Irgendwann Ende 1981, Anfang 1982 musste der Komponist und Gesangskünstler Julius Eastman aus seiner Wohnung in New York City ausziehen. Die Behördenmitarbeiter stellten seine Sachen – mitsamt all seiner Partituren – auf den Bordstein. Eastman lief weg, ließ alles zurück. Es folgten Jahre inner- und außerhalb von Obdachlosenunterkünften, er schnorrte Geld von Freunden. Im Mai 1990 starb er in einem Krankenhaus in Buffalo. Der erste Nachruf (Kyle Gann in der Village Voice) erschien neun Monate später.

Heute gibt es neues Interesse an Eastman und seiner Arbeit. Die Komponistin und Schriftstellerin Mary Jane Leach, die schon 2005 den Eastman-Sampler Unjust Malaise produzierte, hat nun mit Renée Levine Parker das Buch Gay Guerilla: Julius Eastman and His Music herausgegeben. Außerdem hat Leach Kompositionen von Eastman gesammelt und archiviert, unter anderem auch auf ihrer Webseite. Mitte September erschien beim Label Frozen Reeds eine Live-Aufzeichnung von Femenine, einem Werk von 1974. Der Schlagwerker Jan Williams, Mitglied bei den Creative Associates und dem S.E.M. Ensemble, hat in den 1970ern ausgiebig mit Eastman zusammengearbeitet und sagt, das Wiederaufleben des Interesses sei »überfällig. Er war ein begabter Komponist mit einer komplizierten Persönlichkeit. Es ist traurig, dass nicht mehr von seinen Werken übrig geblieben sind.«

Quelle des Fotos unbekannt
Quelle des Fotos unbekannt

Die Veröffentlichung von Femenine ist ein bislang verlorenes Bindeglied innerhalb von Eastmans Œuvre, nämlich der Wendepunkt zwischen früheren Kompositionen (Thruway, 1970; Stay On It, 1973) und der »Nigger«-Serie (1978-79). Letztere ist mit anderen Stücken ein gutes Beispiel des bei Eastman manchmal auftauchenden provozierenden Humors. Nigger Faggot, Crazy Nigger und If You’re So Smart, Why Aren’t You Rich? – so provozierte Eastman sein Publikum schon bevor das Konzert überhaupt begann. Die Bowerbird Konzertreihe in Philadelphia zensierte im letzten Jahr die eigenen Plakate, um keinen öffentlichen Aufschrei auszulösen, obwohl das natürlich an sich auch ein außerordentlich guter Marketing-Schachzug war. Für Eastman war Femenine der Anfang vom Ende seiner Karriere in Upstate New York. 1976 zog er nach New York City, wo er noch ein paar Jahre weiterarbeitete, unter anderem auch mit Meredith Monk, Arthur Russell und den New York Philharmonikern unter Boulez.

Die Femenine-Partitur ist kaum mehr als eine Skizze von spärlichen viereinhalb Seite für 72 Minuten Musik. Es gibt Hinweise auf Zeitabschnitte, ein paar notierte Variationen des Themas und manch geschriebene Anweisung, zum Beipiel das Wort »displace« (dt. zum Beispiel »versetzen«, «verschieben«) mit einem Pfeil oder »zurückgehen und halten«. Für ein so fesselndes und überzeugendes Stück scheint das fast zu wenig zu sein.

Es beginnt mit ein paar Minuten eines Taktes, in diesem Fall ein automatisiertes Tamburin, während die Band sich aufwärmt. Danach wird das Thema präsentiert, es könnte kaum einfacher sein: 12 wiederholte Sechzehntel, dann eine Achtel, eine Viertel, Achtel, Viertel, eine an eine punktierte Ganze gebundene Achtelnote. Das ist gerade genug Synkopierung, damit das Stück im mühelosen deep pocket groove erklingt, einem Groove, für den es in der klassischen Musik von 1974 nichts vergleichbares gab. Wie viele von Eastmans Stücken gibt Femenine keine feste Besetzung vor. Der durchgehende Puls ist ähnlich wie der in Steve Reichs Music for 18 Musicians, dessen Premiere zwei Jahre später war. Mary Jane Leach schrieb mir in einer E-Mail, dass »Reichs und Julius’ Stück vergleichbar sind wie Byzantinischer und Gregorianischer Gesang – einer ist ziemlich starr, der andere ist lockerer … atmend – im Gegensatz zu rigide. Es gibt da dieses Flüssige, einen Jazz, einen Swing, der bei Reich fehlt.«

Auszug aus Femenine, gespielt vom S.E.M. Emseble und dem Komponisten am Klavier im Jahr 1974. Foto von Andrew Roth.

