass der Dirigent neu dazu kommt und das Orchester das Stück schon 1.000 Mal gespielt hat, aber heutzutage komme ich oft mit einem Stück zu einer Probe, das ich schon 50 Mal dirigiert habe, die Musiker:innen aber noch gar nicht kennen. Oft hat man selbst schon am Montagmorgen alles parat, aber das Orchester braucht noch bis Dienstag Nachmittag. [lacht] Wenn man in so einem Fall super motiviert ist, kann das ungeduldig rüberkommen.

Als ich mit dem Fliegen angefangen habe, bin ich in manchem besser geworden und andere Sachen sind mir einfach bewusster geworden. Beim Fliegen ist ja vieles standardisiert. Bei der Probe sage ich der ersten Trompete, dass sie an einer bestimmten Stelle anfangen soll. Später merkt man dann, dass die gar nicht gehört haben, was man gesagt hat. Im Flugzeug würde das so laufen: ›Erste Trompete, das B muss eine 16tel-Note sein und dann kommt eine 16tel-Pause.‹ Die erste Trompete würde sagen: ›Das B muss eine 16tel-Note sein und dann kommt eine 16tel-Pause. Erste Trompete.‹ Und dann würde ich sagen: ›Der Readback ist korrekt.‹ [lacht]

Beim Fliegen sitzen wir nach der Landung oft noch im Cockpit und machen eine kurze Nachbesprechung, solange die Erinnerungen noch frisch sind: Was hätten wir besser machen können? Wo hätte ich dir besser helfen können? Was war gut? Du sprichst direkt darüber. Am Ende der Generalprobe sagt man vielleicht noch ein paar Sachen, aber normalerweise heißt es dann: ›Das ist eine Generalprobe, warum redet der?‹ Dann spielen wir das Konzert und niemand spricht mehr drüber. Ich will ganz klar sagen, dass ich nicht dafür votiere, sowas einzuführen – nicht, dass hier jemand Angst bekommt.  Aber manches könnten wir schon von der Professionalität in anderen Bereichen lernen.

Musik und Fliegen – beides ist wunderbar. Gleichzeitig belasten sowohl der Beruf des international auftretenden Dirigenten als auch der des Piloten die Umwelt stark. Beschäftigt dich das?

Für dieses Problem habe ich keine Lösung, aber die hat auch niemand. Die physikalischen Gesetze machen das Fliegen kompliziert. Es sauberer zu machen, ist eine wahnsinnig komplexe Angelegenheit. Die Leute sollten aber wissen, dass für meine Freundinnen und Freunde, die als Ingenieur:innen, Flugzeugkonstrukteur:innen oder in anderen technischen Bereichen rund ums Fliegen arbeiten, die Umweltbelastung neben der Sicherheit das bestimmende Thema ist. Die hängen sich wirklich rein, tun, was sie können. 

Die Luftfahrt wird das schon schaffen. Und wir brauchen die Luftfahrt. Dass wir ein effizientes Massentransportmittel haben, das unseren Planeten klein erscheinen lässt, das uns das Gefühl gibt, dass die Probleme und Interessen aller anderen Menschen auf dem Planeten zum Greifen nahe sind – das ist großartig. Die Probleme und Bedrohungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, lassen sich nicht mit einem Blick auf unseren Bauchnabel lösen. Die Luftfahrt ist ein wichtiger Motor für das Gefühl von globaler Gemeinschaft.

Manchmal höre ich dann: ›Wir haben doch das Internet.‹ Ich bin da kein Experte, aber zuweilen denke ich, das Internet entmenschlicht genauso und produziert genauso viele Missverständnisse und schlechte Verbindungen, wie es Gemeinschaft schafft. Ich glaube nicht, dass ein Zoom-Call dasselbe ist wie ein menschlicher Kontakt.

Richtig, und ich glaube auch nicht, dass es besonders viel Sinn ergibt, sofort alle Flüge zu verbieten. Aber was ich mich frage: Lohnt es sich zum Beispiel, ein ganzes Orchester aus Europa für eine viertägige Tournee nach China zu fliegen?

Es ist gut, sich diese Frage zu stellen. Und man könnte sie auch noch aus anderen Gründen stellen. Bei jedem Projekt, das man macht, sollte man sich fragen: ›Ist es das wert?‹ Auch wenn es ein Projekt ist, das man ganz ohne CO2-Emissionen umsetzen könnte.

Ich weiß, dass Orchestertourneen – bei denen man ein Konzert sehr oft in verschiedenen Sälen und vor unterschiedlichem Publikum spielt – unglaublich wichtig sind. Das heißt nicht, dass man dabei in ein Flugzeug steigen muss. 

