Wenn ich in einer Bar – auf meinen Beruf angesprochen – sage, dass ich mich mit »Klassik« beschäftige, rücken die Umsitzenden inzwischen mit dem Stuhl heran – und wollen mehr wissen. Kein Scherz. Letzte Woche ist es wieder passiert. In meiner Stammkneipe in Berlin-Charlottenburg. Die Fragen, die dann gestellt werden, sind meistens total klug – und herzzerreißend süß. Bis hin zu Quasi-schon-Fachfragen wie: »Braucht man eigentlich Noten, um Musik zu machen?«, »Ist John Williams wirklich so ein toller Filmkomponist?« und so weiter. All diese Fragen werden und wurden natürlich schon beantwortet. Von Kolleginnen und Kollegen im Netz. Wir haben deshalb zehn lohnenswerte Musikerklärvideos herausgesucht.

1.

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Steffin Johnson: Does music have a color? Steffin Johnson at TEDxDayton • Februar 2014, ca. 20.000 Aufrufe

Der Pianist Steffin Johnson ist ein sympathischer Typ. Allein deswegen, weil er – nachdem er kurz seinen Namen (Steffin Johnson) und seine Profession (Pianist) genannt hat – gleich zur Sache kommt: Wenn er sage, dass er Pianist sei, kämen viele Menschen gleich auf Namen von großen Jazzern, wie Art Tatum, Oscar Peterson, Herbie Hancock – was ihn wiederum zu der Frage führe: »Does music have a color?« Dabei sei er selbst eher ein klassischer Pianist, insbesondere Mozart liebe er sehr. (Fair enough.) Das Ganze hat bei Johnson etwas von Stand-up-Comedy. Und das ist sehr angenehm. Weil er die Antworten, die er generiert, nicht dogmatisch findet, sondern ganz locker sucht; spielend am Klavier, sinnierend. Wunderbar!


2.

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Leonard Bernstein: Who is Gustav Mahler? • TV-Aufzeichnung vom Februar 1960, ca. 8.300 Aufrufe

Er war nicht nur Pianist, Komponist und Dirigent. Er war und ist eine Legende – auch als Musikvermittler: Leonard Bernstein. Viele bezeichnen ihn sogar als »Erfinder der modernen Musikvermittlung«. Vor vielen Jahrzehnten initiierte er die Konzertreihe Young People’s Concert – und ein absolutes Highlight ist jenes Konzert vom 7. Februar 1960, in dem er mit seinem New York Philharmonic in der Carnegie Hall unter anderem Gustav Mahlers vierte Symphonie vorstellt. Er macht dies menschlich, wissend – und biographisch. Früh vergleicht er sich, was absolut legitim ist, selbstbewusst mit Mahler. Auch Mahler sei Komponist und Dirigent zur gleichen Zeit gewesen. Fast übervorsichtig spart Bernstein dabei aus, dass Mahler auch einen jüdischen Hintergrund hatte. Doch diesen Sachverhalt umspielt Bernstein schon fast schüchtern, indem er darauf zu sprechen kommt, was alle diese Umstände mit ihm, mit seinem Zugang zur Musik – mithin zur Musik Mahlers – machen. Er bezeichnet Mahler als »Double Man«. Und auch er, Bernstein, sei ein zwiegespaltener, kindlicher »Double Man«. Die Musikbeispiele, die Bernstein dann – in perfekt vorbereiteter Abstimmung mit seinem Orchester – vorstellt, sprechen förmlich zu uns, führen uns grandios in die Welt Mahlers sein. Und da ist es ganz egal, dass das Konzert 63 Jahre her ist.


3.

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Adam Neely: The Girl From Ipanema is a far weirder song than you thought • Juli 2020, ca. 4,4 Millionen Aufrufe

Mehr als eine halbe Stunde Stoff über ein Thema, auf das ich alleine niemals gekommen wäre. Aber was sich hinter der Beantwortung der Frage nach Herkunft, Tonarten und Interpretationen des bekanntesten Bossa-Nova-Songs der Welt – The Girl from Ipanema – verbirgt, ist nicht nur extrem spannend. Nein, Adam Neely erläutert im Grunde mal ganz nebenbei wesentliche Aspekte der Frage nach kultureller Aneignung in der Musik(geschichte). Das ist virtuos – und für die Musikbeispiele, die teilweise auch als Noten mitzulesen sind, hat er sogar eigens eine Sängerin engagiert.


4.

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Staatstheater Nürnberg: Videorundgang durch die 6. Symphonie von Beethoven mit Joana Mallwitz • Dezember 2020, ca. 240.000 Aufrufe

Jetzt ist sie weg – und Nürnberg ist wieder: allein, allein. Joana Mallwitz ist nicht mehr Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg. Aber ihre Leistungen dort bleiben – zum Beispiel mehrere in Kooperation mit BR-Klassik entstandene »Erklärvideos« im Netz. Dazu gehört eines, in dem Mallwitz und ihre Musikerinnen und Musiker in Beethovens Pastorale einsteigen. Aufwändig gemacht, toll geschnitten. Natürlich »auf Perfektion« hin erarbeitet, aber immer sympathisch. Mallwitz deutet auf Motive, Motiv-Teile, transzendiert diese. Fast etwas episch. Aber ist ja auch kein Pappenstiel, so eine Symphonie … Extrem präzise Arbeit!



5.

