Es ist eine wahre Freude, nach diesen langen Lockdowns endlich wieder ins Konzert gehen zu können. Während das Musikfest Berlin 2020 nur online stattfand, traten diesen Herbst neben renommierten Klangkörpern aus Deutschland neun der besten internationalen Ensembles und Orchester live auf, mit abwechslungsreichen und gewagten Programmen, in denen auch viel zeitgenössische Musik zu hören war. Zu den Gästen gehörten das London Symphony Orchestra, die English Baroque Soloists und der Monteverdi Choir aus London, das Lucerne Festival Contemporary Orchestra aus der Schweiz, das Orchester Les Siècles und das Orchestre des Champs-Elysées aus Paris, das Mahler Chamber Orchestra, das Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam und das Collegium Vocale aus Gent.

Das Musikfest-Konzert des London Symphony Orchestra unter der Leitung von Simon Rattle war eine Wiederholung der Uraufführung von Ondřej Adámeks wunderbarem Where are you?, das das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (ebenfalls unter der Leitung Rattles) im Juni 2021 erstmals auf die Bühne gebracht hat. 

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Das gleiche Konzert (Beethovens Sechste und Adámek) ist in dieser Saison außerdem in Luzern, Bukarest, Luxemburg, Dortmund und Antwerpen zu hören. Ähnlich umtriebig sind auch andere Orchester: Die Berliner Philharmoniker reisen in dieser Saison nach Luzern, Paris, Aalborg, Aarhus, Malmö, Wien, Ljubljana, Odessa und Zagreb. Das Concertgebouw Orchester musste seine geplante Reise nach Moskau, Seoul und Japan wegen der Corona-Reisebeschränkungen absagen, stattdessen fliegt es nun nach Island (​​Schostakowitsch, Tschaikowsky), Hamburg und Bukarest. Die Carnegie Hall in New York wirbt für Konzerte »der größten Orchester der Welt«: in diesem Jahr mit dem Royal Philharmonic Orchestra (Britten, Elgar, Holst), den Wiener Philharmonikern (Prokofjew, Tschaikowsky) und dem Orchester des Mariinsky-Theaters (Bruckners Vierte).

Allerdings kann ich es immer weniger genießen, Beethoven, Bruckner oder Prokofjew zu hören, wenn dabei international tourende Orchester auf der Bühne sitzen und ich weiß, dass zum einen mindestens 80 Menschen für ein einziges Konzert mit dem Flugzeug angereist sind – und ich zum anderen ähnliche Interpretation desselben Stücks auch von lokalen Orchestern hätte hören können. Ich liebe es, diese Stücke live zu hören, doch ich wäge dabei mehr und mehr meinen Egoismus ab gegen die Zukunft meiner Kinder, meiner Studierenden und einer ganzen Generation, denen dramatische Veränderungen und Herausforderungen bevorstehen. Ich denke an die Not auf der ganzen Welt, von Bangladesch über Kenia bis Florida, wo die Menschen bereits akut unter den Folgen der Erderwärmung leiden. Konzerte von klassischen Reiseorchestern zu besuchen wird dann zum eigennützigen und unverantwortlichen Vergnügen, so wie SUV-Fahren in der Stadt, Wochenendflüge nach Barcelona (oder Raketenflüge in den Orbit mit SpaceX), das Investieren in nicht-nachhaltige Industrien oder der Kauf von nicht-fair gehandelter Kleidung und Fleisch aus Massentierhaltung: Ich zahle, also darf ich die Augen verschließen und genießen.

Wäre es nicht möglich, dass Orchester weniger ins Flugzeug steigen und trotzdem weiter musizieren? Nehmen wir als Beispiel Simon Rattle und das London Symphony Orchestra: Was wäre, wenn Rattle nochmal das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gebeten hätte, Adámeks Stück in Deutschland und der Schweiz zu spielen, anstelle des LSO? Was wäre, wenn die Europatourneen des LSO als Blöcke geplant würden mit kürzeren Etappen anstelle von vielen einzelnen Reisen (immer von London aus und wieder zurück)? Könnten renommierte Festivals und Konzerthäuser die außergewöhnlichen Ensembles und Orchester nicht über längere Zeiträume einladen, dafür aber nicht ganz so viele, so dass diese mehr Zeit in ausgefeiltere und originellere Programme stecken könnten – statt nur ein Konzert zu geben mit Werken, die viele andere auch immer wieder spielen? (Tanz- und Theatertruppen sind im Vergleich dazu tendenziell stärker darum bemüht, sich inhaltlich voneinander abzusetzen.) Könnten die Konzertveranstalter die Tourneen nicht so organisieren, dass jede neue Station weniger als, sagen wir, vier Stunden mit dem Zug von der vorherigen entfernt ist? (Das LSO teilte mir auf Anfrage mit, dass es eine Umweltaktionsgruppe gegründet hat, die sich mit dem Problem nachhaltiger Tourneen befasst, betonte aber gleichzeitig auch, dass »eine seiner Hauptaktivitäten darin besteht, Musik für ein internationales Publikum live zu spielen«).

