Ich treffe Danae Dörken an einem schwülen Junitag in einem Café am Potsdamer Platz. Das reinigende Gewitter ist lange überfällig und eine müde überdrehte Stimmung liegt über der Stadt. Dörken kommt, dem Wetter angemessen, in Sneakern und luftig weißem Sommerkleid. Bevor es losgeht, holt sie sich von drinnen eine opulente Obst-Sahnetorte. Dörken, in Wuppertal aufgewachsen, ist vor einigen Monaten Mutter geworden und mit Freund und Sohn von Schöneberg nach Königs Wusterhausen, jenseits der Stadtgrenze, gezogen. »Ich wusste nicht, wie es werden würde mit Kind, ob ich vielleicht nur nachts würde üben können. Deshalb lieber ein Haus ohne Nachbarn, dafür aber mit Garten.« Oft sind sie ohnehin nicht zu Hause, in diesem Jahr bisher vielleicht zwanzig Tage, schätzt sie. Dörken ist als Solistin und Kammermusikpartnerin gut gebucht, daneben hat sie viel zu tun als Gründerin und Künstlerische Leiterin des Molyvos International Music Festival auf der griechischen Insel Lesbos, wo sie als Kind ihre Ferien verbrachte, im Sommerhaus der Familie.

Du bist vor zehn Monaten Mutter geworden, hast Du Dir Elternzeit genommen?

Ich habe bis fünf Tage vor der Geburt gespielt, und das erste Konzert war drei Wochen danach, das war meine Elternzeit (lacht).

Es geht alles so weiter?

Ich muss natürlich viel mehr im Voraus planen, aber darüber hinaus hat sich nicht viel geändert. Ich spiele so viel wie vorher, übe meine drei, vier Stunden am Tag, zu Konzerten reisen wir meistens zu dritt.

Im August findet die vierte Auflage Deines Festivals auf Lesbos statt, das Du zusammen mit Deiner Schwester Kiveli gegründet hast. Die Nachrichten aus Lesbos werden seit einigen Jahren bestimmt von der Situation Geflüchteter auf der Insel, insbesondere im Flüchtlingslager Moria, wo es gerade vor ein paar Tage wieder einen Gewaltausbruch gab. Wie erlebst Du die Situation vor Ort?

Es ist schwierig. Als die Geflüchteten ankamen, erlebte Griechenland gerade den Höhepunkt der Finanzkrise. Trotzdem hat man geholfen, das ist so in der DNA der Insel. Als man dann aber gesehen hat, dass wegen der Bilder in den Medien keine Touristen mehr kamen, ist die Stimmung gekippt. Dieses Gefühl – alles zu geben, sich zu kümmern, aber alleine gelassen zu werden – hat zu sehr viel Frust geführt. Die letzten zwei, drei Sommer waren wirklich hart, mit sehr wenigen Touristen. Jetzt möchte man keine Fernsehsender mehr vor Ort haben und es herrscht die Stimmung, nach außen so zu tun, als sei alles gut, was ich auch grenzwertig finde. Immer, wenn ich in Deutschland bin, wollen alle nur über die Geflüchteten sprechen, wenn ich dort bin, sagen die Leute, es gibt das Problem nicht.

Ist es nicht unmöglich, in dieser Situation ein Kammermusikfestival hochzuziehen?

Vor allem im ersten Jahr war es eine krasse Situation: Da kam täglich eine große Zahl Geflüchteter in einer extremen Notlage an, während wir parallel das Festival starten wollten. Da haben wir uns schon gefragt, ob wir es wirklich durchziehen können. Aber dann hatten wir das Gefühl, dass es gerade in dieser Situation, in der es um Leben und Tod geht, wichtig ist, irgendeine positive Gegenkraft zu schaffen. Wir haben in den Lagern gefragt, ob jemand kommen möchte, und viele sind gekommen. Das war für einen Abend vielleicht eine Art Zuflucht.

Trotzdem ist die Realität im Flüchtlingslager weit entfernt von dem, was man auf einem Festival macht und wen man damit anspricht.

Klar, aber wir haben die Wahl zwischen ›Nichtstun‹ oder ›Irgendwas-Tun‹. Natürlich können wir nicht Nahrung für 8000 Leute organisieren oder die Flüchtlingspolitik der EU ändern, aber was wir zum Beispiel machen können ist, ins Lager zu gehen und dort zu spielen.

Kommt ihr da hinein? Das ist selbst für Journalisten sehr schwer.

Ja, aber es gibt für Kinder bestimmte Programme, in die wir uns integrieren können. Für die Kinder, das merkt man ganz stark, ist es einfach eine schöne Abwechslung vom Lageralltag. Natürlich tun wir nicht so, als würden wir deren Leben verändern. Aber was wir ihnen geben, ist allemal besser, als wenn sie das an dem Tag nicht gehabt hätten.

Um Begriffe wie ›Identität‹ und ›Heimat‹ wird derzeit eine aufgeladene öffentliche Debatte geführt. Sind das wichtige Themen für Dich?

