Prometheus’ Angriff auf die Mächtigen klingt aus der Kehle des Tenors Julian Prégardien eine Spur zu edel: »Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst und übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen Dich und Bergeshöhen.« Aber selbst wenn sich der Himmel unbeeindruckt wolkenlos zeigt, Prégardiens klare und schöne Stimme setzt sich gegen eine Lastwagenhupe und Hundegebell durch, überwindet Tellerklappern, Möwengeschrei und trägt die Freiheits-Botschaft des antiken Rebellen eher beiläufig als mit großem Pathos an die vollbesetzten Tische der Hafenkneipen. 

Danae Dörken und Julian Prégardien • Foto © Eleonora Pouwels / Pure Photography

Mit Prometheus, dem antiken Punk, Idol des Sturm und Drang, der die Götter hinters Licht führt, um es den Menschen zu bringen und ihnen damit Wärme, Unabhängigkeit und Aufklärung schenkt, startet das Molyvos Festival in der Mittagshitze des 16. August in seine siebte Ausgabe. Unter dem Motto »Freiheit« stehen die diesjährigen Konzerte. 200 Jahre griechische Revolution sind der historische Anlass, 1821 begann der blutige Krieg gegen 400 Jahre türkische Unterdrückung. Am Hafen bleiben Einheimische und ein paar Touristen stehen, sie nicken Julian Prégardien anerkennend zu, sein weißes Hemd über der Leinenhose flattert im Wind. 

Die Sonne brennt auf den Hafenplatz, wo Kraken-Fangarme auf langen Schnüren im Wind trocknen. Gekocht in einer Sauce aus Ouzo, Zitrone und frischen Kräutern sind sie die Spezialität des Ortes. Molyvos liegt nur fünf Seemeilen vom türkischen Festland entfernt. Überall im alten Dorf trifft man auf die Überbleibsel türkischer Herrschaft. Das zerstörte Minarett der ehemaligen Moschee, die heute als Gemeindezentrum dient, ein altes Hamam, das inzwischen als Restaurant bewirtschaftet wird. Auch die unverputzten Steinhäuser am Hafen mit ihren auffälligen Dachbalken und Balkonen wurden einst von Türken erbaut. Heute werfen sie Goethes Verse, beflügelt von Schuberts Melodie weit übers Meer. Ob die Künstler in Erdogans Gefängnissen sie hören? Oder die Geflüchteten ein paar Kilometer weiter im Lager Kara Tepe?  

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Warum veranstaltet man ein klassisches Kammermusikfestival im Krisengebiet? Immer wieder hören die jungen Initiatorinnen Danae (29) und Kiveli (26) Dörken diese Frage, sie antworten geduldig: »Warum nicht?« Zugegeben, der Impuls vor sieben Jahren, sei kein politischer gewesen. »Doch ›Freiheit‹ kann man von Anfang an als Untertitel lesen«, sagt Kiveli Dörken. Zunächst ging es um die Freiheit des musikalischen Ausdrucks. »Wir wollten an den Sehnsuchtsort unserer Kindheit, den Geburtsort unserer Großmutter die Musik bringen, die wir so sehr lieben und in Deutschland studierten, die aber auf Lesbos immer noch unbekannt ist«, sagt Danae.  »Hier gibt es keine vorgefertigte Abonnentenhaltung klassischer Musik gegenüber wie man sie aus Deutschland kennt, die Leute sind unglaublich offen«, ergänzt Kiveli. 

Kiveli und Danae Dörken mit Julian Prégardien • Foto © Eleonora Pouwels / Pure Photography

Dass ihr Festival zum Politikum wurde, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise auch zwischen Boote voller Geflüchteter geriet, konnten sie damals nicht absehen. Auch nicht, dass die geliebte Insel seitdem nur mehr als Krisenhotspot wahrgenommen wird. Inzwischen gehen sie äußerst bewusst damit um, wollen die Außenwahrnehmung der Insel ändern. Vor sieben Jahren konnten sie Geflüchtete noch zu den Konzerten einladen, erzählt Kiveli. Einen ihrer Musical Moments hatten sie direkt im damaligen Lager Moria veranstaltet. Heute sei das nicht mehr möglich. Zu viele bürokratische Hürden, die den Enthusiasmus ausbremsen. Die Geflüchteten dürfen das Lager zwar verlassen, um bei Lidl einzukaufen – in die Konzerte kommen sie (trotz des Wunsches der Gründerinnen) nicht. 

