Gestern vor genau 130 Jahren wurde Germaine Tailleferre geboren, am 19. April 1892 in Saint-Maur-des-Fossés, etwa 20 Kilometer südöstlich von Paris. Sie war das jüngste von fünf Kindern einer aus der Normandie stammenden – und bald in Paris wohnenden – kleinbürgerlichen Familie. Wie Autorin Ursula Anders-Malvetti beschreibt, entdeckte der Zeichenlehrer der Schwester Germaines musikalische Talent. Angeblich habe sie auch bereits als Kleinkind am Klavier hervorragend improvisiert. Germaines Mutter setzte sich schließlich für regelmäßigen Klavierunterricht ein. Außerdem begann Germaine, deren erster Lieblingskomponist Mozart war, »[…] 1904 gegen den Widerstand ihres Vaters heimlich am Pariser Konservatorium zu studieren. Erst als ihr Name in der Zeitung stand, war ihr Vater überzeugt, und sie konnte ihre Studien mit seinem Einverständnis fortsetzen.« (Fakten aus einer Zeit, in der es im Fortkommen weiblicher künstlerischer Talente stets noch auf die Bestätigung und Genehmigung männlicher Autoritäten ankam.) Germaines Mutter Marie-Désirée war gar – laut Andres-Malvetti – noch zu der Hochzeit mit Vater Arthur, einem Weinhändler, gezwungen worden. (Eigentlich hieß die Familie »Taillefesse«, doch Germaine änderte später ihren Namen, um ein Zeichen gegen ihren trunksüchtigen und gewalttätigen Vater zu setzen, der sich einer finanziellen Unterstützung ihrer Ausbildung komplett widersetzte.)
Das Klaviertalent von Germaine Tailleferre muss beeindruckend gewesen sein. Allein dafür erhielt sie während des Studiums mehrere Auszeichnungen. Preise für die Leistungen in noch ganz anderen Fächern, so in Harmonielehre und Kontrapunkt, kamen hinzu. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren die ersten größeren kompositorischen Arbeiten Tailleferres entstanden. Mit Darius Milhaud (1892–1974) und Arthur Honegger (1892–1955) zusammen war Tailleferre zudem Bestandteil der Orgelklasse von Charles-Marie Widor (1844–1937). 1920 wurde sie das einzige weibliche Mitglied der sich gründenden »Groupe des Six«, bestehend aus Georges Auric (1899–1983), Louis Durey (1888–1979), Honegger, Milhaud, Francis Poulenc (1899–1963) – und eben: Tailleferre. Die Gruppe machte vor allem Politik gegen das Pathos und die »tiefgründige« Deutschtümelei Wagners und richtete sich an der heiteren, spielerischen Klassik – etwa Haydn und Mozart – aus. Als »Manifest« veröffentlichte die Gruppe ein Album von Klavierstücken sowie 1921 gar eine gemeinsame Ballettmusik: Les Mariés de la Tour Eiffel. Doch der Zusammenhalt der »Groupe des Six« währte nicht lang. Schon Durey hatte zu dem Bühnenwerk, das tatsächlich auf einer Plattform des Eiffelturms spielt, keinen Teil mehr beigesteuert. Die historische »Groupe des Six« ist und war – noch vor dem »Mächtigen Häuflein« Russlands – das mit Abstand bekannteste Kollektiv von Komponist:innen überhaupt. Die Schwierigkeiten kollaborativer Projekte im Zeichen der Musik setzen sich bis in unsere heutige Zeit fort, ganz im Gegensatz zur Bildenden oder sprachperformativen Kunst.
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Immer wieder beschäftigte sich Tailleferre eingehend mit Literatur, etwa der von Paul Claudel (1868–1955) oder Paul Valéry (1871–1945). Komponist Darius Milhaud wurde in diesen Jahren zu einem ihrer engsten Freunde und brachte Tailleferre mit der Musik von Strawinsky und Schönberg in Kontakt. Zugleich trieb Tailleferres Liebe zur Malerei derart große Blüten, dass sie wohl manches Mal mit einem Berufswechsel (von der Komponistin und Pianistin hin zur Malerin) liebäugelte. Tailleferre wohnte im Künstler:innenviertel Montparnasse, wo sie zu vielen Maler:innen freundschaftlichen Kontakt pflegte. Doch all die Bekanntschaften und Netzwerke verhinderten nicht, dass sich Tailleferre, um ihr Leben zu finanzieren, beispielsweise dem Restaurieren von Möbeln widmen musste.
