Hatto Beyerle war nicht nur Mitglied des legendären Alban Berg Quartetts, er ist auch Gründer der European Chamber Music Academy. Als Lehrer ist er Hebamme für eine blühende Streichquartett-Szene, die vom Hagen über das Leipziger bis zum Artis-Quartett reicht. Irene Suchy durfte an einem Nachmittag im März Hatto Beyerle zuhören, ein paar Busstationen außerhalb von Hannover, wo der Bratschist seit den 1980er Jahren in einer umgebauten Mühle wohnt. 

Hatto Beyerle ist ein Hörender, ein Zuhörender, in Wertschätzung und Anerkennung an all jene, von denen er viel gelernt hat, zum Beispiel vom Bratschisten William Primrose, Widmungsträger von Konzerten Béla Bartóks und Benjamin Brittens.

Mein Leben ist ein bissl absurd. Sie müssen entschuldigen, ich bin kein Name-Dropper, aber ich war befreundet mit William, er ist für mich nach wie vor der beste Bratscher, der je herumgelaufen ist. In Bezug auf Lagenwechsel hat er mir beigebracht, dass ein Wechsel völliger Unsinn ist. Lagenwechsel-Übungen sind völliger Unsinn. Das hat mir der Primrose zuerst beigebracht und er hat es mir bewiesen.

Er hat gesagt, es gibt keine Lagenwechsel, das ganze Griffbrett ist eine Lage.

Und dann hat er noch etwas gesagt und das habe ich nie vergessen: You have to know, du musst wissen, wo der Ton ist. Das hat er in jeder Stunde unterrichtet. Daraufhin habe ich Übungen entwickelt, die nur darauf zielen, die Topografie des Griffbretts zu beherrschen. Ausschließlich deshalb, weil ich mich geärgert habe, dass meine Schüler und Schülerinnen, wenn etwas passiert ist an einem Vortragsabend, Fehler der linken Hand gemacht haben. Da habe ich meine ganze Technik umgestellt: nach einem halben Jahr waren diese Fehler bei meinen Schüler:innen weg.

Sie hatten keine Probleme mehr mit Lagen und das hat mir Mut gegeben, die Überzeugungen von Primrose umzusetzen. Ich weiß heute, dass die Kenntnis der Topografie des Griffbretts viel wichtiger ist, als Übungen, wie man von einem Punkt zu einem andern kommt.

Hatto Beyerle, am 20. Juni 1933 in Frankfurt am Main geboren, ist der Sohn des Rechtshistorikers Franz Beyerle, dem er sein Gemüt verdankt – eine Balance von Rationalität und Emotionalität. Sein Onkel, ein Cembalist, war der Schüler eines Lieblingsschülers von Clara Schumann. Er studierte bei Ricardo Odnoposoff, einst Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, 1938 vertrieben vom NS-Regime, sowie Komposition bei Alfred Uhl und Dirigieren bei Hans Swarowsky. An den Unterricht bei Swarowsky erinnert sich Beyerle: Man besuchte das Kunsthistorische Museum in Wien, betrachtete gemeinsam Gemälde. Gelernt hat Beyerle von allen Großen, die er hört, und er lernt immer noch. Er bewundert Boulez für seine Scharfsinnigkeit als einen, der hinter die Realität geschaut hat oder Patricia Kopatchinskaja für ihre Ernsthaftigkeit. Er ist in ständigem Dialog mit Wolfgang Rihm, hört von neuen Konzertformaten an der Wigmore Hall.

Im Jahr 1970 hat Hatto Beyerle das Alban Berg Quartett mitbegründet. Bis 1981 war er dessen Bratschist und auch gemeinsam mit seiner Frau Organisator der Konzertreisen. Die Zeit war damals günstig, es gab nur eine Handvoll große Quartette, ein Hauskonzert bei Helene Berg erlaubte die Namensnennung. Es gibt viele, die den Klang der ersten Formation (Günter Pichler und Klaus Maetzl, Violinen, Hatto Beyerle, Viola und der Cellist Valentin Erben) am meisten lieben und diesen aus den zahlreichen Aufnahmen erkennen. .

