Während der Arbeit am ersten Satz seiner Quatre chants pour franchir le seuil, den Vier Gesängen, um die Schwelle zu überschreiten, vermerkte Gérard Grisey im Juli 1996 in seinem Notizbuch: »Sollte ich jemals eine Oper komponieren, dann sollen die Konflikte und Tragödien sich nicht zwischen den einzelnen Stimmen entspinnen, sondern aus der Beziehung zwischen den Stimmen und dem Klang des Kosmos.« Diese Oper kam nie zustande – kurz nach der Fertigstellung der Quatre chants im November 1998 erlag Grisey im Alter von nur 52 Jahren einem Gehirn-Aneurysma.
Aber die Quatre chants bringen die Verfassung eines Menschen auf die Bühne, der im Bewusstsein lebt, einem Kosmos voll atemberaubend schöner Gleichgültigkeit und vernichtend gleichgültiger Schönheit ausgeliefert zu sein. Der Klang dieses Kosmos: ein bläserlastiges Kammerensemble, unter anderem mit zwei tiefen Saxophonen und zwei Tuben gegenüber dem einsamen Solosopran. Grisey stellte für die vier Sätze Texte des Dichters Christian Gabrielle Guez Ricord, aus Inschriften ägyptischer Sarkophage, der antik-griechischen Dichterin Erinna und aus dem Gilgamesch-Epos zusammen – in der Vertonung bleibt dabei der Tod immer etwas zutiefst Unpersönliches. Es gibt dort keine posthume Belohnung oder Bestrafung, keine Chance auf Erlösung. Kein individuelles Schicksal, nur kahle Auslöschung.

Am vergangenen Donnerstag feierte die diesjährige Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle ihren Auftakt. Die Musiktheaterproduktion Ich geh unter lauter Schatten vereinte die selten aufgeführten Gesänge mit einem anderen Werk Griseys, Tempus ex Machina für sechs Schlagzeuger, daneben Giacinto Scelsi, Claude Vivier und Iannis Xenakis. Peter Rundel leitete das – erwartungsgemäß – hervorragende Klangforum Wien, das seit ihrer Ersteinspielung 2001 bestens mit der Komposition vertraut ist. Elisabeth Stöppler, Hausregisseurin am Staatstheater Mainz und Professorin an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, schuf die Inszenierung.
Der Abend war musikalisch ein voller Erfolg. Festivals für zeitgenössische Musik neigen oft dazu, Konzerte wie Malen nach Zahlen zu kuratieren und dabei, einer Fiktion von Vollständigkeit folgend, eine Art Fertigmischung aus Vertretern verschiedenster Stilrichtungen zusammenzukippen. Ich geh unter lauter Schatten dagegen vereinte fünf Werke mit gemeinsamen ästhetischen Anliegen und ähnlich hohem handwerklichen Niveau, entsprechend sensibel und kraftvoll vom Klangforum und dem Chorwerk Ruhr vorgetragen. Ein Beispiel: Rundel wählte genau das richtige Tempo für den zweiten Satz der Quatre chants, der regelmäßig zu langsam interpretiert wird. Als ein Neue-Musik-Abend mit Werken aus einem, ästhetisch reichen Guss war das Programm eine Ausnahmeerscheinung und damit ein ganz besonderes Vergnügen. Die imposante Bochumer Jahrhunderthalle, von Ulrich Schneider stimmungsvoll beleuchtet, untermalte die kosmische Schwere des Repertoires.
