Claire Huangci ist als Klaviersolistin gefragt, sie tritt mit Klangkörpern wie dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden, den Stuttgarter Philharmonikern, dem Nordic Chamber Orchestra oder dem Vancouver Symphony Orchestra auf. Ihre technischen und künstlerischen Fertigkeiten und ihre Erfahrungen auf und hinter der Bühne will sie auch an nachfolgende Generationen weitergeben. Deswegen bewarb sie sich auf eine Klavierprofessur an der Weimarer Musikhochschule – mit Erfolg. Im Juli 2021 wurde sie vom damaligen Präsidenten Christoph Stölzl zur ordentlichen Professorin berufen. Die heute 33-jährige Pianistin nahm den Ruf an, im Dezember 2021 unterzeichneten beide Parteien die Berufungsvereinbarung. Als Beginn des Beschäftigungsverhältnisses wurde der 1. Oktober 2022 festgelegt. Eine Woche vor diesem Stichtag, am 23. September 2022, verkündete die Hochschule, an der zum 1. Juli Anne-Kathrin Lindig den verstorbenen Christoph Stözl im Amt beerbt hatte, man beabsichtige, den Ruf zurückzunehmen. Dies geschah dann Anfang Oktober 2022. »Es war ein großer Schock für mich«, so Huangci gegenüber VAN. »Es kam so unerwartet, eine Woche vor Semesterbeginn. Auch die Studenten waren total überrascht. Niemand war glücklich.«
Huangci hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Wohnsitz von Bad Homburg nach Gotha verlegt, um die Hochschule besser erreichen zu können, und mit Rücksicht auf den Beginn ihrer Lehrtätigkeit vier Konzertangebote im Oktober und November 2022 ausgeschlagen, für die Saison 2023 weniger Auftritte geplant, eine Südamerikatournee abgesagt. Zum Zeitpunkt der Rücknahme der Ruferteilung befand Huangci sich im Mutterschutz. Zudem hatte sie, obwohl dazu keinerlei rechtliche Verpflichtung bestand, im April und Juni 2022 als Kommissionsmitglied an Aufnahmeprüfungen teilgenommen. Gegen die Rücknahme der Ruferteilung reichte sie Ende 2022 Klage ein.
Warum die Hochschule für Musik Franz Liszt die Berufung wieder zurückzog, dazu will die Leitung gegenüber VAN mit Verweis auf das laufende Gerichtsverfahren keine Auskunft geben. Laut Huangci begründete die Hochschule die Rücknahme per Mail mit dem Fernbleiben der Pianistin an einem dritten Termin, am 16. Juni 2022. Auch zur Anwesenheit an diesem Datum gab es keinerlei vertraglichen Rahmen.
»Ich habe gerne schon vor Vertragsbeginn für die Hochschule gearbeitet, auch wenn ich dazu rechtlich nicht verpflichtet war«, so Huangci. »Die Studenten selbst auszuwählen, eine eigene Klavierklasse aufzubauen, das ist sehr wichtig!« Während der Aufnahmeprüfungen im April 2022 war Claire Huangci schwanger, im Juni bereits im letzten Drittel der Schwangerschaft. Die Hitze und das lange, pausenlose Sitzen während der Vielzahl von Vorspielen im Rahmen der Aufnahmeprüfungen setzten ihr sehr zu. Ihre Ärztin riet ihr darum von einer weiteren Kommissionstätigkeit am 16. Juni ab.
An diesem Datum in der Hochschule zu erscheinen, wäre Claire Huangci allerdings gar nicht möglich gewesen, denn sie hatte für diesen Tag bereits eine Konzertverpflichtung in Bukarest: Schumanns Klavierkonzert mit der George Enescu Philharmonic. Auch hochschwanger sah sie sich zu Flug, Proben und Konzerten imstande, da sie sich zwischen diesen Terminen immer wieder liegend im klimatisierten Hotel erholen konnte. Gegenüber der Hochschule begründete die Pianistin ihr Fernbleiben allein durch eine Krankschreibung – eigentlich ein Akt des vorauseilenden Gehorsams, da ja keine Verpflichtung zur Tätigkeit an der Hochschule vor dem 1. Oktober bestand. Die neuen Mitglieder ihrer Klavierklasse hatte die Pianistin außerdem bereits sämtlich ausgewählt.