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Mit dem Alban Berg Quartett hat Hatto Beyerle die größten Preise und Ehren gewonnen, als Lehrer an den Musikhochschulen in Hannover und Basel hat er die Kammermusikelite Europas herangebildet und beobachtet sie bis heute weiter – in stetigem Kontakt mit den komponierenden Zeitgenoss:innen und in genauer Kenntnis des aktuellen Repertoires.

Die Begeisterung und Bewunderung für Virtuosität und Können der zeitgenössischen Künstler:innen hat ihn jung gehalten. Seine Ansichten zur Musik gleiten immer wieder in die Ideen zum Unterrichten.

Das Besondere am Quartett spielen ist: Wir sind alle in uns, jeder ist in sich gefangen. Es wäre interessant, wenn ich die Welt einmal durch deine Augen und deine Sinne wahrnehmen könnte, deine Sinne und deine Wahrnehmungen haben einen ganz anderen Hintergrund. Du bist später geboren, du hast den Krieg nicht erlebt, wahrscheinlich nicht. Und deine Erfahrungen sind vollkommen andere als meine, wo ich als Zwölfjähriger nicht begriffen habe, wenn eine Bombe einschlägt. Das ist gefährlich. Und so bin ich in mir gefangen und jeder ist in sich gefangen und keiner kann aus sich heraus. Wenn du Quartett spielst, bleibt ein Teil von dir gefangen, aber ein anderer Teil muss in die Gemeinsamkeit übergehen. Und wenn er das nicht kann, dann wird nichts draus.

Und das ist das Phänomen, das ich bis heute nicht begreife, wie das geschehen kann. Aber ich weiß, dass es geschehen kann: dass selbst gegensätzliche Charaktere in dem Bemühen, aus diesen vier Stimmen etwas Gemeinsames zu machen, etwas Neues entstehen lassen, ein Einziges. Dieses Phänomen ist mir bis heute unbegreiflich.


Das Alban Berg Quartett sowie das Hagen Quartett und das Artis-Quartett, die Hatto Beyerle wesentlich beeinflusst hat, findest Du auch in unserem VAN Streichquartett-Quartett.


Wir hören bei unserem Treffen kein Streichquartett, sondern Schuberts Notturno für Klaviertrio.

Es wird immer zu langsam gespielt, viel zu langsam. Ich bemerke ein Phänomen: Wenn man die Pulszeit ändert, den Puls nicht auf Achtel, sondern auf Viertel legt, dann scheint es langsamer, obwohl es viel schneller ist.

Und die Zuhörenden gewöhnen sich interessanter Weise an den langsameren Puls der Viertel, sie empfinden es als Largo. Und dann wird das Stück viel weniger kitschig und viel, viel echter.

Und dieses Phänomen gibt es überall in der Musik: Nehmen wir schnell und langsam. Ich kann das Phänomen in der Musik weiterentwickeln. Ich kann sagen, es gibt ein langsames Stück. Wenn man es schneller spielt, wirkt es verhetzt.

Und diese Polarität gibt es auch in der Philosophie, und auch in der Physik. In der Physik haben wir die Relativität des Tempos, der Geschwindigkeit. Albert Einstein macht das auch uns ›ungebildeten‹ Menschen wie mir klar. Nehmen wir an: Wenn ich im Zug fahre und der Zug fährt relativ schnell, jedoch draußen auf der Straße, die neben den Schienen geht, fährt ein Auto noch schneller, und dann fährt mein Zug langsamer, wie ich es aus dem Zug empfinde. Also wirkt auch das Auto langsamer, als es tatsächlich ist.

Und dasselbe gilt eben in der Musik. Die Polarität ist eines der wichtigsten Dinge in der Musik. Sie ist die Grundlage unseres Seins. Stark und Schwach, Gesund und Krank, Regen und Sonne, Nacht und Tag oder Pianoforte – Piano und Forte.

Jede Komposition besteht aus Polaritäten. Und diese Polaritäten zu erkennen, ist ganz wichtig. Darum ist es eine der ersten Sachen, die ich unterrichte: die Frage, was ist Polarität?

