Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl in der Türkei knapp gewonnen, die absolute Mehrheit jedoch verpasst. Am 28. Mai muss er sich nun in einer Stichwahl Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu stellen. In vielen Umfragen vor der Wahl hatte Kılıçdaroğlu, der gemeinsame Kandidat eines Sechser-Bündnisses, noch vorne gelegen. Die in Köln lebende türkische Pianistin Gülru Ensari über die Enttäuschung über den Wahlausgang, die Gründe für Erdoğans Popularität und die Hoffnung, die ihr bleibt. 

Gülru Ensari • Foto © Dilara Arısoy Cohen

VAN: Wie und wo haben Sie die Wahl verfolgt?

Gülru Ensari: Ich habe eine türkische Freundin, die mich eingeladen hatte, die Wahl gemeinsam mit ihr und anderen Freunden zu schauen. Wir waren politisch alle auf derselben Seite, das hatte ich vorher abgeklärt. [lacht] Ich blieb dort, bis meine Tochter ins Bett gehen musste. Aber da war schon klar, wer gewonnen hat und dass es zu einer Stichwahl kommen würde. 

Sie waren alle für die Opposition?

Genau, wir waren alle gegen Erdoğan. 

War das Ergebnis dann für Sie auch eine herbe Enttäuschung, wie für so viele Anhänger der Opposition, oder hatten Sie damit gerechnet?

Nein, ich hatte damit nicht gerechnet. Wir waren alle voller Hoffnung, wir hatten schon die Getränke vorbereitet und über alle möglichen Szenarien gesprochen, was passieren wird, wenn Erdoğan verliert. Als klar wurde, dass das nicht eintreten würde, zumindest nicht im ersten Wahlgang, waren da alle diese Gefühle: Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit, Wut. Alles gemischt. 

Wie erklären Sie sich das Ergebnis?

Die AKP war wie immer sehr gut vorbereitet und die Opposition hat wahnsinnig viele Fehler gemacht. Kemal Kılıçdaroğlu ist ein sehr netter und liberaler Mensch, aber er ist seit Jahren in der Opposition und hat dort gegen Erdoğan nichts ausrichten können. Es gibt den Istanbuler Bürgermeister [Ekrem İmamoğlu], oder fast noch besser, den Bürgermeister Ankaras [Mansur Yavaş], die tolle Kandidaten gewesen wären. [Beide sind für den Fall eines Wahlsiegs Kılıçdaroğlus als Vizepräsidenten vorgesehen.] Aber irgendwie hat man sich nicht getraut, einen der beiden zu nominieren, obwohl wir das alle erwartet hatten. Vielleicht wollte man auch nicht riskieren, sie jetzt zu verbrennen. Allerdings muss ich sagen, dass ich Kılıçdaroğlus Wahlkampf insgesamt sehr gut fand, sein Versprechen, die ganze, gespaltene Türkei wieder zusammenzubringen, fand ich großartig. 

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Erdoğan gilt nun für die Stichwahl als Favorit. Haben Sie noch Hoffnung?

Ich habe Hoffnung. Ich nehme seit acht Jahren nicht die deutsche Staatsbürgerschaft an, um weiter in der Türkei wählen und Erdoğan abwählen zu können. Ich muss also Hoffnung haben [lacht]. Gestern war ich aber tatsächlich sehr schlecht gelaunt. Normalerweise lächle ich auf der Straße immer die Menschen an. Gestern habe ich mir gewünscht, dass mich irgendjemand anlächelt. Aber heute ist die gestrige Hoffnungslosigkeit schon verschwunden. Kılıçdaroğlu muss es jetzt in der kurzen Zeit hinkriegen, die Nationalisten auf seine Seite zu bringen. Wenn er das schafft, haben wir eine Chance. Ich möchte nicht so tun, als sei die Wahl schon gelaufen. Noch hat Erdoğan nicht gewonnen. 