Die Hochschule war in der Folge offenbar irritiert, dass Claire Huangci trotz Krankschreibung das Konzert in Bukarest spielte, anstatt zum anberaumten Termin zu erscheinen. Dem Konzert lag allerdings, anders als der Beschäftigung an der Hochschule, eine vertragliche Verpflichtung zugrunde. »Die Verträge mit Bukarest waren schon längst unterschrieben, bevor ich die Termine in Weimar kannte«, so Huangci.
Hinter dem nun geführten juristischen Streit über die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der Berufung scheint auch die grundsätzliche Haltung der neuen Hochschulleitung gegenüber der Vergabe von Professuren an regelmäßig konzertierende und tourende Musiker:innen zu stehen. Die Skepsis der Präsidentin Anne-Kathrin Lindig lässt sich aus einem Interview der Thüringer Allgemeinen aus dem Januar 2022 lesen: »Natürlich braucht jede Hochschule berühmte Namen. Da kommen wir nicht drum herum. Aber man muss sich darüber im Klaren sein: Für eine Lehrtätigkeit fühlt man sich und wird man berufen. Jeder Lehrende möchte sein Wissen und Können unbedingt weitergeben.« Die Bekanntheit erfolgreicher Musiker:innen soll in Weimar also auf das Renommee Hochschule einzahlen, gleichzeitig wird offenbar indirekt die Lehrmotivation dieser Künstler:innen infrage gestellt.
Inwieweit derartige Überlegungen die Weimarer Hochschulleitung zur Rücknahme der Ruferteilung bewegten, lässt sich, zumindest solange eine Stellungnahme von dort ausbleibt, nur mutmaßen. Mangelnder Einsatz für die Lehre kann Claire Huangci jedoch mit Blick auf Umzug, Konzertabsagen und Einsätze vor Dienstbeginn nicht vorgeworfen werden. Vielmehr sieht die Pianistin in ihrer weiterlaufenden Karriere einen großen Vorteil für die Lehre – sie wisse so einfach sehr gut, welche Herausforderungen das Leben als Klaviersolistin prägen, auf der Bühne und abseits davon. Auch den vergleichsweise geringen Altersunterschied zu den Studierenden könnte laut Huangci beim Unterrichten hilfreich sein: »Ich erinnere mich noch an jeden Schritt, den ich getan habe, als ich 2007 angefangen habe zu studieren bei Arie Vardi in Hannover – ganz allein, ohne Familie, ich war so aufgeregt! Ich habe natürlich Fehler gemacht, zum Beispiel nicht das richtige Repertoire für Wettbewerbe gewählt. Ich kann in solchen Fällen wirklich gut unterstützen. Unsere Welt ändert sich so schnell.«
Aktuell ist der Fall Huangci am Weimarer Verwaltungsgericht anhängig. Die von Claire Huangci ausgewählten Studierenden wurden anderen Klavierklassen zugeteilt.
Dass sie nun doch nicht als Professorin in Weimar tätig ist, empfindet Huangci als eine herbe Enttäuschung, da sie für die Lehre brenne. Die Stelle sei für sie alles andere als ein weiterer glanzvoller Punkt im Lebenslauf, so Huangci: »Ich sehe, dass es in unserer Branche inzwischen wirklich schwierig geworden ist, die Chance zu haben, das ganze Leben Musik zu machen. Ich hatte schon immer den tiefen Wunsch, der nächsten Generation dabei zu helfen. Darum habe ich mich auf die Stelle beworben. So eine Professur zu haben, ist eine Ehre!« ¶