Die Musiker/innen dieser Aufnahme sind fast unbekannt. Die November-Nacht im Jahr 1974 scheint von denen, die – wahrscheinlich – da waren fast vergessen. Das Konzert gehörte zur Reihe, die das S.E.M. Ensemble beim Composer’s Forum in Albany, New York spielte, auf dem Campus der Academy of the Holy Names. Eastman hat Klavier gespielt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit spielte Petr Kotik Flöte und Jan Williams Perkussion. Es gibt ein paar Streichinstrumente, Holzbläser und einen Synthesizer, der das Ensemble abrundet, möglicherweise haben Student/innen von der University of Buffalo mitgespielt.

Femenine ist eines der letzten Stücke von Eastman, in denen es noch einen großen improvisatorischen Anteil gibt. Leach betont, dass Femenine »mehr einen organischen Puls hat. Kein festes Metrum, aber auch nicht nur zufällige Schläge. Man hat das Gefühl von einem Downbeat, der in den späteren Stücken nicht mehr so stark auftaucht.« Die Musik wurde am 6. November 1974 von Steve Cellum aufgenommen und tauchte irgendwann in den Archiven vom Komponisten Phill Niblock auf. Zu der Zeit machten Cellum und Niblock zusammen Radiosendungen, auch wenn es unklar ist, ob das Konzert je ausgestrahlt wurde. Die Bänder wurden von Garry Rindfuss übertragen und von Denis Blackham gesäubert und gemastert.

Foto Unbekannt
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Es gibt in der Originalaufnahme jener Nacht noch ein weiteres, sehr viel kürzeres Stück, das nicht auf der aktuellen Veröffentlichung ist, Joy Boy für vier Sopran-Instrumente. Auch das hatte an diesem Abend Weltpremiere, eine einseitige Partitur ist erhalten. Außerdem führt Leach auf ihrem Werkverzeichnis noch ein Komplementär zu Femenine auf, mit dem Titel »Masculine«. Allerdings erinnern sich weder Kotik noch Williams an diese Komposition.

Wenn man mit Leuten spricht, die Eastman gekannt und mit ihm gearbeitet haben, dann wird klar, dass das Interesse an seiner Wiederentdeckung auch ein persönliches und nicht nur ein musikalisch-musikwissenschaftliches ist. Jan Williams schrieb mir in einer E-Mail:

Ich traf Julius, als er beim Evenings for New Music-Konzert spielte, am 15. Dezember 1968. Er stieß dann zu den Creative Associates. Es war offensichtlich, dass er ein sehr spezieller Musiker war, talentiert als Pianist, Sänger und Komponist. Es war leicht, mit ihm zu arbeiten, zumindest für mich – ich weiß nicht, wie es bei den anderen Creative Associates war, seine Musik beinhaltete aufgrund der Form, der Notation und anderer Sachen auch immer Herausforderungen. Für mich als Perkussionist war es immer ein großer Spaß, Julius’ Sachen zusammenzubauen und aufzuführen. Ich hatte immer eine Menge Respekt für seine Musikalität bei den Konzerten und seine kompositorische Kreativität. Habe ich immer noch.«

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JULIUS EASTMAN, STAY ON IT; GEORGIA MITOFF (STIMME), PETR KOTIK (PIANO), BENJAMIN HUDSON (VIOLINE), AMROM CHODOS (KLARINETTE), JOSEPH FORD UND DOUG GASTON (SAXOFON), DENNIS KAHLE AND JAN WILLIAMS (PERCUSSION). FOTO IM VIDEO VON DONALD W. BURKHARDT

Petr Kotik, Gründer des S.E.M. Ensemble: »Ich habe Julius Eastman das erste Mal an der Musikfaktultät auf dem Flur gesehen, er sah sehr interessant aus, trug einen langen Trench Coat, der für seine Verhältnisse etwas groß geraten war. Er sah intelligent aus, seine Persönlichkeit stach immer heraus. Er komponierten, ich komponierte, wir spielten gegenseitig unsere Musik … wir waren wie Geschwister.« Zusammen mit Talent und Charme, hatte Eastman auch einen Hang zur Provokation, der ihm oft Schwierigkeiten bereitete. 1975 beim ersten June in Buffalo-Festival gab er seine vielleicht berüchtigste Vorstellung. Zusammen mit Kotik, Williams und der Sängerin Judith Martin führte das S.E.M.-Ensemble John Cages Song Books auf. Sie wählten die vierte Option der Partitur »Theater mit Elektronik«. Eastman verstärkte seine Stimme und trat als »Professor Padu« auf. Er bezog einen männlichen und eine weibliche Assistentin ein, fing dann an, beide auszuziehen und einen Vortrag über ein »neues System der Liebe« zu halten, in dem er die Körper der beiden in unverhohlen sexuellen Begriffen beschrieb. Die offene Homosexualität erregte Cages Wut, der sagte: »Inzwischen, nach der Vorstellung des S.E.M. Ensembles von Song Books, bereue ich, dass ich es komponiert habe.«

Cage war auch zornig auf Kotik, der gemäß Cages Anweisungen, das Werk nie geprobt hatte, auch wenn S.E.M. es – auch mit Eastman – mehrfach aufgeführt hatte, mindestens eine der Aufführungen bezeichnete Cage als »beautiful«. Es ist nicht klar, ob Eastman, selbst offen schwul, bewusst versuchte, Cage aus seinem Zen-Käfig zu zerren, oder ob er einfach nur er selbst war.