Das Wort Freiheit leitet sich im Griechischen aus zwei Bedeutungen ab: »sich bewegen« und »lieben«. Freiheit sei »das Vermögen, bewusst zu verfolgen, was unser Herz sich wünscht«, erklären Danae und Kiveli in ihrer Anmoderation am Abend. Auf Griechisch und Englisch.

Statt wie in den Jahren zuvor in der byzantinischen Zitadelle, finden die vier Hauptkonzerte diesmal auf einem Sportplatz statt. Wegen Restaurierungsarbeiten. Basketballkörbe ragen zwischen den Zuschauerreihen aus weißen Plastikstühlen, die Tore wurden abgeschraubt, eine große Open Air-Bühne aufgebaut. Przemysław Pujanek und Eivind Ringstad, zwei junge Bratschisten aus Italien und Norwegen, spielen ein Duett von F.W. Bach, dem ältesten Sohn Johann Sebastian Bachs. Atemlos folgt man der Musik. Fein und zart gewebt, man hört das Zittern der Bogenhaare. Darauf die Ouvertüre aus Beethovens Ballettmusik Geschöpfe des Prometheus – für das Festival wurde sie als Kammerversion für zwei Violinen, Viola, Cello, Kontrabass, Klarinette und Fagott arrangiert. Mit einem scharfen Sekundakkord setzt sie ein, Prometheus’ Funke, ein unaufgelöstes Signal, das die Spannung, die Erwartung auf das Kommende erhöht. 

Konzert am ersten Festivaltag • Foto © Ervis Zika

Viele Freiheitsmelodien wurden für das Festival ausgegraben, neu arrangiert, sogar frisch komponiert. Musik, die nicht nur den griechischen Freiheitskampf illustriert, wie der erste Satz Revolution aus Nikos Astrinidis Symphonie 1821. Ein Werk, das man selten in Konzertsälen hört. In Molyvos wird es zum musikalisch-emotionalen Höhepunkt in der ehemaligen Moschee. Neun junge Musiker, Marc Bouchkov und Hyeyoon Park (Violine), Przemysław Pujanek (Bratsche) und Eivind Ringstad (Viola), Benedict Kloeckner am Cello, Marco Behtash (Kontrabass), Pablo Barragán (Klarinette), Theo Plath (Fagott) und Kiveli Dörken am Klavier musizieren vor der alten Mihrab. Ein unerbittliches Ostinato hält die Einzelstimmen, ihre melodischen Ausbrüche zusammen, die sich am Ende in einem Auferstehungs-Hymnus entladen. Julian Prégardien singt ihn auf Griechisch – aus voller Kehle. Das Publikum ist aufgestanden, weint. So vielen spreche das aus der Seele, sagt mir ein Zuhörer. Die letzten Jahre – die Überforderung durch die Vielzahl der Geflüchteten, Corona – lägen noch wie ein Trauma über der Insel. Nun will man endlich einen Neubeginn.

Lito Dakou, Danaes und Kivelis Mutter, zeigt uns einen Pinienhain außerhalb des Dorfes. Ihr Großvater hat ihn vor bald 100 Jahren gepflanzt. Durch die Wipfel, in denen Zikaden kreischen, sieht man das Meer glitzern, an einigen Stellen eröffnet sich der Blick auf Dorf und Burg. Lito klatscht in die Hände, das ohrenbetäubende Gezirpe erstirbt. Eigentlich wollten sie hierher mit ihren Konzerten ausweichen, erklärt sie. Der alte Hain, die grüne Lunge des Ortes schien ideal, nicht zuletzt, weil er in der Familiengeschichte der Gründerinnen wurzelt. Doch zwei Tage vor der Eröffnung kam die Absage: Sollte hier tatsächlich ein Funke überspringen, einer der mehr als Begeisterung entfacht – gerade erst habe man die Brände in Athen unter Kontrolle bekommen. 