Schon, aber gar nicht von außen, eher von innen. Ich habe mit der Zeit gemerkt, dass es ein großer Vorteil ist, sagen zu können, ›ich bin ganz vieles‹. Heimat hat für mich nicht viel mit einem Ort, nicht einmal mit Sprache zu tun, eher mit einem Lebensgefühl, wo ich mich wohlfühle, und das kann an ganz vielen verschiedenen Orten passieren.

Fühlst Du Dich mit dieser Viel-Identität oft als Übersetzerin?

Sehr, das kam für mich selber total unerwartet, es hat angefangen, als ich begann, Interviews für das Festival zu geben: wie unterschiedlich die Bilder in den deutschen und griechischen Medien waren, wie unterschiedlich das aufgefasst wird, was ich sage! Nicht nur bei der Flüchtlingsthematik.

Nerven Dich die kulturellen Stereotypen?

Eigentlich nicht, weil ich beide Seiten kenne und auch verstehe, wo sie herkommen. Ich finde es eher lustig, auch weil in mir immer beides gesehen wird: In Deutschland kommen die blöden Witze ›soll ich dir ein bisschen Geld leihen, Danae‹, in Griechenland komme ich aus dem ›Hitler-Land‹. Ich habe eigentlich immer darüber gelacht.

Deine Schwester ist auch Pianistin. Hast Du als ältere eigentlich früher mal so ein Gefühl gehabt wie ›muss die mir das jetzt auch nachmachen, ich hätte das Instrument gerne für mich‹?

Gar nicht, ich habe mich nie bedroht gefühlt, sondern eher überlegt, ob es für sie so gut ist, dass wir dasselbe machen und sie dann erstmal ›die Schwester von‹ ist. Mittlerweile geht sie aber ihren eigenen Weg, so dass das kein Problem mehr ist. Dass wir das Festival zusammen machen, ist traumhaft. Es ist unglaublich, wie viel Arbeit man sich spart, wenn man sich so blind versteht, wie wir das tun.

Wann hast Du das letzte Mal gedacht, Du hängst alles an den Nagel?

Vielleicht vor fünf, sechs Jahren, so mit zwanzig, nach dem Abitur. Da gab es eine Phase, in der ich viel darüber nachdachte, ob ich überhaupt was zu sagen habe. Es gibt tausende von Pianisten, was mache ich da überhaupt, bin ich überhaupt gut genug? Ich bin auch in einer Klasse groß geworden, wo viele tolle Leute waren, wo man sich wunderbar vergleichen konnte …

In Deiner Klasse in Hannover bei Karl-Heinz Kämmerling waren unter anderem Alice Sara Ott, Igor Levit und Alexej Gorlatch. Ist das nicht furchtbar anstrengend, sich immerzu vergleichen zu müssen?

Das Vergleichen wurde ja auch ermuntert oder provoziert: In Klassenvorspielen mussten wir teilweise dieselben Stücke nacheinander vorspielen.

Geht das auch nach der Hochschule weiter, bezogen auf die Karrieren, die ja zum Beispiel bei Ott und Levit sehr viel mehr ›Hype‹-Momente beinhalteten als bei Dir?

Ach, das ist für die beiden jeweils der beste Weg, heißt aber natürlich nicht, dass es der ist, den ich selbst gerne gehen würde. Das ist das, was man lernt in diesen Phasen des Selbstzweifels: Der oder die ist dort, wo er oder sie ist, aus ganz bestimmten Gründen. Jeder, der erfolgreich ist, ist dort, wo er ist, nicht ohne Grund. Nichts ist unfair.

›Fair‹ ist es aber doch auch nicht immer, wenn man sieht, wer Aufmerksamkeit bekommt und wer nicht. Ich würde eher sagen, nichts ist ›zufällig‹.

Ja, genau, ich finde, erst, wenn man das versteht, kann man selbst überhaupt nur irgendwo hinkommen. Dazusitzen und zu hadern, ›wieso bin ich nicht da und dort‹, damit kommt man sowieso nicht sehr weit.

Was oder wer hilft Dir dabei?

Eigentlich ist es eher ein mentaler Prozess, den ich mit mir selbst ausmache. Ich rufe mir in Erinnerung, was ich habe, was ich mache, worauf ich mich freue, was meine Ziele sind, wofür ich dankbar bin. Mit anderen spreche ich gar nicht so viel darüber.

Wenn Du Deine bisherige Karriere betrachtest, wo, würdest Du sagen, stehst Du gerade?

Ich denke, ich bin genau da, wo ich sein sollte, auch im Verhältnis dazu, wieviel ich investiert habe, was ich gemacht habe. Ich wollte nie, dass ich so ein ›Breakout-Star‹ werde …

Das glaube ich Dir nicht! Hätte jetzt jemand geschrieben, dass Du die neue Jahrtausendbegabung bist, hättest Du Dich bestimmt nicht beschwert.

Sicherlich nicht über die Kritik, aber wenn die Konsequenz wäre, dass sich mein Leben von heute auf morgen verändert … Ich weiß nicht, wie gut ich damit zurechtgekommen wäre. Meine Befürchtung ist, dass es nicht gut gegangen wäre.

Warum nicht?