Auch Pablo Picasso wurde zu einem guten Freund, der sie häufig in ihrer Wohnung in Paris besuchte. Picasso ermutigte Tailleferre, ihre umfassenden künstlerischen Talente weiter zu nutzen. Während einer USA-Reise schließlich lernte sie den Karikaturisten Ralph Barton kennen, den Tailleferre 1926 (nach sehr kurzer Beziehung) heiratete. 1926 folgte auch eine Begegnung mit Charlie Chaplin, der sich von Tailleferres Musik begeistert zeigte. Doch das Angebot Chaplins, die Musik zu einem seiner neuesten Filme zu schreiben, musste Tailleferre ausschlagen, da ihr Ehemann dagegen war. Anders-Malvetti bemerkt: »Die Ehe mit Barton erwies sich bald als ein Desaster. Als er erfuhr, dass Germaine schwanger war, bedrohte er sie sogar mit einem Revolver. 1930 wurde die Ehe schließlich geschieden, und im darauffolgenden Jahr (am 20.5.1931) beging Ralph Barton Selbstmord.«
Von dem Anwalt Jean Lageat bekam Tailleferre schließlich ein außereheliches Kind. 1932 folgte die heimliche Heirat in London. Doch Lageat erkrankte an Tuberkulose. Tailleferre musste viele Kompositionsaufträge annehmen, um sich selbst und ihren kranken Mann zu versorgen. Die Künstlerin verbrachte die Jahre 1942 bis 1946 im amerikanischen Exil und hielt sich dort mit weiteren Auftragskompositionen finanziell über Wasser. Ihre Werke wurden von Kompositionskolleg:innen und Journalist:innen quasi durchgehend gelobt. Aber die prekäre Lebenssituation blieb.
1970 wurde Tailleferre Lehrerin für Korrepetition an der Schola Cantorum in Paris, konnte aber keinen größeren Kreis von Schülerinnen und Schülern an sich binden. Noch mit 84 Jahren (1976) nahm sie eine Musikschulstelle an. Erst spät erhielt Tailleferre die wichtigsten Ehrungen überhaupt in Frankreich – und komponierte fleißig weiter bis zu ihrem Tod. Germaine Tailleferre starb am 7. November 1983 an den Folgen einer Oberschenkelhalsbruch-Operation mit 91 Jahren in Paris.
Germaine Tailleferre (1892–1983)
Sonate für Violine und Klavier No. 1 (1921)
Germaine Tailleferre komponierte zahlreiche Klavierwerke, Kammermusik für Klavier und Soloinstrumente, Ensemblestücke, Solo-Konzerte, Orchestermusik, Chorwerke, einige Lieder sowie erstaunlich viele Bühnenwerke, die größtenteils unveröffentlicht sind. Hinzu kommen ungefähr 50 Arbeiten für das Kino. Ein wirklich erstaunlich breitgefächerter Werkkatalog.
In ihrem 29. Lebensjahr schuf Tailleferre ihre Sonate für Violine und Klavier No. 1. Der erste Satz (Modéré sans lenteur) bringt erst ganz gleichmütige, diatonische – aber frei innerhalb von gedachten E-Dur- und cis-Moll-Kadenzen schwingende – Akkorde im Klavier zu Gehör. Von Anfang an ist die Violine dabei. Schön interesselos bietet sie ein weniger memorierbares denn klassizistisch angehaucht dahinschwirrendes Motiv-Reservoire an. Abrupt wird das ach so »spröde« Harmoniegefüge gesprengt, bitter verzerrt. Es mehren sich die Staccato-Beigaben im Klavier. Perlende Läufe in überraschenden Tonarten kullern herunter. Jazz, Debussy, Neoklassizismus – und der (nun wahrlich an deutsch-pathetischen Ambitionen in Sachen »durchführungsartiger Entwicklung« nicht interessierte) Monsieur Satie schauen unter dem (zerknitterten) Zylinder hervor.
In den Ecken, wo Tailleferre immer wieder als »einzige Frau in der Groupe des Six« hervorgehoben wird, müsste sich endlich einmal mehr tun, um die vielen Werke der Komponistin live in Konzerten und Opernaufführungen sowie mittels interpretatorisch attraktiver Studioaufnahmen breitgefächert unters Musikvölkchen zu bringen. ¶