Wolfgang Rihm, Moritz Eggert, Detlev Glanert und Manfred Trojahn komponierten Lieder für ihn – als Neue Musik-Experte würde sich Bariton Hans Christoph Begemann trotzdem nie bezeichnen. Entdeckerwut passe besser – zu seinem Interesse, das sich zwischen 18. Jahrhundert und zeitgenössischer Musik auffächert, das er letztlich aber auf keine Epoche beschränken möchte.Begemanns Aufnahmen von Schubert, Pfitzner und Rihm-Liedern wurden vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik, Classica France und der Opernwelt ausgezeichnet. Die New York Times feierte Begemanns Timbre, für die Ersteinspielung der Lieder Erwin Schulhoffs hat er gerade zum zweiten Mal den Preis der Deutschen Schallplattenkritik erhalten.Weil ein Spaziergang in Berlin bei kühlen 6 Grad und Dauerregen kein längeres Interview zulässt, findet unser Gespräch in einem kleinen Hinterhof-Büro in Prenzlauer Berg statt. Hinter FFP2-Masken über den freien Stimmklang zu debattieren, bringt uns zum Lachen. Schnell landen wir bei der Frage, was bzw. wie der ideale Sänger denn sein sollte (ein Medium im Dienst des Ausdrucks, das Klang und Text durch sich hindurchströmen lässt?). Ein Gespräch über Fluch und Segen in keine Schublade zu passen, das richtige Wort-Ton-Verhältnis und warum man Erwin Schulhoff kennen sollte.
VAN: Du hattest bereits mit sechs deine ersten Auftritte als Sänger. Und zur selben Zeit begonnen, Geige zu spielen. Etwas später hast du den dritten Knaben in der Zauberflöte an der Hamburger Staatsoper gesungen, warst Konzertmeister im Landesjugendorchester. Der musikalische Weg schien vorgezeichnet – wann entschied sich die Frage, ob du Sänger oder Geiger wirst?
Hans Christoph Begemann: Sänger wollte ich schon immer werden. Es wird ja manchmal nicht klar, wohin das überhaupt führt. Sich als Musiker fühlen, dies dann aber tatsächlich in einen Beruf umzusetzen – das sind zweierlei Dinge. Der musikalische Druck wächst, vor allem in der freischaffenden Tätigkeit. Es war immer schwer, Sänger zu werden, aber heute scheint es noch aussichtsloser und wir können es fast keinem mehr raten.
Gerade jetzt, wo wir hören, dass viele Musiker:innen aufgeben … Das Mittelfeld beginnt sich aufzulösen. Setzen sich heute mehr denn je nur die Besten durch?
Ich würde eher sagen, die Stabilen. Die Sensiblen bleiben auf der Strecke – und mit ihnen viele Begabte, die wir so nie hören werden. Das war vielleicht schon immer so, wird aber nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie extrem verschärft.
Wie war dein Weg an die Hochschule?
Am Anfang war da einfach der große Wunsch, Schubertlieder zu singen. Mit 16 Jahren hatte ich von meinen Eltern ein Schubert-Album geschenkt bekommen, angefangen, diese Lieder zu singen, mit noch nicht vollständig durchmutierter Stimme. Das war der Punkt. Loslegen, um Tenor zu werden. Davon aber meilenweit entfernt sein. Trotzdem hatte ich das Glück, Leute zu treffen, die mir die Weichen stellten. Wäre das nicht gewesen, würde ich jetzt nicht hier sitzen.
Hattest du vor deiner Aufnahmeprüfung bereits Gesangsunterricht?