Das ergibt aus Sicht der Musiker:innen Sinn. Aber braucht das Publikum in Städten wie Berlin, wo es schon so viele hervorragende Orchester gibt, wirklich auch noch das London Symphony Orchestra?

Das ist ein schlagkräftiges Argument. Denn natürlich braucht man das nicht. Ich bin dieses Argument aber etwas leid. Wenn man das weiterdenkt, was braucht man dann überhaupt noch? 

Das Thema beschäftigt mich, wie es alle Beteiligten beschäftigt. Aber geht es um die Frage, ob wir wirklich alle aufhören sollten zu fliegen? Das ist ja nicht nicht dasselbe wie: Sollten wir tun, was wir können, um Emissionen zu reduzieren? Menschen müssen reisen. Sie müssen sich gegenseitig kennen lernen. Das Wissen über andere Menschen und andere Orte ist grundlegend für unsere Fähigkeit, den Klimawandel zu bewältigen. Das soll nicht heißen, dass das Fliegen keine enormen Preis mit Blick auf die Umwelt hat. Es gibt darauf keine einfache Antwort.

Zurzeit sind einige große Chefdirigentenstellen frei: beim Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam, dem New York Philharmonic und seit kurzem auch bei den Münchner Philharmonikern. Möchtest du deinen Hut für eine dieser Stellen in den Ring werfen?

Das Wunderbare ist, dass man das nie muss; es ist nie wirklich angebracht, seinen Hut in den Ring zu werfen, oder? Ich glaube nicht, dass das so funktioniert.

Realistisch betrachtet ist die Welt der klassischen Musik eine kleine. Agenturen und Orchestermanager:innen sind die ganze Zeit im Gespräch. Ich will wirklich nicht naiv sein, aber das meiste davon spielt sich wirklich weit weg von uns ab.

Es ist etwas merkwürdig für mich, jetzt über den nächsten Job nachzudenken, wo wir doch gerade erst bekannt gegeben haben, dass ich hier einen neuen Vertrag [mit dem SRSO bis 2025. Anm. d. Red.] unterzeichnet habe. Ich werde ganz ehrlich sein: Ich finde es großartig, seit 15 Jahren hier zu sein, und ich finde es großartig, noch ein paar Jahre hier zu bleiben, aber natürlich denke ich: Sie brauchen eine neue Herausforderung, und ich brauche eine neue Herausforderung. Aus all den Gründen, über die wir gesprochen haben, aus vielen guten Gründen.

Die nächste Entscheidung, die ich treffe… es ist immer ein Risiko. Aber der nächste Ort, an den ich gehe, wird für lange Zeit mein Zuhause sein. Es wird der Ort sein, an dem ich mich niederlasse und etwas angehe. Ich habe keine Ahnung, wo das sein wird, das ist keine falsche Zurückhaltung. Wir werden sehen, was passiert.

In München wird es jetzt interessant, weil Gergiev recht plötzlich rausgeflogen ist, weil er sich geweigert hat, die russische Invasion in die Ukraine zu verurteilen. 

Kurzfristig ist es in München jetzt sehr kompliziert. Sie haben riesige Lücken in ihrem Kalender. Alle, die einen Dirigierstab und einen Pass haben, versuchen, da jetzt auszuhelfen. Es ist ein heikler Moment für sie. Ich gebe in den nächsten Monaten wahrscheinlich einige Konzerte mit ihnen, weil ich es kann, und es ist ein fantastisches Orchester.

Und was ist mit den USA?

Bevor ich jemals darüber nachdenken könnte, Chefdirigent in den USA zu werden, müsste ich mich dort erstmal zurechtfinden. Es war nie ein Ort, an dem ich mich wohl gefühlt habe. Ich war mal dort, als ich noch sehr jung war. Ich hatte gute Beziehungen zu wichtigen europäischen Orchestern, aber das, was hier funktioniert hat, hat in den USA nicht funktioniert. Ich hatte wenig Erfahrung mit großen, institutionalisierten Orchestern, die keine Patzer erlauben. Es ist wirklich passiert, dass sogar die bloße Bitte um irgendwas schlecht ankam. Es war nicht so, dass ich unhöflich gefragt hätte, es hieß einfach nur: ›Nicht anfassen.‹ Jetzt bin ich neugierig darauf, herauszufinden, was funktioniert. Selbst wenn ich das rausfinden und dann feststellen sollte, dass das nichts für mich ist – das wäre in Ordnung. Aber ich will es verstehen. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.

Eine Antwort auf “»Es kann sein, dass man selbst nichts lernt, wenn ein Orchester einen vor der eigenen Dummheit schützt.«”

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