Leider bereicherte dagegen Stöpplers Inszenierung das musikalische Geschehen nicht, sondern lenkte eher davon ab: So wurden einer Werksammlung, die von sich aus wenig explizite Inhalte mit sich bringt, eben diese einfach übergestülpt, inklusive dramaturgischer Schwächen. Mit allzu konkreten Bildern untergrub Stöppler die kosmische Gleichgültigkeit, die Griseys Quatre chants zugrunde liegt und auch in den anderen Stücken subtil anklingt, und zog die Werke auf eine unpassende Art und Weise ins Hier und Jetzt. Während herrlich rätselhafte Klänge den Raum erfüllten, zog eine müde Reihe deutscher Theaterklischees vorbei: Schauspieler in trister, kommunistischer Fabrikkleidung; eine Sängerin im weißen Nachthemd und mit langem, ungepflegtem Haar wie im Horrorfilm The Ring, viel wildes Gestikulieren, eine leere Darstellung von Wahnsinn. Ein Darsteller schien als Marilyn Monroe verkleidet zu sein.
Stöpplers Konzept bewegte sich im Niemandsland zwischen plausibler Erzählung und ästhetisierter Abstraktion, wobei letztere der Musik am besten gedient hätte. Wo die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrer elegant-rätselhaften Choreografie zu Griseys Vortex Temporum zur Ruhrtriennale 2013 latente Strukturen in der Musik sichtbar machte, förderte Stöppler Klischees zutage, die weder in den zentralen Quatre chants noch in den anderen Stücken angelegt sind.
Regisseur:innen sind nicht dazu verpflichtet, die Musik unversehrt klingen zu lassen. Ein Eingriff in die Partitur kann eine wirkungsvolle Technik sein, aber jeder radikale Eingriff muss einer klaren Idee folgen. In Stöpplers Inszenierung von Ich geh unter lauter Schatten wird die Wirkung der Musik jedoch abgeschwächt, ohne dass dies einen entsprechenden dramaturgischen Nutzen hätte.

Im ersten Satz der Quatre chants schafft Grisey eine wunderbare, verheißungsvolle Verschmelzung von Stimme, Flöte, Trompete und Violine, die die Kraft und Verletzlichkeit eines Engels nahe des Falles heraufbeschwört. Stöppler lässt die Sängerin in dem Satz aber umherwandern: Die Klangfarben können sich nicht gut verbinden, die Tonhöhen verschmelzen nicht und so erklingt nur ein einfacher Akkord. Ein ähnlich fragwürdiger Eingriff findet sich zwischen dem dritten und vierten Satz, die attacca gespielt werden sollen und in denen Grisey mit mathematischer Akribie von Unbeweglichkeit zu einer der brutalsten Passagen seines Schaffens übergeht, einer Beschwörung der Sintflut im Gilgamesch (und der Bibel). Noah macht keine Teepause, bevor er an Bord der Arche geht.
In den seltenen Momenten, in denen Stöppler auf die in der Partitur implizierten Bühneneffekte zurückgriff, war das Ergebnis dann atemberaubend. Der zweite Satz der Quatre chants spielt auf einen alten ägyptischen Glauben an, der Grisey besonders am Herzen lag: Die Reise durch die Unterwelt endet im blendenden Sonnenlicht. Gegen Ende des Abends, während des letzten Wiegenlieds der Quatre chants, schritt die Sängerin singend auf einem langen, erhöhten Podest vom kühlen Licht der Jahrhunderthalle zum Glanz dessen, was dahinter lag. Die Stille und Konzentration im Saal war in diesem Moment – nach immerhin über anderthalb Stunden zeitgenössischer Musik – vollkommen.
So wie sich der Kosmos nicht um die kleinlichen Belange der Menschen kümmert, ist auch die große Kunst oft wenig empfindlich gegenüber oberflächlichen Versuchen, an ihr herumzubasteln. Im vierten Satz der Quatre chants schwemmt die Flut all die schwachen Versuche der frühen Zivilisation, sich der Welt aufzudrängen, hinweg und lässt die Sängerin in virtuoser Panik vor der eigenen Bedeutungslosigkeit zurück. Bei der Ruhrtriennale haben die Werke von Scelsi, Vivier, Xenakis und Grisey die Irrelevanz der Inszenierung fast ebenso leicht fortgewaschen. Wir konnten ungehindert über eine Musik staunen, die so geheimnisvoll ist wie das Universum dahinter. ¶