An der Komischen Oper Berlin stehen die Zeichen auf Veränderung: Ab nächster Spielzeit flutet das als progressiv bekannte Haus unter dem Motto Oper für alle die Kieze der Stadt. Bei aller Aufbruchstimmung bleibt aber eines beim Alten: Von 17 Produktionen werden nur zwei Stücke von Frauen inszeniert.
Diese Schieflage ist keine Ausnahme: Eine Datenerhebung des vom Deutschen Bühnenverein herausgegebenen Theatermagazins »Die Deutsche Bühne« zählte im deutschsprachigen Raum für den Bereich Oper, Operette und Musical in der Spielzeit 20/21 unter den insgesamt 478 Inszenierungen gerade mal 136 von Frauen. Das entspricht einem Anteil von 28 Prozent.
Weibliche Perspektiven sind in der Musiktheaterregie in der Unterzahl – obwohl es viele junge Frauen ins Regiefach zieht: »In meinem Jahrgang waren wir zu fünft, drei Frauen und zwei Männer. Im gesamten Studiengang waren es in meiner Zeit auf jeden Fall mehr Frauen, von denen aber jetzt wenige in dem Beruf arbeiten«, erzählt Regisseurin Tamara Heimbrock über ihr Regiestudium an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. An den Hochschulen in Hamburg, München und Karlsruhe sieht es nicht anders aus: Über die Hälfte der Opernregie-Studierenden sind weiblich. In Karlsruhe beträgt die Frauenquote sogar 100 Prozent – allerdings gibt es dort nur vier Studierende.

Der großen Zahl junger Regie-Absolventinnen steht ein deutliches Ungleichgewicht auf der Entscheidungsebene gegenüber: In der deutschen Theaterlandschaft sind, so der Deutsche Bühnenverein auf VAN-Nachfrage, gerade mal knapp 23 Prozent der Intendanzen in weiblicher Hand. So entsteht ein Klima, in dem Frauen sich ständig beweisen müssen. »Diejenigen, die zu Wort kommen, sind immer noch primär Männer. Ich muss mich also nicht nur als Regisseurin, sondern auch als Frau behaupten«, meint Tamara Heimbrock.
Wie anstrengend das sein kann, erfuhr auch Paulina Platzer, freischaffende Regisseurin und Dramaturgie-Absolventin der Theaterakademie August Everding: »Für eine Produktion war ich als Co-Regisseurin engagiert und musste die erste Probenwoche alleine übernehmen. Der musikalische Leiter hat sofort alles an sich gerissen, mich ständig unterbrochen und den Sänger:innen ungefragt szenische Anweisungen gegeben«, berichtet die 26-Jährige gegenüber VAN. »Als ich dann gemerkt habe, dass wir so mit der Arbeit nicht weiterkommen, habe ich das Ensemble in die Pause geschickt und versucht, ihm klarzumachen: Die musikalische Verantwortung ist deine, die szenische Verantwortung ist meine. Daraufhin hat sich vor mir aufgebaut, ist mir sehr nahe gekommen und hat mich angebrüllt: Was bildest du dir eigentlich ein? Ich war schon an der Staatsoper, aber mit wem hast du denn schon gearbeitet?« Erlebnisse wie dieses sind ein Grund, warum Paulina Platzer die Hierarchien staatlicher Institutionen meidet und bewusst den Weg in die freie Szene wählt: »Dort ist viel mehr Arbeiten auf Augenhöhe möglich. Wenn ich in der freien Szene assistiert habe, musste ich nie irgendjemandem Kaffee holen.« Erst kürzlich erhielt ihr Kollektiv Futur. X die Debütförderung des Kulturreferats München für ihre Inszenierung K/PPEN – eine performative Auseinandersetzung mit Kippmomenten – von Klimawandel bis hin zum gesellschaftlichen Umsturz.
Tamara Heimbrock hingegen ist in der staatlichen Theaterlandschaft zu Hause. Sie war als Assistentin und Spielleiterin an der Komischen Oper Berlin und dem Theater Aachen tätig und inszeniert mittlerweile eigene Arbeiten, unter anderem für die Landesbühnen Vorpommern und das Theater Magdeburg. Was hätte der traditionelle Opernbetrieb von mehr weiblichen Regie-Handschriften? »Mehr Fragen, mehr Ideen, mehr Antworten«, meint Heimbrock. Das gilt besonders für die Frauenfiguren der Klassiker, die mit einem männlichen Textdichter und einem männlichen Komponisten gleich die doppelte Ladung male gaze abbekommen. Viele dieser Heldinnen sind zu einem tragischen Tod verdammt: Sie sterben an gebrochenem Herzen, einem geheimnisvollen Lungenleiden, durch die Hand eines eifersüchtigen Exfreundes oder opfern sich für einen treulosen Liebhaber – und werden am Ende als schöne Leiche betrauert.