Im Jahr darauf zog Eastman von Buffalo, wo er an der State University von New York gelehrt hatte, nach New York City. Er erklärte nie, warum er seinen Vertrag nicht verlängerte, aber es wird wohl eine Mischung aus seinem »unothodoxen« Lehrstil, seiner Geringschätzung für die Uni-Bürokratie oder, was Kotik ins Spiel bringt, der einfachen Tatsache, dass er öfter einfach nicht zu den Seminaren auftauchte, liegen. In den späten 1970ern fing sein langer Kampf mit Alkohol und anderen Drogen an, wahrscheinlich war Crack mit dabei.

Obwohl es in den späten 1970ern und frühen 1980ern noch Aufführungen seiner Werke gab, obwohl er an Aufführungen beteiligt war – darunter eine desaströse Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium unter der Leitung von Karel Husa, wo Eastman ausschweifend improvisierte, anstatt die Bass-Noten zu singen – nahmen Eastmans Fähigkeiten durch seinen Drogenkonsum ab, was schließlich zur Zwangsräumung führte und den jahrelangen Zug durch die Obdachlosenheime. Aus einer Jobmöglichkeit an der Cornell Universität wurde nie etwas. Kotik meint, »wer hätte ihm eine Anstellung gebene wollen?«, nachdem seine vorherige in Buffalo so geendet war.

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Auszug aus Julius Eastmans EVIL NIGGER • Foto im Video unbekannt

In den späten 1980ern scheint Eastman endgültig am Boden angelangt gewesen zu sein. Er verdarb es sich mit alten Freunden, die er oft um Geld angehauen hatte. Karl Singeltary sah ihn im Jahr 1990, während Eastman in einem Heim in Buffalo war. »Er sah mickrig und ungesund aus. Mir wurden seine finanziellen Problemen klar. Ich hatte nicht viel Geld dabei, aber gab ihm etwas – er sagte, er wäre in einer Unterkunft in der Nähe der Riley Street untergebracht … eine Woche später kam der Anruf vom Krankenhaus; er war tot.«

Die Wertschätzung für Eastman und seine Arbeit wächst. Die Welt beginnt seine kleine, aber wichtige Rolle in der Experimental- und klassischen Musikszene New Yorks in den 1970ern und 1980ern zu verstehen. Es gibt mehr Aufführungen seiner Werke. Vor fünf Jahren wurde das Ecstatic Music Festival mit Stay On It eröffnet, gespielt von dem Ensmeble ne(x)tworks, auch thingNY haben das Stück kürzlich aufgeführt. Jace Clayten, die als ›DJ /rupture‹ bekannt ist, veröffentlichte 2013 ein Album mit dem Titel »The Julian Eastman Memory Depot«, auf dem Kollaborationen von ihr und den Pianisten David Friend und Emily Manzo zu hören sind, an Stücken wie Evil Nigger und Gay Guerrilla. Das American Contemporary Music Ensemble spielte The Holy Presence of Joan d’Arc für 10 Celli aus einer neuen Transkription von Clarice Jensen. (Das sind nur ein paar der Aufführungen der letzten 10 Jahre.)

JULIUS EASTMAN UND R. NEMO HILL • Foto UNBEKANNT
JULIUS EASTMAN UND R. NEMO HILL • Foto UNBEKANNT

Die Kunstmusikwelt von 2016 ist eine andere als 1970. Man hat erkannt, dass es wichtig ist, Werke von Komponist/innen zu programmieren, die nicht dem männlich-weißen, heterosexuellen Stereotyp entsprechen. Estman, ein proud gay black man, wich weit vom typischen Komponistenprofil ab und hat sich trotzdem seiner Arbeit ganz hingegeben. In einem Vortrag sprach die afro-amerikanische Künstlerin Xenobia Bailey davon, wie wichtig es sei »in einem Albtraum träumen zu können«. Am Ende seines Lebens hat Eastman möglicherweise in seinem – weitgehend selbst geschaffenen – Albtraum gelebt; aber wir haben jetzt wenigstens einen Teilmitschnitt seiner Träume. ¶