Bei jeder Flugreise eines Orchesters sind mindestens 80 Musiker:innen und andere Mitarbeiter:innen an Bord. Reisen sie in der Economy Class, verursachen sie bei einem Flug innerhalb Europas etwa 20 Tonnen CO2 und andere hohe Treibhausgasemissionen, für einen Trip nach New York sind es 150 Tonnen CO2 und für eine Reise nach Los Angeles oder Tokio 230 Tonnen CO2. Schon 20 Tonnen CO2 sind mehr als das Dreifache des jährlichen Pro-Kopf-CO2-Ausstoßes in Italien, Großbritannien oder Frankreich und mehr als das Zehnfache des jährlichen Pro-Kopf-CO2-Ausstoßes in vielen Ländern Südamerikas und Südasiens.


Der letzte Bericht des Weltklimarates (IPCC) hat gerade wieder bestätigt, was wir alle schon lange wissen: Uns läuft die Zeit davon. Wenn wir es nicht schaffen, unsere Treibhausgas-Emissionen in diesem Jahrzehnt um 50 Prozent zu reduzieren, wird es unmöglich, die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreichen. Wir müssen jetzt handeln. Alle, überall, jeder an seinem Platz.

Das Thema Reisen ist für Berufsmusiker:innen sicherlich komplex: Einige Orchester verfügen über einen  einzigartigen, unverwechselbaren Klang, für den sie, wie auch für ihr Repertoire, weltweit geschätzt werden. Außerdem ist die Musikwelt sehr wettbewerbsorientiert und prekär. Internationales Renommee ist ein entscheidendes Kriterium für die Karrieren von Musiker:innen wie Klangkörpern. Und für die Konzerthäuser sind Gastspiele internationaler Stars ein wichtiger Gradmesser für ihr Prestige.

Dazu kommt, dass die Organisation von Festivals und Tourneen kompliziert und nur begrenzt flexibel ist: Die Zeitfenster für geplante Auftritte müssen in die Kalender sowohl der Gäste als auch der Gastgeber passen, Zugreisen sind für die Orchester oft zu langwierig und teuer. (Die Verantwortung für die im Vergleich zum Flugverkehr hohen Bahnpreise trägt dabei die Politik.) Außerdem sind oft zusätzliche Hotelaufenthalte und Arbeitstage erforderlich, wenn man mit dem Zug reist. (Vielleicht werden eines Tages Waggons entwickelt, die als Proberäume genutzt werden können.) Nicht zuletzt ist der Begriff der »Ernsten Musik«, der Ende des 18. Jahrhunderts entstand, eben durch diese Idee der Internationalität (Händel wurde z.B. von Italien bis England gespielt) im Gegensatz zur eher lokalen »Volksmusik« geprägt, und diese Idee wirkt bis heute in unserer klassischen, recht vergangenheitsorientierten westlichen Musikwelt nach.

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Die Lösung für dieses Problem wird nicht ein Klangkörper allein finden können, da Orchester und Ensembles, selbst die international anerkanntesten, in hartem Wettbewerb zueinander stehen. Sie riskieren hohe Verluste, wenn sie sich selbst strengere Tournee-Richtlinien auferlegen und internationale Reisen einschränken. Und dennoch müssen wir jetzt handeln:

Alle internationalen Festivalkurator:innen, Konzerthäuser und Orchester müssen zusammenarbeiten und einen Verhaltenskodex für Tourneen schaffen. (Es gibt viele Expert:innen, die dabei beratend zur Seite stehen könnten.) Es ist an der Zeit, dass die Veranstalter weniger internationale Orchester und Ensembles einladen, und wenn, dann für längere Zeiträume. Die Veranstaltungsorte müssen sich so vernetzen und abstimmen, dass es möglich wird, in vertretbaren Zeitabständen im Zug von einer Spielstätte zur nächsten zu reisen. Die Finanzierungs- und Programmpolitik sollte so angepasst werden, dass das Kriterium Nachhaltigkeit – sowohl mit Blick auf die Umwelt als auch auf den künstlerischen Inhalt – Vorrang vor Profit und Prestige hat. Und es ist allerhöchste Zeit, dass alle Beteiligten die CO2-Bilanz ihrer Aktivitäten transparent machen und dabei einer Logik der ethischen Bilanzierung folgen: Wir können unseren Erfolg nicht nur an dem messen, was wir leisten und produzieren, sondern auch an dem, was wir zerstören.

Als Künstler:innen nehmen wir für uns in Anspruch, über den kurzfristig denkenden Marktmechanismen zu stehen und zu einem allen Menschen gehörenden Kulturerbe beizutragen. Das wirkt angesichts der gleichzeitigen Zerstörung des natürlichen Erbes unseres Planeten und des Lebens künftiger Generationen wie reine Heuchelei.

Als Komponist habe ich beschlossen, meine beruflichen und privaten Reisen drastisch einzuschränken – auch wenn es meiner Karriere schadet und nicht unbedingt den Bedürfnissen von mir und meiner Familie entgegenkommt. In dem Zentrum für Gegenwartsmusik [ZfGM], das ich an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn BarthoIdy in Leipzig leite, habe ich mich gegenüber unseren Studierenden verpflichtet, keine Teilnehmenden mehr einzuladen, die extra für unsere Projekte eingeflogen werden müssten.

Denn es ist ein völliger und unerträglicher Widerspruch, diese Studierenden auf ihre Zukunft vorbereiten zu wollen und sie gleichzeitig aktiv zu zerstören – genau wie es ein Widerspruch ist, zu behaupten, Musikgeschichte weiterzuschreiben, aber zugleich das sichere Ende unseres Daseins auf diesem Planeten in Kauf zu nehmen. ¶