In der Anfangsszene von The Father begegnen wir Anthony (Anthony Hopkins) in seinem abgedunkelten Londoner Apartment, wo er über Kopfhörer eine Aufnahme von Henry Purcells Semi-Oper King Arthur (1691) hört. Kurz darauf kommt seine Tochter Anne (Olivia Colman) herein und die Musik verstummt, aber nicht bevor die ersten Zeilen von Purcells rätselhaften ›Cold Song‹ erklungen sind: ›What power art thou, who from below / Hast made me rise unwillingly and slow / From beds of everlasting snow?‹ Die Musik wird Vorbote der rasch fortschreitenden Demenzerkrankung, die sich bald wie ein kalter Nebel über Anthonys Leben und seine Ordnung der Dinge legt. In Florian Zellers Verfilmung seines eigenen Theaterstücks findet die Oper an prominenter Stelle Eingang in das Demenzdrama. Aber die Demenz findet umgekehrt selten Eingang in die Oper. Anders als in Film und Literatur, wo sie in den letzten Jahren fast zu einer Art Trendstoff geworden sind, gibt es kaum eine zeitgenössische Oper, die sich mit Demenz oder Alzheimer beschäftigt. So obliegt es der Musikvermittlung, ein Thema ins Opernhaus zu bringen, mit dem wohl die meisten während ihres Lebens in der ein oder anderen Form konfrontiert werden. Am letzten Samstag startete die Komische Oper Berlin das Musiktheaterprojekt ›resonare‹. In wöchentlichen Gruppenstunden sollen dort durch Singen, Musizieren und improvisatorische Spielszenen ›Lebensfreude und Erinnerungen bei demenziell Erkrankten wachgehalten werden‹, wie es im Projektflyer heißt. Für die Angehörigen besteht zudem die Möglichkeit, sich im Rahmen von moderierten Gesprächsrunden auszutauschen. Außerdem soll es gemeinsame Konzert- und Vorstellungsbesuche geben. Das Projekt wird gefördert von der Manfred Strohscheer Stiftung und wissenschaftlich begleitet durch die Gedächtnissprechstunde der Charité. Hartmut Welscher hat sich mit Anne-Kathrin Ostrop, die das Projekt und die Musiktheaterpädagogik an der Komischen Oper leitet, und Oliver Peters, dem Leiter der gerontopsychiatrischen Tagesklinik und Gedächtnissprechstunde der Charité, über die Wirksamkeit von Musik, den gesellschaftlichen Umgang mit demenziell Erkrankten und die Nöte der Angehörigen unterhalten.
VAN: Es gibt bei ›resonare‹ neben dem musikalischen Angebot auch eine Art Selbsthilfegruppe für Angehörige, die Mitarbeiter:innen der Charité moderieren. Warum?
Oliver Peters: Wir haben während des Pilotprojekts die Erfahrung gemacht, dass die Angehörigen von Menschen mit Demenzen einen sehr hohen Gesprächsbedarf haben. Es ist häufig so, dass sich Angehörige nicht wirklich gut austauschen können mit Gleichgesinnten. Es geht in dieser moderierten Selbsthilfegruppe darum, Unterstützung bei der Selbsthilfe zu leisten. Viele Angehörige profitieren davon, wenn sie sehen: Ich bin nicht alleine, es gibt auch andere Menschen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Und dann eben zu hören, was die anderen machen. Gleichzeitig gibt es auch immer wieder die Notwendigkeit, die Erfahrungen aus unserer Perspektive professionell einzuordnen und zu moderieren, um letztlich einen Mehrwert zu schaffen.
Laufen das Gesprächsangebot für die Angehörigen und das gemeinsame Singen parallel?
Anne-Kathrin Ostrop: Ja, aber die Angehörigen kommen dann auch durchaus zurück oder sind beim Singen dabei. Wir suchen die Musik des Lebens der Teilnehmer:innen und da brauchen wir häufig die Unterstützung der Angehörigen. Gleichzeitig wollen wir natürlich auch den Angehörigen helfen, Musik selber einzusetzen und mit Musik den Alltag zuhause zu gestalten, der ja ungeheuer anstrengend ist. Ein bestimmtes Lied sorgt vielleicht für viel Schwung, ein anderes kann in Unruhephasen etwas Ruhe bringen. Gleichzeitig wollen wir auch ein künstlerisches Angebot machen, laden zu Opernvorstellungen ein und bieten oben im Foyer Konzerte an, die wir ›Konzerte in sensibler Atmosphäre‹ genannt haben. Die sind so gestaltet, dass Menschen mit Demenz sie ganz gut aushalten können, weil es ruhiger zugeht, man auch auf Unterbrechungen eingestellt ist und die Lieder und Musiken in der Emotionalität aufeinander aufbauen, ohne dass es extreme musikalische Höhepunkte gibt. So wollen wir es den Angehörigen und Erkrankten ermöglichen, gemeinsam an kulturellen Angeboten teilzuhaben. Es ist auch für die Angehörigen unendlich wertvoll, wenn sie solche schönen Momente noch einmal miteinander erleben und nicht immer nur das, was alles nicht mehr geht.