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»Hedwig’s Theme« – Harry Potter (Score Reduction & Analysis) • Juni 2017, ca. 373.000 Aufrufe

Das ist kein »Musikerklärvideo« im herkömmlichen Sinne, weil es fast ohne Sprache funktioniert. Umso plastischer und schöner zeigt hier ein Herr namens Brad Frey auf, was an der Orchesterpartitur zu der Musik von Harry Potter, komponiert von John Williams, besonders, schön und wichtig ist. Wir erfahren so beispielsweise durch eine Markierung im Noten-»Text«, dass im Main Theme schon ganz früh im Grunde der Ruf der Eule Hedwig vorkommt – ganz klein, als Oboen-Sprengsel-Motiv. Fein farbig unterlegt sind die ganzen Tricks, die Williams virtuos verwendet. So kann man richtig eintauchen in die Partitur, ohne, dass einen der nicht ganz so wichtige »Rest-Ballast« des Orchestersatzes überfordern würde. Denn der wird jeweils geschickt ausgeblendet.


6.

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Jacob Collier: Jacob Collier reharmonizing Hey Jude • September 2021, ca. 1,6 Millionen Aufrufe

Der charmante, multitalentierte Jacob Collier erklärt in wenigen Sekunden, warum es cool ist, bekannte Lieder einmal ganz anders als gewohnt zu harmonisieren. Für sein witziges Video hat er sich eine Art von »Untertitelung in Musik« ausgedacht. Wir sehen also im Bild nicht nur die (jazzigen) Noten, die gespielt/improvisiert werden, sondern auch (quasi als »Liedtext« darüber), was Jacob Collier redet. Seinen lockeren Kommentar fasst er also selbst als einen eigenen Teil der Erklär-Partitur auf. Doch das ist nur ein (gelungener) Zusatz-Joke in diesem plastischen wie vergnüglichen Kurz-Erklärvideo, in dem ein inzwischen quasi zur »Klassik« gehörender Song der Beatles im Mittelpunkt steht.


7.

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Frederick Viner: When Chopin Quoted Himself • September 2022, ca. 87.000 Aufrufe

Eine aufregende Geschichte. Eine Geschichte der Innenschau in das berühmte cis-Moll-Nocturne von Chopin. Zunächst stellt Frederick Viner fest, dass Teile des Nocturnes auch in anderen Werken des Komponisten vorkommen. Dann geht es um ein Lied, um einen Brief – und um frappierende biographische Entstehungszusammenhänge. Tiefgründig und sehr erhellend! Danach spielen Pianist:innen das Werk bestimmt noch einmal ganz anders.


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8.

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TwoSet Violin: How Violin Playing Has COMPLETELY CHANGED in the Last 60 Years • Mai 2020, ca. 1.349.000 Aufrufe

Die beiden sind die bekanntesten und erfolgreichsten Classical-Music-Influencer weltweit: Brett Yang und Eddy Chen, sprich: TwoSet Violin. Jahrelang betreiben sie nun ihren erfolgreichen YouTube-Kanal, in dem sie Hillary Hahn treffen, die schwierigsten Geigenstücke der Welt vorstellen, Vom-Blatt-Spiel-Challenges veranstalten – und vieles mehr. Grandioserweise haben die beiden gestandenen (inzwischen ehemaligen) Orchestermusiker aus Australien ihre »Versprechen« immer wahrgemacht. Jahrelang haben sie zum Beispiel über die Herausforderungen des Mendelssohnschen e-Moll-Violinkonzerts palavert. Und das gipfelte schließlich im November 2022 darin, dass sich die beiden sehr witzigen (und, das ist die Kunst, immer authentischen) Geigen-Nerds das Signapore Symphony Orchestra schnappten und tatsächlich jeweils das Mendelssohn– (Brett) wie auch das Bach-Doppelkonzert (beide zusammen) live im Stream spielten. Mit tausenden jungen, oftmals weiblichen Fans im Publikum. Die wohl – nach Bernstein – größte Musikvermittlungstat aller Zeiten. Die vielen Fans, die Brett und Eddy schon lange folgten, saßen nun in einem großen Konzertsaal, fotografierten, posteten und staunten. Und in dem oben verlinkten Video sehen wir die beiden, wie sie – fast unabsichtlich – Musikvermittlung betreiben. Sie vergleichen Aufnahmen von zwei Werken. Und gerade der Bach-Interpretationsvergleich mündet in nichts anderem als Musikvermittlung! Wir lernen: Früher spielte man Bach ganz anders, breiter, mit viel Vibrato. Das ist witzig, lehrreich und nie herablassend oder arrogant. Toll!


9.

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Inside the Score: How to Listen to Classical Music: General Ideas • Januar 2018, ca. 371.000 Aufrufe

Das ist ein, der Titel sagt es schon, sehr allgemeines Video. Aber es fasst eine aktuelle Herausforderung der Szene sehr gut zusammen: Das Klassik-Publikum ist alt (no offense) und weiß. Dabei ist klassische Musik eigentlich schon eine coole Sache. Wie also öffnet man sich dieser Musik? Dieses Video gibt sachliche Antworten. Und die Art der Bebilderung ist attraktiv – und dabei hochseriös.


10.

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Nahre Sol: How to Analyze Music and WHY • Februar 2020, ca. 211.000 Aufrufe

Die Komponistin und Pianistin Nahre Sol erklärt anschaulich, äußerst sympathisch und basal, warum Noten (mit)lesen cool ist. Denn in Noten steht alles drin, was man braucht: Wie laut man spielen muss, in welcher Charakteristik – und so weiter. Dabei geht sie sehr strukturiert vor, sitzt dabei am Klavier und fängt mit einem Stück von Chopin an. Sie erläutert Herkünfte von wichtigen Begriffen – und alles, was sie erklärt, wirkt kein bisschen überheblich oder besserwisserisch. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.