Kiveli und Danae Dörken mit Konstantia Gourzi (Mitte) • Foto © Eleonora Pouwels / Pure Photography

Aber nicht nur vor dem nächsten Waldbrand wächst die Angst – auch vor »neuen falschen Bildern«, sagt Aphrodite Vati. Sie ist die Tourismusbeauftragte der Region und Festival-Unterstützerin der ersten Stunde. In der Lobby des Hotels spricht sie von der medial ausgeschlachteten Misere der Insel, erinnert an Krawall-Bilder, die Inselbewohner:innen plötzlich als Faschisten stigmatisierten, NGOs, die ihre Helfer:innen-Infrastruktur rücksichtslos hochzogen, ohne die Menschen vor Ort einzubinden. Sie hat die Zahlen, die Menschen, ihre Schicksale im Blick: Die Haupteinnahmen der Insel wurden bis 2015 durch den Tourismus erwirtschaftet, 2016 brach der Markt zu 80 Prozent ein, Pleiten wie die von Thomas Cook und des Billigfliegers Germania taten das Übrige, Corona brachte schließlich alles zum Erliegen. Trotzdem bereicherten sich einige wenige Firmen, die für die Infrastruktur und Versorgung der Flüchtlingslager zuständig waren. Angesichts ihres Gewinns gab es bis heute keine Ausgleichszahlungen. Das ist bitter für all jene, die durch den eingebrochenen Tourismus ihre Existenz verloren. Von den einst 70 Direktflügen pro Woche existierten momentan nur noch sieben. Dabei sei Lesbos schon immer Durchgangsstation gewesen, sagt Aphrodite Vati. Nicht nur für die Schwarzstörche und Flamingos, die in den Salzseen von Kalloni rasten, sondern immer schon auch für Menschen. Die Artefakte, die man nahe des Dorfes Lisvori ausgrub, zählen zu den ältesten in Griechenland. Die Gastfreundschaft der Menschen hier ist eine besondere, tiefe. Erst der Komplettausfall an Solidarität durch die EU brachte sie ins Wanken. Vor dem vorletzten Konzert spricht der deutsche Botschafter nach einem Besuch im Flüchtlingslager Kara Tepe: lauwarme Phrasen von der einenden Kraft der Musik. Angesichts des mitreißenden Spiels und des Gesangs auf der Bühne lassen sie einen ratlos und kalt. 

Molyvos Musical Moment, Agora • Foto © Eleonora Pouwels / Pure Photography

2015 waren die Strände übersät von weggeworfenen Überlebenswesten. Ein ansässiger Künstler hat daraus kleine Boote gebastelt. Noch heute verkauft er sie als Souvenir. Jetzt fürchtet man neue Boote aus Afghanistan.

Mit George Enescus Streich-Oktett in C-Dur, op.7 endet das Molyvos International Music Festival. Ein Stück, das wegen seiner Sperrigkeit, seiner Komplexität gefürchtet ist. Danae und Kiveli widmen es einem verstorbenen Freund, dem Cellisten Alexander Buzlov. In den vergangenen Jahren war er ein wichtiger Festival-Gast. Jetzt spielt seine Witwe Alissa Margulis erste Geige, gibt den Einsatz zum ersten Thema. Die vielen ineinander verflochtenen Melodien bieten überraschende Lösungen an, Stimmen verbinden sich, dissonieren, flirrend eröffnen sie einen neuen Erlebnisraum, der manchmal wie ein trügerisches Unisono klingt. 

Die Molyvos-Familie, zusammengehalten von Lito Dakou, Kiveli und Danae Dörken, wächst stetig. Angehörige, Freund:innen, junge, aufstrebende Künstler:innen aus allen Erdteilen, die in irgendeiner Weise mit Kiveli und Danae verbunden sind, oder es spätestens nach dem ersten gemeinsamen Musizieren werden – eine Gemeinschaft, die vor Energie und Freude sprüht und der man nicht nur auf der Bühne gerne zuhört. »Revolution beginnt immer in der Musik. Damit ist sie der Politik voraus«, sagt Kiveli Dörken. Eine Dorfbewohnerin hat Lito Dakou einen Brief überreicht, in der sie das perfekte Griechisch des Tenors Julian Prégardien lobt. 

Am Strand von Eftalou, in einem weißen Sarkophag, ist der Dichter Argyris Eftaliotis (1849 –1923) begraben. Er übersetzte einst Homers Odyssee ins Neugriechische und schrieb: »Du musst Dunkelheit spüren, um das Licht zu lieben.« ¶