Nein, meine erste Gesangsstunde erhielt ich tatsächlich erst an der Hochschule. Sängerisch gab es ein großes Manko. Ich hatte mit 14 Jahren meine Knabenstimme verloren – übrig geblieben war ein großer Wille, diese Stimme wieder zu spüren. Zur Aufnahmeprüfung mit 19 sang ich neben Papageno den Wegweiser aus der Winterreise und eines der Kindertotenlieder von Mahler. Das nochmal mit meinen heutigen Ohren zu hören, wäre interessant. Ob ich mir eine Chance gegeben hätte, wage ich heute fast zu bezweifeln. Deshalb gehe ich als Lehrer immer wieder in diese Situation zurück und denke: ›Mensch, wie hast du damals hier gestanden.‹

Du bist sehr breit aufgestellt, hast auch viel Oper gesungen: Nach Gießen und Wuppertal hattest du ein langjähriges Festengagement in Darmstadt und viele Gastproduktionen …
In der Oper war das Fach nie ganz klar. Ich bin ein lyrischer Bariton mit der Tendenz zur Tiefe, bekam so immer wieder einen Bassbariton-Vertrag. Ich habe Figaro und Leporello gesungen, aber eben auch Danilo. Also Rollen, die man nicht unbedingt in einem Atemzug nennt.
Wolltest Du nicht auch Giovanni singen?
Klar! [lacht] Ich wollte auch gerne Jochanaan singen und habe das ja dann auch gemacht. Aber das war ein Ausflug. Giovanni wäre auch einer gewesen. Ich hatte da zum Glück gute Beratung von Friedrich Meyer-Oertel, einem Operndirektor. Man kann mit seiner Stimme fast nur die Rollen singen, die einem passen. José van Dam zum Beispiel war für mich wirklich der tollste Leporello, aber mit Giovanni hatte er nicht denselben Erfolg. Das ist tatsächlich interessant: Wer hilft mir, wer berät mich? Einer meiner besten Freunde, auch Sänger, sagte mir, trotz meines Erfolgs als Germont würde er mich für die meisten italienischen Partien niemals casten. Ich finde, er hat recht.
Wer waren deine wichtigsten Mentor:innen?
Das war zunächst Claus Ocker, mein erster Gesangslehrer an der Musikhochschule in Hamburg. Er hörte in der Stimme des 19-Jährigen bereits das, was sie später erst ausmachte. Er war reiner Konzertsänger, der mir auf den Weg gab, nie zu tönen, sondern immer neu nach der Symbiose zwischen Wort und Ton zu suchen. Die andere Mentorin war Judith Beckmann, die mir einmal, als ich ihr nach längerer Zeit vorsang, sagte: ›Jetzt bist du auf dem Holzweg, ich höre dein Timbre nicht mehr.‹ Ich hatte mein Fundament in der tieferen Mittellage verloren. Übrigens ein häufiges Problem junger und besonders tieferer Stimmen zu Beginn ihrer Karriere: die Angst nicht hoch, nicht expressiv, nicht laut genug zu singen…
Deine Vita ist gespickt mit sehr viel Neuer Musik, Uraufführungen, und immer wieder Lied. Ist das Lied der Schlüssel deiner Karriere?
Ich glaube sogar, dass das Lied der Grund ist, dass meine Stimme sich genau so entwickeln konnte und bislang gesund blieb. Ich hatte Glück, im Studium auf Thomas Seyboldt zu treffen, meinen Duo-Partner seit über 30 Jahren. Er begeisterte sich so sehr für Schubert, dass er die ›Schubertiade im Ettlinger Schloss‹ auf die Beine stellte. Wir haben dort alle Schubertlieder, nach Opuszahlen und Dichtern geordnet, aufgeführt.
Mir wurde dann immer wichtiger, mich mit dem 20. Jahrhundert und letztlich der Gegenwart auseinanderzusetzen. Die Liederwerkstatt in Bad Kissingen war dafür der ideale Ort. Mit den Komponisten der Uraufführungen direkt an deren Werken zu arbeiten, von Rihm, Reimann, Killmayer, Trojahn, Eggert und Mundry zu erfahren, was ihnen vorschwebte, empfand ich als Privileg.
Deine erste Auszeichnung als junger Sänger war ja auch dem Lied geschuldet – und Schubert. Du hast 1994 den Schubert International Preis in Japan bekommen. Und vor Kurzem wurdest du zum zweiten Mal vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, nach Rihm nun für die Einspielung der Lieder von Erwin Schulhoff. Warum sollte man Schulhoff kennen?