Vor den Wahlen war viel davon die Rede, in welch schlechter Verfassung die Türkei ist – die schwerste Wirtschaftskrise seit 25 Jahren, eine Inflationsrate von zeitweise über 100 Prozent, das schlechte Krisenmanagement nach der Erdbebenkatastrophe, die Korruption… Der Unterstützung für Erdoğan hat das allerdings nicht so viel geschadet, wie viele Experten dachten und wie die Umfragen es vorhergesagt haben.

Ich habe mit Herbert darüber geredet [Ensari ist mit dem Pianisten Herbert Schuch verheiratet], der meinte: ›Wie können Menschen hier in Freiheit leben und dann für Erdogan stimmen?‹, woraufhin ich zu ihm sagte: ›Denkst du, den Leuten, die ihn wählen, ist Freiheit etwas wert?‹ Die Menschen, die für Erdoğan in der Türkei stimmen, stört die Unfreiheit auch nicht. Ich glaube, sie wählen Erdoğan, weil er ihnen ähnelt. Sie wollen einen Mann, der so ist, wie sie selbst. Der rumschreit, der sagt: ›Die anderen sind blöd, und wir sind toll‹, der sie sich groß und stark fühlen lässt. Die Wirtschaftskrise ist sehr leidvoll, aber natürlich wird nicht der Staatspräsident dafür verantwortlich gemacht, sondern der Ukraine-Krieg und die allgemeine weltwirtschaftliche Lage. Nach dem Erdbeben hat er einfach allen versprochen, die Gebäude schnell wieder aufzubauen. Warum überhaupt so viele Häuser eingestürzt waren, fragte niemand mehr. Wir haben nach dem Erdbeben alle geholfen, aber niemand hat daran gedacht, dabei Werbung für die Opposition zu machen. Die AKP hingegen hat die Hilfe gleich für sich ausgenutzt. 

Wirken die Identitätsthemen, die Erdoğan anspricht – der Nationalstolz, die Feindbilder, die Angst vor der Auflösung einer konservativ-patriarchalen Welt – also letztlich stärker als Wirtschaftsthemen?

Die Türkei existiert seit 100 Jahren, ein Fünftel der Zeit hat Erdoğan regiert. 20 Jahre sind ausreichend, um das ganze Ausbildungssystem zu ändern und die Leute weniger objektiv denken zu lassen. Religion ist da ein sehr gutes Werkzeug. Erdoğan hat sehr viele religiöse Grundschulen gegründet. Wenn man eine weltliche, internationale Perspektive und Ausbildung bekommen möchte, darf man die städtischen Schulen nicht mehr besuchen. Menschen sind sehr leicht manipulierbar. Indem er sagt: ›Wir sind toll, die anderen sind Schuld und überhaupt nur eifersüchtig, weil ihr so einen tollen Regierungschef habt‹, das kommt an, das überwältigt. Er lügt, er beschimpft Frauen, und die Leute klatschen. Armut ist auch ein gutes Mittel, um Leute zu beeinflussen. Wer kein Geld hat, braucht einen emotionalen Lückenfüller, statt zu denken: ›Er ist seit 20 Jahren an der Macht, gerade geht’s dem Land nicht gut, wieso probieren wir nicht mal was anderes?‹

Haben Sie Austausch mit Erdoğan-Wählerinnen und Wählern, gibt es die in Ihrem Freundeskreis und Ihrer Familie, oder lebt jeder in seiner Blase?

Es gibt schon Auseinandersetzungen, in meiner Familie gibt es auch Leute, die ihn wählen. Das Land ist insgesamt ziemlich gespalten. Das bringt die Familie aber nicht auseinander. Als die Leute bei der letzten Wahl gesagt haben: ›Die machen bestimmt irgendwelche Tricks, anders ist sein Wahlsieg nicht möglich‹, habe ich gedacht: Alleine in meinem Familienkreis gibt es Leute, die ihn wählen, wieviel muss er da tricksen?