Hatto Beyerle kommt immer wieder auf die Philosophie zu sprechen, auf die Irrationalität. Als ich in Hannover ankomme an einem kühlen Samstagnachmittag, hat er gerade Schriften von Hans-Peter Dürr und Werner Heisenberg studiert.  

Beyerle ist begeistert im Erkennen des zunehmenden Zusammenrückens von Physik, Religion und Musik.

Ich habe mich mit Quantenphysik beschäftigt, man muss sagen, dass die Quantenphysik in ihrer Wirklichkeit ja keine Sprache hat außer Unschärfe. Die Unschärfe stammt daher, dass wir keine Sprache dafür haben. Ich hab´, befruchtet durch diese Erkenntnis und auch durch meine eigene Erfahrung gelernt, dass es in der Musik, in der Kunst überhaupt zwei Arten von Realitäten gibt. Realität ist Bewegung, ich bin zu dem Schluss gekommen: alles ist Bewegung.

Ein Quartett, das perfekt spielt, und das ist heut die Regel, muss etwas ins Spiel bringen, was hinter den Noten steht, eine zweite Realität, eine Energie, die ergreift. Die praktischen Auswirkungen kennen wir: wenn nachher die Leute mit Tränen in den Augen aus dem Konzert gehen.

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Hatto Beyerles Welt in der Mühle in Hannover ist jene des Kunstschaffenden, ein Künstler ist einer der Kunst macht, sagt er, und die Definition schließt ihn ein. Zwischen den Zügen an seiner Pfeife spricht er über seine Liebe zur Volksmusik.

Das Singen muss das Vorbild sein. Ich glaube, dass die Volksmusik eine Grundlage des Musikmachens sein muss. Man braucht die Volksmusik als Hintergrund. Wir sind, denke ich, gerade in Österreich uns der Wichtigkeit der Volksmusik sehr bewusst. Es gibt kaum Österreicher:innen, die nicht Kärntner Lieder kennen und oder Wiener Lieder. Das ist bei uns sehr lebendig. In jedem Dorf gibt´s einen Chor oder eine Singgemeinschaft.

Das Singen muss das Vorbild sein. Es muss atmen. Aber man muss wissen, wo man atmet. Zum Beispiel Mozarts KV 387. Da ist Frage und Antwort. Dann begreifen die Musiker:innen, dass es Sprache ist.

Vor Beyerles Fernseher liegen Videokassetten mit Fernsehserien, die in Wien spielen, die Wien-Sehnsucht ist stark, auf dem Schreibtisch ein Bild jenes Förderers und Papierfabrikanten, der durch die Finanzierung einer USA-Reise für ein Quartett-Mitglied und dessen Frau das Quartett am Anfang seines Bestehens rettete.

Das Gespräch ist mit dem Besuch lange nicht zu Ende. Einige Tage später ruft Hatto Beyerle wieder an und will über seine Skepsis gegenüber – wie er es nennt – industrieller Musik sprechen.

Ich habe große Bedenken für die Musik der Zukunft. Das ist die Industrialisierung, ich könnte auch sagen, die Kommerzialisierung der Musik, aber ich sage Industrialisierung, das ist radikaler, weil Musik ja immer bezahlt worden ist, sowohl was die KomponistInnen wie auch die SpielerInnen betrifft. Diese absurden Honorare, die wir bezahlen. Dass eine Geigerin für ein Konzert 70.000 Euro bekommt, ist doch absolut unsinnig – auch wenn sie vielleicht sehr gut ist. Aber das kann man ja mit Geld gar nicht bezahlen! Die Industrialisierung, wie wir sie in der Musikindustrie fördern, ist das Gegenteil von dem, was Kunst eigentlich bezweckt. Kunst ist doch eigentlich etwas, das den Menschen einen Spiegel vorhalten soll, sodass sie nachdenklich werden.

Diese Musikindustrie hat zwar den Vorteil, dass mehr Leute Konzerte hören, auch in kleineren Städten, aber sie hat den Nachteil, dass die Spielenden gar nicht mehr wissen, wie sie sich orientieren wollen.