Weil Erwin Schulhoff ein ungemein fruchtbarer Komponist des 20. Jahrhunderts ist, der in den drei Jahrzehnten, die ihm vergönnt waren, sämtliche Stile durchlief, für die er sich begeisterte. Mit gerade einmal 16 komponierte er seine ersten, zunächst romantischen, dann impressionistischen Lieder. Da hatte er schon eine komplette musikalische Ausbildung hinter sich, heimste Lorbeeren als Pianist ein, gewann den Mendelssohn-Preis und studierte bei Max Reger. Mit 20 wurde er in den ersten Weltkrieg eingezogen, später an der Hand verwundet und komponierte während des Prager Heimaturlaubs 1915 skurrile, heiter-melancholische Morgenstern-Lieder – die sind wie ein Abdriften, eine Flucht vor diesem furchtbaren Kriegselend.
Der Krieg veränderte Schulhoffs politische Haltung. Er wurde Pazifist und Sozialist, auch stilistisch orientierte er sich um. Und er begeisterte sich immer wieder für die Klangsprachen anderer Komponisten – pflegte Kontakte zu Schönberg und Berg, schrieb Janáček einen bewundernden Brief. Die Fünf Gesänge 1919 komponierte er atonal, um in den 1920er Jahren vollkommen auf die DADA-Schiene umzuschwenken und jazzige Elemente aufzugreifen, wie es vorher kein anderer gemacht hatte. Dann gab es eine lange Phase, in der er keine Lieder komponierte, um erst 1933 wieder auf eine vollkommen neue Art und Weise zum Gesang zurückzukehren.
Da schrieb er dann plötzlich politische Lieder, Arbeiterlieder?
Ja, mit dem Liederzyklus 1917 (den er 1933 komponierte) stellte er sich in eine Reihe mit Eisler. Und es ist schon ein bisschen revolutionär, dass wir mit unserer Ersteinspielung den Blick auf das politische Lied erweitern und schärfen.
Inwiefern?
Wir nehmen Schulhoff als einen Meister des Arbeiter- und Kampflieds im 20. Jahrhundert wahr. Aber auch als Mensch, der 1933 künstlerisch aufbegehrt.
Schulhoff ist ein Komponist, der die zwei großen Krisen des 20. Jahrhunderts hautnah erlebt hat und an der zweiten fürchterlich zugrunde ging. Er beschloss, sich vollkommen treu zu bleiben und mit seiner mittlerweile kommunistischen, nicht mehr nur sozialistischen Gesinnung russischer Staatsbürger zu werden. Beim Einmarsch der Nazis in Prag wurde er sofort als feindlicher Ausländer interniert.
Anders als Beethoven, dessen Lieder du ja auch eingesungen hast, wählte Schulhoff die Dichter seiner Zeit, die uns heute völlig unbekannt sind.
Schulhoff war kein Komponist, der mit den großen Dichtern aufwuchs, wie wir es von Beethoven, Schubert, Schumann kennen, oder auch von Wolf. Er nahm sich intuitiv Texte, die ihn ansprachen.
Schulhoffs Lieder lagen bislang unentdeckt in der Prager Nationalbibliothek.
Ja, bis Klaus Simon sie dort ausgegraben hat und 2016 beim Schott-Verlag herausgeben konnte. Lediglich der tschechisch gesungene Zyklus Volkslieder und Tänze aus Schlesisch-Teschen, den Tanja Ariane Baumgartner auf der Aufnahme singt und die Fünf Gesänge, die Sunhae Im interpretiert, waren schon einmal verlegt worden. Die dreibändige Ausgabe, die nun bei Schott vorliegt, und unsere Gesamtaufnahme der Lieder mit Klaus Simon am Klavier sind eine echte Pioniertat.

Macht es für dich einen großen Unterschied, ob du unbekanntes Repertoire von Schulhoff, ein neues Lied von Rihm oder ein Beethovenlied singst?
Der Anfang des 20. Jahrhunderts berühmte Bariton Johannes Meschaert sagte mal: ›Wenn du mir nichts zu sagen hast, wie solltest du mir etwas zu singen haben?‹ Die Gesangsausbildung kennt erstmal die Stimme. Aber die ist ja ohne Text gar nicht möglich.
Es geht also erst einmal um Texthermeneutik?