Wie finden Sie diese ›Musik des Lebens‹?
Ostrop: Das ist ein Prozess. Wenn die Gruppe ins Projekt startet, habe ich die Musik noch nicht. Ich kann natürlich anhand der Geburtsdaten ahnen, welche Musik in der musikalisch prägenden Zeit gerade ›in‹ war. Dann kann ich gucken, wo jemand herkommt. Am Samstag haben wir zum Beispiel ›Junge, komm bald wieder‹ gesungen. Da wusste jeder sofort, dass der Sänger, der sich das Lied ausgesucht hatte, aus Hamburg oder Umgebung kommt. Das sind erste Hinweise. Dann arbeiten wir uns weiter vor. Oder die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fangen selber an, etwas zu singen. Bei einem Lied haben wir bis heute nicht herausgefunden, welches das sein soll, irgendein Annemarie-Lied. Ich kenne jetzt schon ganz viele, aber es war nie das richtige dabei. Vielleicht gibt’s das auch nur im Kopf dieses Menschen. So nähern wir uns an. Deswegen habe ich mir den Begriff resonare ausgedacht: Es ist ein Hineinrufen in jede Himmelsrichtung und ein Schauen, was zurückkommt.
Gibt es Themen, die besonders geeignet sind, Erinnerungen wachzurufen?
Ostrop: Beziehungslieder, in denen es um glückliche oder auch unglückliche Beziehungen geht, spielen eine ganz große Rolle. Im Pilotprojekt haben wir zum Beispiel aus Don Giovanni ›Reich mir die Hand, mein Leben‹ gesungen, und dann gab es ganz viele Geschichten, die erzählt wurden und Erinnerungsfetzen, in denen es um Beziehung ging. Da haben wir es auch ein bisschen geschafft, theatral damit umzugehen: Die Demenzkranken haben etwas miteinander Theater gespielt, sich mit Handkuss begrüßt. Da kommen auch andere Gedanken, wenn dann plötzlich jemand erzählt, wo er seine Frau kennengelernt hat … Es kommen immer mehr Spuren, auf die wir versuchen, musikalisch zu reagieren.

Es gab in den letzten Jahren relativ viele filmische Demenzdramen, Florian Zellers The Father, Still Alice mit Julianne Moore, Die Auslöschung mit Martina Gedeck und Klaus Maria Brandauer, es gibt auch viel literarische Beschäftigung mit dem Thema, Arno Geigers Der alte König in seinem Exil, Jonathan Franzens Essay Das Gehirn meines Vaters oder Katharina Hackers Roman Die Erdbeeren meiner Mutter, aber kaum zeitgenössische Oper oder Musiktheater, die sich dem Thema widmen, oder?
Ostrop: Das stimmt, für eine Oper über das Vergessen kenne ich auch kein Beispiel. Aber mir ist klar geworden, wieviel in Liedern und auch in Opern über ›das Denken‹ gesprochen wird: An wen denke ich, an was erinnere ich mich, was habe ich in meinem Herzen aufbewahrt? Das ist ein unendlich großes Thema.
Zum Beispiel?
Ostrop: ›Du, du liegst mir im Herzen‹, ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹, ›Wenn ich ein Vöglein wär‹, ›Winde wehn, Schiffe gehn‹, ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹, ›Memory‹ aus Cats, ›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹ aus der Zauberflöte oder auch ›Die Gedanken sind frei‹, was immer unser Abschlusslied der resonare-Singgruppen ist. Denn es ist ein tröstliches und respektvolles Lied, das die Schwierigkeit aber auch die Schönheit von der Freiheit der Gedanken beschreibt.
Sie arbeiten das erste Mal mit Menschen mit einer Demenzerkrankung. Wie sind Sie als Musikvermittlerin an das Thema rangegangen?