Tamara Heimbrock findet: Dieses Bild darf nicht länger kritiklos reproduziert werden. »Das heißt nicht, dass Frauen auf der Bühne nicht sterben dürfen. Aber ich möchte eine andere szenische Lösung dafür finden. Ich habe mal einem Regisseur bei einer Produktion assistiert, den ich menschlich und künstlerisch sehr schätze. Am Ende dieser eigentlich sehr klugen Inszenierung war da schon wieder die Sopranistin im Nachthemd, die bei läutenden Osterglocken einen verklärten Bühnentod stirbt. Ich habe bis zur letzten Minute dafür gekämpft, dass wir dieses pathosreiche Bild der sterbenden Frau brechen und zeigen, dass der Tod nie schön, sondern immer dreckig und grauenvoll ist. Ich hätte mir gewünscht, dass wir zeigen, wie die Figur erkennt, dass ihr Selbstmord keine Erlösung ist, sondern ein banales und unnötiges Krepieren.« Bei ihrer Regiearbeit zu La voix humaine von Francis Poulenc ging sie deshalb eigene Wege. Anstatt zu zeigen, wie sich die Protagonistin Elle lange und umständlich mit einem Telefonkabel erdrosselt, stößt sie in Heimbrocks Version mit einer Schere in ein Kissen, aus dem schließlich Blut quillt. Ist Elle gestorben oder lebt sie noch heute? Das liegt im Ermessen des Betrachters.
»Ich glaube schon, dass Frauen inhärent einen anderen Blick auf die Materie haben, weil wir mit einem anderen Erfahrungsschatz draufgucken«, so Heimbrock. Dafür muss man nicht alle Klassiker umschreiben. Oft reicht es schon, genauer hinzuschauen. So fiel Paulina Platzer und Co-Regisseurin Waltraud Lehner bei der Auseinandersetzung mit dem Zauberflöten-Stoff insbesondere auf, dass Prinz Tamino alles andere als ein Siegertyp ist: »Tamino ist kein Held. Er ist ein Fähnchen im Wind, ein Ja-Sager, der Pamina im Stich lässt.« Sicher ist das nur eine von vielen möglichen Lesarten. Doch vom Steuerzahler finanziertes Theater soll ja gerade das: Eine möglichst große Vielfalt an Lebensrealitäten und Meinungen zeigen, gesellschaftliche Normen und Rollenbilder hinterfragen.
Der Verein Pro Quote Bühne fordert deshalb schon seit Jahren eine fünfzigprozentige FLINTA*-Quote in allen künstlerischen Theater-Ressorts. »Wir wollen ein Theater, das die Belange aller Menschen widerspiegelt«, heißt es in dem Manifest des Vereins. Geschehe dies nicht, drohe kreativer Stillstand: »Ein solches Theater befindet sich in einem starren, stereotypen Zustand. Unter Einsatz öffentlicher Mittel schafft es eigene Gesetze und erhält Schieflagen: Männer* entscheiden, Frauen* arbeiten und flüstern zu.« Pro Quote Bühne fordert außerdem eine transparente Offenlegung der künstlerischen Etats und gleiche Bezahlung von Frauen und Männern. In einem Interview mit Nachtkritik wies Mitgründerin Angelika Zacek schon 2017 auf den Gender-Pay-Gap hin: »Eine Bühnenbildnerin hat mir zum Beispiel erzählt, dass sie von einem Theater angefragt wurde, nachdem ihr Freund, auch Bühnenbildner, abgesagt hatte – und ihr wurden einfach 3.000 Euro weniger angeboten. Das kann doch nicht sein!«
Tamara Heimbrock und Paulina Platzer befürworten die Quote: »Ich habe erstmal nichts dagegen, wenn ich als Quote besetzt werde, solange es noch nicht selbstverständlich ist, paritätisch zu besetzen. Wir können nicht erwarten, dass die Führungsriegen, die nach wie vor sehr männlich besetzt sind, das von alleine lösen. Das ist nicht anders als bei der Deutschen Bank. Ich unterstelle dem künstlerischen Bereich da viel mehr guten Willen, aber die Mühlen mahlen langsam«, so Heimbrock. Paulina Platzer schränkt ein: »Wenn ein Mann dabei ist, der viel bessere Arbeit leistet, dann soll er das ruhig machen.«Doch wer entscheidet über die Qualität einer künstlerischen Arbeit? Die Theaterleitung, die Politik oder das Publikum?
Letztlich geht es nicht nur darum, ob Frauen anders inszenieren als Männer, sondern um ein Arbeitsumfeld, in dem sich künstlerischer Nachwuchs unabhängig vom Geschlecht beweisen kann. Bis das entsteht, braucht es Initiativen wie beim Festival Aix-En-Provence, das einen speziellen Women Opera Makers-Workshop anbietet, oder beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, das ab sofort in jedem Konzert mindestens eine Komponistin featuren will. Sichtbarkeit und Chancengleichheit fallen nun mal nicht vom Himmel. ¶