Sie leben in Köln, dort haben 67 Prozent der Türken für Erdoğan gestimmt. Ist das ein komisches Gefühl, Teil einer Diaspora zu sein, in der die große Mehrheit politisch anders denkt? 

Nein, ich fühle mich eher der Türkei zugehörig als der türkischen Diaspora hier. Meine gesamte Familie lebt in der Türkei, ich bin die Einzige, die hier ist. Ein Teil von mir ist in Deutschland, mein Mann ist Deutscher, meine Tochter auch. Aber ich fühle mich der Türkei zugehörig und gar nicht Teil einer türkischen Diaspora, die hier lebt. Ich möchte, dass die Türkei sich entwickelt. 

Die Kulturszene leidet unter Erdoğan und hat ziemlich geschlossen die Opposition unterstützt. Gilt das auch für die klassische Musik?

Ja, viele Orchestermusiker waren auch als Wahlbeobachter für die Opposition aktiv, und werden das in zwei Wochen wieder tun. Es gibt viele Musiker:innen, die sich gegen Erdoğan geäußert haben. Für mich ist der privat finanzierte IKSV in Istanbul ein Fels in der Brandung, der immer die Freiheit der Kunst verteidigt hat. Vor 10 Jahren, als die Gezi-Proteste stattfanden, durfte ich dort mit dem Cellisten Gautier Capuçon in T-Shirts, die mit ›Halte durch, Gezi‹ beschriftet waren, auftreten. Damals war diese Aktion ein Risiko für das gesamte Istanbuler Musikfestival, das vom IKSV veranstaltet wird, aber es stand überhaupt nicht zur Debatte, ob diese Aktion stattfinden durfte. Auch von den Mitarbeitern des Vereins arbeiten viele als Wahlbeobachter, um unsere Stimmen zu schützen. Es ist noch nicht zu Ende. Nächste Woche gehe ich wieder wählen. Übrigens waren alle, mit denen ich am Sonntag die Wahl geschaut habe, deutsche Staatsbürger. Die waren alle gegen Erdoğan, aber ich war die einzige, die wählen konnte. 

Vor einigen Jahren hat das türkische Innenministerium angeordnet, bei der Beerdigung gefallener Soldaten nicht länger Chopins Trauermarsch zu spielen, sondern Segâh Tekbiri von dem türkischen Komponisten Mustafa Itri. Ist westliche klassische Musik in der Türkei eigentlich auch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen?

Ich finde diese Entscheidung war richtig und sie kam eher zu spät. Ich ordne sie gar nicht dem politischen Wahlkampf zu. Itri ist nämlich ein großartiger Komponist seiner Zeit, wir sprechen hier vom 17. Jahrhundert. Und jedes Land sollte die eigene Kultur schützen und pflegen. Für einen gefallenen türkischen Soldaten ist eine emotionale, traditionelle türkische Musik definitiv passender als Chopin. Ich persönlich würde Mozarts Requiem nach meinem Tod gegenüber aller sonstigen Musik auf der Welt bevorzugen.

Gibt es Musik, die Sie während der Wahl begleitet hat?

Ich habe am 6. Mai ein Konzert mit dem WDR Rundfunkchor und 100 Kindern aus einer bilingualen türkisch-deutschen Grundschule gehabt. Sie haben alle gemeinsam türkische Lieder gesungen. Es war für mich eine sehr emotionale Zeit, gerade eine Woche vor den Wahlen vor dem WDR Rundfunkchor zu stehen und mit den Sängern die türkische Aussprache zu üben. Und dann mit 135 Leuten auf der Bühne im WDR Funkhaus türkische Lieder zu singen. Es war großartig. Ich hoffe, dass solche Projekte immer häufiger stattfinden, damit wir uns erinnern, dass es nicht nur in der Türkei, sondern überall auf der Welt wichtig ist, etwas gemeinsam zu gestalten und aufeinander zuzugehen. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com