Ostrop: Ich habe neben Musik- und Theaterpädagogik auch ein wenig Musiktherapie studiert, so dass mir die Grundsätze der Arbeit vertraut sind. In der Komischen Oper Berlin richtet sich die musikvermittelnde Arbeit ja schon lange nicht mehr nur an Kinder und Jugendliche. Wir haben generationenübergreifende und inklusive Projekte, so dass wir sehr viel Erfahrung darin haben, uns auf die Bedürfnisse des Gegenübers musikvermittelnd einzustellen. Für mich bekommt durch unser resonare Projekt die Arbeit mit Kindern und Jugendliche nochmal eine viel größere Bedeutung, weil die Menschen im Alter auf ihre musikalischen Erfahrungsschätze, die sie in der Kindheit gesammelt haben, zurückgreifen. Vielleicht werden sich ja die Kinder von heute in 80 oder 90 Jahren an die Melodien und Gefühle erinnern, die sie in Projekten von Komische Oper Jung gelernt und gesammelt haben.
Peters: Bei Kranken kommt es immer wieder zu Situationen, in denen sie den Moment nicht mehr richtig einordnen können, sie möglicherweise die Angehörigen vermissen. Früher sprach man von Weglauftendenzen, heute spricht man von Hinlauftendenzen. Man meint damit genau das gleiche, nämlich die Fehleinordnung der Situation, die dann Angst macht. Die Mitarbeiter der Komischen Oper sind natürlich nicht im gleichen Maße geschult im Umgang mit Menschen mit Demenz und brauchen deswegen manchmal einen Hinweis, wie man eine Situation lösen kann.
Sie wollen das Projekt mit der Charité wissenschaftlich begleiten und dabei messen, welche Veränderungen es bewirkt. Es gibt seit einigen Jahren künstlerische Projekte mit Menschen mit Demenz. Liegen auch schon Auswertungen zu deren Wirkung vor?
Peters: Es gibt sehr wenige Studien, gerade für so ein Versorgungsangebot. Versorgungsforschung ist allgemein etwas, um das sich nicht so viele kümmern. Natürlich hört man häufig: ›Ja, das war ganz nett und wir haben uns da wohl gefühlt‹, aber als Mediziner und Wissenschaftler haben wir den Anspruch – auch wenn wir wissen, dass es nicht einfach ist – nach Möglichkeit mit Hilfe etablierter Messinstrumente anschließend sagen zu können: Jawohl, man kann sehen, dass sich etwas verändert hat und das Ausmaß der Veränderungen auch messen. Wir wollen natürlich ein Stück weit dazu beitragen, dass das Ganze als wirksame Intervention anerkannt wird, gerade auch als präventive Maßnahme für Angehörige, um spätere Erkrankungen zu vermeiden.
Mehr Publikationen, auch aus jüngerer Zeit, gibt es über die Wirkung von Musik auf Demenzkranke. Da finden sich etliche Hinweise darauf, dass sie eine positive, stimulierende Wirkung hat, die kognitive Fähigkeiten verbessern kann, aber vor allem auch das Befinden, die Affektivität, Depressionen lindern kann.

Weil das Gehirnareal, in dem das Musikgedächtnis sitzt, nicht so stark von der Erkrankung betroffen ist und deshalb musikalische Erinnerungen erhalten bleiben?
Peters: Das ist das Eine, ich sehe aber noch einen anderen Effekt im Vordergrund. Man muss sich ja vorstellen, dass viele Menschen mit Demenz ein permanentes Insuffizienzerleben haben. Sie bekommen permanent gesagt, was sie nicht können, was alles wieder falsch gewesen ist, wo sie überall Hilfe brauchen, und gerade die Musik ist dann ein Bereich, in dem sie sich als Teil eines Ganzen erleben können, wo das Insuffizienzerleben keine Rolle spielt, und ich glaube gerade das schafft die Entlastung, nimmt die Ängste, und führt zu einem verbesserten Selbstwert, zu einer Reduktion der Anhedonie. Das halte ich eigentlich für den interessantesten Teil.
Demenz ist eine Erkrankung, die unser spätmodernes Menschenbild, das ganz auf kognitive Leistungen, Autonomie, Selbstoptimierung, Effizienz ausgelegt ist, sehr stark herausfordert und irritiert. Sie beschäftigen sich seit 20 Jahren mit dem Thema Demenz. Gibt es eine Entwicklung, was den gesellschaftlichen Umgang mit der Erkrankung angeht?