Weil ich glaube, dass das etwas ist, was man nicht gut verdauen kann, wenn man bis dahin ganz anders gelebt hat. Dann ist plötzlich alles anders, da geht der Kopf gar nicht mit. Man kann nicht bodenständig bleiben und sich daran erinnern, wo man herkommt und was die ›normalen‹ Sachen sind, sondern fliegt nur noch irgendwo herum. Wenn es so gekommen wäre, hätte ich es natürlich gemacht, aber es wäre schiefgegangen.

Für Dein letztes Album hast Du unter anderem Mozarts Klavierkonzert No. 21 mit der Royal Northern Sinfonia und Lars Vogt aufgenommen. Ist es nicht komisch, ein Konzert aufzunehmen, dirigiert von seinem eigenen Lehrer, der das auch schon als Pianist eingespielt hat?

Es ist ein bisschen komisch, ja, weil man natürlich Aufnahme des Lehrers im Kopf hat. Im Aufnahmeprozess habe ich mich dann aber super wohl gefühlt, auch weil er halt genau weiß, wo die kniffligen Stellen sind.

Geht man an sowas ran und sagt sich, ›ich will auf keinen Fall genauso klingen wie mein Lehrer‹?

Nee, manchmal habe ich gedacht, ich würde mich freuen, wenn es so klänge (lacht). Ich habe versucht, ein anderes Gesamtbild zu schaffen, aber natürlich gibt’s auch Stellen, die man sich abguckt, wo man denkt, ›wow, das klingt besonders toll‹.

Habt ihr noch Kontakt?

Ja, ich spiele ihm vielleicht alle halbe Jahre mal was vor. Das finde ich auch wichtig, weil man sonst Gefahr läuft, sich sehr schnell zu verlieren. Wenn man viel spielt und nicht mehr innehält, schleichen sich so grundlegende Macken ein, obwohl man es eigentlich besser wissen sollte.

Hast Du Vorbilder, Rollenmodelle?

Ich mag Édith Piaf total. In ihrem Leben ist alles drin, alle Schicksalsschläge, alle Tiefen und alle Höhen, von der Straßensängerin bis zum Superstar. Ich finde es beeindruckend, wie sie jeden Moment ihres Lebens genossen hat. Natürlich ist sie deswegen auch früh gestorben, aber sie hat wirklich gelebt. Ich finde, zu leben ist wichtig, nicht nur vor sich hinvegetieren und an die Zukunft denken.

Aber das ausschweifende Leben einer Édith Piaf ist für Euch klassische Musiker doch gar nicht drin!

Na ja, es ist drin für den, der es drin haben will (lacht).

Und unter Kolleg*innen?

Das ist jetzt ein bisschen ›klassisch‹, aber natürlich finde ich Martha Argerich ziemlich toll, auch von der Lebensgeschichte her.

Wie oft wurdest Du in Kritiken schon mit ihr verglichen?

Öfters (lacht). ›Man erinnerte sich an die ersten Abende der jungen Argerich‹. (Sie imitiert einen etwas gestelzten Rezensententon.)

Und was kommt so vom Publikum?

›Die Pianistin mit den Locken‹, das steht übrigens auch in jeder Kritik. Ich werde auch immer auf meine hohen Schuhe angesprochen, das ist auch sehr befriedigend nach einem Konzert. ›Wow, wie können sie mit solchen Stilettos Klavier spielen?‹ ›Und sie sehen noch so toll dabei aus.‹ Aussehen generell. Schuhe, Kleid, Haare.

Und wie reagierst Du dann?

Ich denke, okay, nicht die tollsten Fragen, aber sie sind in mein Konzert gekommen, haben sich extra eine Karte gekauft, dafür sollte ich dankbar sein. Auch ein Klassiker: ›Wie passen all die Noten in Ihren Kopf rein?‹.

Du hast neulich mal ein kurzes Video von einer Probe in Las Vegas gepostet, auf dem Du Deine normalen Straßenklamotten trägst. Mir ist dabei wieder aufgefallen, wie viel besser das wirkt als immer diese opulenten, etwas altbackenen Seidenroben. Müssen die sein?

Habe ich mich auch schon ein paarmal gefragt, ob man es durchziehen muss. Viele Leute identifizieren sich aber, glaube ich, damit, einigen im Publikum ist das schon wichtig.

Fällt es Dir leicht, die Erwartungen der Klassikwelt zu bedienen?

Ich fühle mich nicht so, dass ich in der Klassikwelt lebe. Die finde ich schon ein bisschen befremdlich. Es geht sehr viel um Schein, wer mit wem und wo. Da versuche ich gar nicht erst Teil von zu sein, auch wenn ich natürlich musikalisch das zeigen möchte, was mir wichtig ist. Aber ich würde mich jetzt nicht vorstellen und sagen, ›Hallo ich bin Danae und Pianistin.‹ Das ist meine Arbeit, aber nicht mein Sein. Ich genieße mein Leben, ich reise gerne, ich tanze gerne, ich esse gerne, ein Teil davon ist, dass ich Mutter bin, und ein anderer, dass ich Pianistin bin. ¶

Hartmut Welscher

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com