Die Unterschiede zwischen musiktheoretischer und kompositorischer Tätigkeit können marginal sein. Alle, die Musiktheorie studiert haben, müssen schon vor Beginn eines Studiums – auch, um beispielsweise die Aufnahmeprüfung einer Musikhochschule zu schaffen – mindestens partiell in der Lage sein, »im Stile von …« zu komponieren. Und wohl kein komponierender Mensch konnte sich je davor drücken, auch mal (s)ein Werk zu analysieren. An deutschsprachigen Hochschulen entdeckt man so manches Mal das Phänomen, dass Professor:innen für Musiktheorie (wenn ihre Stelle nicht ohnehin Musiktheorie und Komposition umfasst), sobald ihnen die Gnade einer festen Musikhochschule-Stelle zuteil wird, das Komponieren mindestens gewaltig zurückfahren. Denn Musiktheorie-Unterricht ist gewissermaßen für alle an einer Musikhochschule Pflicht – und dementsprechend sind die vergleichsweise »zahlreich« vertretenen Musiktheorie-Lehrenden fast immer gut ausgelastet. 

Wenn etwas von der am 20. Mai 1923 in Flushing (New York City) geborenen Ludmila Ulehla in Erinnerung geblieben ist, dann leider nicht beispielsweise ihre Elegy for a Whale für Flöte, Violoncello, Klavier und Wal-Gesang-Zuspielung aus dem Jahr 1975, sondern wohl vielmehr ihr Musiktheorie-Lehrwerk Contemporary Harmony: Romanticism Through the Twelve-Tone Row aus dem Jahr 1966.

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Ulehla entstammte einer Familie mit tschechischen Wurzeln, hatte bereits als Fünfjährige Kompositionen notiert und spielte außerdem profund Klavier und Geige. Sie studierte an der Manhattan School of Music Komposition bei Vittorio Giannini (1903–1966), der 1955 die wohl dreisteste »Nachempfindung« (von »Kopie« zu sprechen: zu viel gesagt) von Samuel Barbers »traurigsten Musikstück der Welt« (BBC, 2004) – dem Adagio for Strings (1938) – auf den Markt »warf«.

Ludmila Ulehla unterrichtete ab ihrem 24. Lebensjahr (ab 1947) selbst an der Manhattan School Komposition – für viele, viele Jahre. Von 1972 bis 1989 leitete sie gar die dortige Fakultät für Komposition. Ulehla starb am 5. Dezember 2009 in »Big Apple« mit 86 Jahren. New York war sie (oder sollte man sagen: ihr?) ein Leben lang treu geblieben.


Ludmila Ulehla (1923–2009)
Elegy for a Whale (1975)

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Ulehla war offenbar keine »Vielschreiberin«. Vorrangig komponierte sie Kammermusik, aber auch eine 1993 in New York uraufgeführte Kammeroper mit dem Titel Sybil, Daughter of the American Revolution, die laut Alex Ross ein »expressionistisches Idiom mit tonalen Verzerrungen« zeitige und »durchweg gut ins Ohr« ginge. Nun gut.

1975, einige Jahre zuvor, schrieb Ludmila Ulehla ihre besagte Elegy for a Whale für Flöte, Violoncello, Klavier und Wal-Gesang-Zuspielung. Ein paar moderne, verlorene Klavierklänge: zersplittert. Eine klagend aufbegehrende Flöte. Ein Cello, das sich – auch nicht gerade freudvoll – dazumischt. Zerdröselte Musik, von Trillern noch weiter in den Orkus geschickt. Doch die Flöte spielt weiterhin die Mahnerin, die Auffordernde. Die Einblendungen von Wal-Stimmen vom Band geschieht ganz uneitel – nicht mit dem moralischen Umweltschutz-Zeigefinger. Die Stimmen sind einfach irgendwann plötzlich »da« – beziehungsweise, nein: dazwischen. Als stäche die Musik Arnold Schönbergs ins Meer.

Nach etwa viereinhalb Minuten bekommt der aufgenommene Wal (es mögen auch mehrere gewesen sein) sein großes »Solo«. Wal-Geräusche berühren uns immer auf ganz seltsame Weise. Vielleicht, weil sie uns wie recht lustige Menschenlaute vorkommen. So etwas zwischen Schmatzen und Quietschen. Dieses Stück von Ulehla hätte es auf die Kammermusikprogramme prominenter Häuser verdient – gerade in diesen Zeiten, die uns den Blick auf das, was wir der Umwelt längst angetan hätten, richten lässt. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.