Peters: Die Demenzerkrankung als solche ist nicht mehr in dem Maße stigmatisiert, wie es früher der Fall war. Zum Beispiel ist es inzwischen wirklich nicht mehr schwer, Menschen zu gewinnen, die auch in den Medien offen darüber sprechen. Dazu haben meiner Meinung auch ganz wesentlich berühmte Persönlichkeiten beigetragen. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist Rudi Assauer gewesen, auch seine Tochter, die daraus keinen Hehl gemacht haben. Wir wissen alle, dass Gerd Müller eine Demenzerkrankung gehabt hat. Das ist jetzt zu seinem Tod nicht mehr thematisiert worden, zumindest nicht für mich erkennbar, aber es hätte durchaus nicht geschadet, das nochmal zu sagen. Auch im amerikanischen Fernsehen gab es etliche, die darüber gesprochen haben: Jeder weiß, dass Ronald Reagan Alzheimer hatte. Man hat gelernt, dass man auch mit Demenz noch viele Jahre mit einer guten Lebensqualität leben kann. Natürlich brauchen wir es nicht übermäßig zu beschönigen, natürlich ist es eine chronisch fortschreitende Erkrankung, und die führt irgendwann dann auch zu immer weiter zunehmenden Problemen, aber die Integration von Menschen mit Demenz in die Gesellschaft hat sukzessive zugenommen. Da kann man sich noch mehr wünschen, es ist sicherlich noch nicht jeder bereit, sich dazu offen zu äußern, aber die Tendenz ist absolut positiv.
Ostrop: Wir hoffen natürlich, wenn wir hier diese Veranstaltung machen, dass auch unser Publikum mitbekommt, dass Menschen mit Demenz im Haus anwesend sind und dass es einfach normal ist, verschieden zu sein. Ich glaube, die Demenzerkrankung als solche wird weniger diskriminiert, aber die Leistung der Angehörigen wird nicht genügend honoriert im Lebensalltag. Gerade rufen auch viele Heime an und fragen: Könnt ihr nicht zu uns kommen und mit unseren Erkrankten das hier machen? Das stimmt, das wäre auch gut, aber ich möchte unbedingt, dass wir es mit den Angehörigen zusammen machen, um denen eine Möglichkeit zu geben, ein Konzert zu hören, dabei zu sein.
Peters: Nur ein Drittel der Demenzerkrankungen wird institutionell gepflegt, zwei Drittel innerhalb der Familie. Wir erleben oft, dass viele ihre Angehörigen pflegen, bis sie selbst nicht mehr können. Es ist ganz häufig so, dass man sich verpflichtet fühlt, bis zu einem Punkt, an dem man feststellt: Ich kann gar nicht mehr. Da hat natürlich die Pandemiesituation eine verheerende Wirkung gehabt, weil die Tagesstätten, die extrem wichtig sind in diesem Kontext, schließen mussten. Sie machen jetzt in Teilen wieder auf, beginnen eine gewissen Entlastung zu schaffen, aber das ist immer noch zu wenig. Es ist immer noch relativ schwierig für Pflegende etwas zu finden, was passend und wohnortnah ist, wo der- oder diejenige gut aufgehoben ist. Die Forderung nach einer besseren Versorgungsstruktur geht dann natürlich auf in einer weitergehenden Wertschätzung der Pflegeberufe allgemein.

Gibt es etwas, was Sie sich im Umgang mit der Erkrankung wünschen würden?
Peters: Eine differenzierte Betrachtung wäre schön. Demenz ist nicht gleich Demenz. Es gibt viele Menschen mit leichten dementiellen Syndromen, denen man ihre Defizite gar nicht anmerkt und die mit ihren Fähigkeiten alles tun können, was zum gemeinschaftlichen Leben dazugehört. Kaum einer kennt den Unterschied zwischen Demenz und Alzheimer, da ist noch ganz viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Und dann würde ich mir als Mediziner natürlich wünschen, dass auch die Präventionsmöglichkeiten erkannt werden. Wir haben ja inzwischen ganz viel herausgefunden über die Ursachen und das Voranschreiten der Erkrankung.
Was war bisher Ihre eindrücklichste Erfahrung im Projekt?
Ostrop: Im ersten Projektdurchlauf haben wir Walzer getanzt, und ein Projektteilnehmer war die ganze Zeit sehr verschlossen, hat sich sprachlich nicht mehr beteiligt. Ich konnte auch sehr wenig in seinem Gesicht ablesen. Als ich dann mit ihm Walzer getanzt habe, merkte ich sofort, dass er das richtig gut kann, und richtig musikalisch an den richtigen Stellen geschwungen hat. Und während wir tanzten, fing er auf einmal an, mit mir zu sprechen. Da war ich wie vom Donner gerührt. Wir haben miteinander übers Tanzen geredet, das war ganz adäquat in dem Moment. Danach haben wir mit seiner Frau gesprochen, die Tränen in den Augen hatte und sagte, wie schön, dass wir das erlebt hätten, aber sie hätte ein Problem, sie könne nicht Walzer tanzen, aber würde auch so gerne nochmal mit ihrem Mann reden. Dann haben wir ihr den Walzergrundschritt beigebracht. ¶