Wir müssen uns fragen, was der Text sagt. Dann beschäftigen wir uns mit dem genauen Wort-Ton-Verhältnis. Bei Schulhoff verhält es sich ähnlich wie bei Beethoven, der wenig Melismen kennt und tatsächlich Silbe für Ton setzt. Das kommt vielen Sängern nicht entgegen. Es braucht Geduld, diese Musik zu durchdringen und sie sich zu eigen zu machen.
Wie vermittelst du das einem Studenten, dem das partout nicht gelingen will?
Das ist schwer, weil ich ja nur Anregungen geben kann. Ich kann niemanden zwingen, zu lesen, sich zu informieren, wach und neugierig zu sein. Ich stelle fest, dass viele – selbst die mit den besten Abis – die meisten Dichternamen inzwischen nicht mehr kennen. Mir geht es nicht darum, einen alten Bildungsbürger-Kanon zu beschwören, wo man mit Zitaten um sich wirft, um andere auszugrenzen. Aber ich möchte, dass das, was an Shakespeare, Goethe und Schiller wichtig war, erhalten bleibt. Besonders mit Schiller habe ich die Chance, Demokratie zu verstehen. Wie vielleicht kein anderer erkennt er das Theater als Spiegel der Gesellschaft.
Du hast eine Aufnahme mit Beethoven-Liedern vorgelegt, auf der du auch seinen Erlkönig von 1796 singst. Er blieb Zeit seines Lebens Skizze und wurde erst 100 Jahre später von Reinhold Becker zu Ende komponiert. Warum hast du dich ausgerechnet diesem Fragment gewidmet?
Beethovens Erlkönig ist eine revolutionäre Interpretation der Goetheschen Ballade. Es ist die erste durchkomponierte Fassung überhaupt und übertrifft in ihrer Dramatik die ungefähr zeitgleich entstandenen Versionen bei weitem. Besonders ergreifend in Beethovens Version finde ich, dass er ohne einen Reiterrhythmus auskommt, der ja die Grundlage bei Reichardt, Schubert und Loewe ist, und trotzdem den dramatischen Ritt erlebbar macht. Ich kann verstehen, dass Beethoven gedacht haben muss, ›das halte ich besser zurück‹, weil er sicherlich wusste, dass seine Version nicht zum Stil der Zeit gepasst hätte. Erst 20 Jahre später haben Schubert und Loewe diesen Faden wieder aufgenommen.
Wie ging es nach der Hochschule für dich weiter?
Nachdem ich meine Liederabende und Passionen gesungen hatte, stand ich erst mit 30 als Gasparone auf der Bühne des Gießener Stadttheaters. In meinen Festengagements wurde mir klar, wie beglückend es ist, in einem Ensemble zu sein, wo damals noch alle Altersgruppen engagiert waren. Ich habe es immer geliebt, mit und neben guten Leuten zu singen. Sich für andere zu freuen, wenn etwas gelingt, wenn sie sich in ihrer Rolle finden. Und nicht zu denken: ›Warum singe ich das jetzt nicht?‹
Nach meiner Zeit am Staatstheater Darmstadt habe ich viel gastiert, an der Finnischen Nationaloper als Jaufré Rudel in Saariahos L’amour de loin, in Leipzig als ›Bösewichter‹ oder in Chemnitz bei den Ausgrabungen der Opern Otto Nicolais. Und da stand ich natürlich unter anderem Beweisdruck – zeigen zu müssen, dass es gut und richtig war, mich für diese Rolle zu holen. Als Freischaffender braucht man ein besonderes Standing.
Und auch am besten eine gute Agentur, um nicht ständig selbst Wind um sich zu machen. Wie sieht das bei dir aus?
Ich habe in dieser Hinsicht immer Schwierigkeiten gehabt. Dass ein cleveres Marketing oft wichtiger ist als die Kunst selbst, ist mir bis heute fremd. Dabei war ich ja immer im Geschäft, hatte meine Engagements, Projekte, Uraufführungen. Balance ist mir inzwischen das Allerwichtigste. Als Sänger, als Familienvater, als Lehrer – ich trage da eine große Verantwortung. Übrigens nicht nur den Leuten gegenüber, die auf die Bühne wollen, ich bilde auch viele Schulmusiker aus – die sind mir besonders wichtig. ¶