Und damit hängt meine Skepsis gegenüber Wettbewerben zusammen. Ich habe schon nachgedacht, warum ich so gegen Wettbewerbe bin, und überlege mir: Was ist ein Wettbewerb? Die Welt ist voller Wettbewerbe. Das Leben selbst ist ja ein Wettbewerb. Aber diese Wettbewerbe, wie wir sie in den olympischen Sportarten haben, bedeuten immer: weiter, schneller, höher.

Und in der Musik der Klassik kann man mit weiter, schneller, höher nicht arbeiten; man kann vielleicht mit ›schöner‹ arbeiten, aber es geht doch eigentlich um ganz etwas anderes. Ich sehe die beiden Seiten ganz klar gegeneinander abgegrenzt. Ich sehe auf der einen Seite einen Komponisten. Hier ist sein Schreibtisch. Ich sehe dort seine Arbeit liegen. Er muss ein Streichquartett schreiben und er ringt mit sich, ist verzweifelt, er versucht, das, was er für wesentlich hält im Leben, in diesem Kunstwerk einzufangen. Das ist seine Aufgabe und seine Arbeit. Das weiß ich aus meinen Begegnungen mit Komponierenden.

Bis an die Grenzen des menschlichen Vermögens ringen Komponist:innen mit Lösungen. Und wenn sie diese Lösungen dann gefunden haben, dann soll dieses Kunstwerk an Leute gegeben, die höher, schneller und lauter spielen können. Das ist doch völlig sinnlos. Und damit entfernt sich die Jugend, die Musik machen möchte und die auch Kunst machen möchte, mehr und mehr von dem, was eigentlich das Wesentliche, das Wesen der Kunst ist. Und gegen diesen Verlust der Inhalte kämpfe ich mit meinem Unterricht. Das mache ich für jede und jeden, die ich für fähig halte, das zu erlernen, weil ich einfach ein Kämpfer sein will gegen diese Entartung dessen, was Kunst war. Wir kommen wie in der Physik immer mehr in einen Bereich, wo man die Dinge nicht mehr erkennen, nicht sehen kann, wo etwas ist und doch nicht ist.

Die Sätze stammen aus der Physik, aus der Quantenphysik. Es ist und ist nicht. Damit sind wir schon beim Philosophen Heraklit, der sagt: Alles was ist, ist nicht. Und alles, was nicht ist, ist also. Damit ist man in einem Bereich, der eigentlich seit Jahrtausenden klar ist, und heute zunehmend vergessen ist. Aber er existiert. Und wir muss die jungen Leute dort hinführen, dass sie zu diesen Erkenntnissen kommen.

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Hatto Beyerle ist jetzt vor allem Lehrer, Erzähler, Berater. Die langen Lockdown-Zeiten unterrichtete er per Skype. In der von ihm begründeten European Chamber Music Academy will er neue Methoden des Lehrens und Lernens erproben, Stars wie Gidon Kremer sollen eingeladen werden, damit die Teilnehmenden Fragen stellen können, damit sich ein Gespräch ergibt. Es gibt für Studierende nicht ein paar wenige Einzelstunden, sondern ein Ensemble probiert und studiert drei ganze Tage lang mit einem einzigen Dozenten, eine Arbeit, die zu neuen Dramaturgien führen wird, die ein neugieriges Publikum anziehen wird, das verzaubert ist und zu Tränen gerührt ­– wieder kommt.

Das Gespräch führt wieder zu Hatto Beyerles Ideen von einer Ausbildung, die er in der ECMA, der European Chamber Music Academy, verwirklichen will.

Das war einer der Gründe, warum ich jetzt einen Neuanfang will, solange ich noch kann. Ich bin jetzt bald 89 und vielleicht mache ich noch zwei, drei Jahre. Vielleicht geht es noch. Aber irgendwann, und das merkt man selber leider nicht, glaube ich, fürchte ich, geht es nicht mehr. Ich versuche, mich geistig fit zu halten. Was ich kann: Ich bin neugierig, das ist meine größte Qualität. Mich interessiert alles.