Dass Sprache Tor und Schlüssel zur Welt ist, gilt als Plattitüde. Was aber, wenn die eigene Sprache eine Welt aufschließt, in der man sich nicht Zuhause fühlt? In der Musik ist Lena Neudauer eine der sprechendsten Geigerinnen ihrer Generation. Ihre Interpretationen verweigern konsequent alles Plakative. Statt grob die Oberfläche zu feudeln, sucht sie ihren Ausdruck in klanglicher Vielfalt und stilistischer Differenzierung. »Ich spiele, weil es die einzige Sprache ist, mit der ich mich ausdrücken kann und will«, erzählt sie mir, als wir uns am Rande eines Konzerts mit der Jenaer Philharmonie in einer örtlichen Hotellobby treffen. Trotzdem ist ihr die Welt, die ihre Sprache umgibt, immer ein bisschen fremd geblieben.
VAN: Die Biographien klassischer Musiker:innen beginnen oft mit dem Satz an: ›Xy fing schon mit … Jahren an‹, meist steht dann da eine einstellige Zahl, bei Ihnen die 3. Warum ist das eigentlich so wichtig, wann jemand anfängt?
Lena Neudauer: Das ist das alte Wunderkind-Zeug.
Sie sind mit zehn Jahren in einer französischen Konzertreihe namens ›Europäische Wunderkinder‹ aufgetreten. Wie haben Sie selbst darüber damals gedacht?
Ich dachte: Ich muss Wunderkind sein, sonst genüge ich der Gesellschaft nicht. Ich muss die Erwartungen übertreffen, sonst reicht es einfach nicht. Das habe ich von Zuhause so eingeimpft bekommen und das wurde von außen verstärkt. Es gab in meiner Kindheit einige andere Geigerinnen in meinem engeren Umfeld, die später eine Solistinnen-Karriere gemacht haben. Mit Julia Fischer bin ich groß geworden, die kannte ich schon mit drei Jahren, noch heute ist sie eine gute Freundin, Arabella Steinbacher … Das war irgendwie so ein Nest. Natürlich haben sich auch die Mütter gegenseitig hochgeschaukelt: ›Schau mal, die macht das schon.‹
Haben Sie sich damals mit den anderen verglichen?
In dem Alter noch nicht so. Wir haben auch zusammen gespielt, Klavier und Geige, alles, auch mit Puppen.
Sie haben dann mit 15 den Violinwettbewerb Leopold Mozart gewonnen, sich danach aber gegen eine frühe ›Solokarriere‹ entschieden. Später haben Sie gesagt: ›Ich wollte nicht mit 15 in Hotels leben und ständig auf der Bühne sein.‹ Warum nicht?
Weil ich schwer mit dem äußeren Druck klarkam. Sobald mir ein Veranstalter oder eine wichtige Person, die irgendwelche Fäden in der Hand hielt, in nur minimalem Maße blöd kam, ging bei mir alles zu. Ich wollte nicht mehr spielen, um irgendeine Leistung abzuliefern, als möglichst fehlerfreies Produkt. Ich wollte spielen, um mich auszudrücken.
War das ein richtiger Bruch?
Ja, schon, ich habe ganz viel Blödsinn gemacht in meiner Jugend, weil ich als Kind einfach nicht so viel Freiheit hatte. Ich glaube, ich musste immer irgendwie viel kompensieren.
Aber Ihr Instrument wurde nie selbst Symbol für die Welt, gegen die Sie rebelliert haben?
Ganz und gar nicht, ich habe wirklich nie aufgehört zu spielen, im Gegenteil. Egal wie groß die Krise ist, die Liebe zum Musikmachen und zum Instrument ist immer geblieben. Es gibt nichts, was mich mehr tröstet oder zufriedener und glücklicher macht. Keine Ahnung, was die Faszination in meinem dreijährigen Gehirn ausgelöst hat, dass ich unbedingt Geige spielen wollte. Aber es ist immer mein Ausdrucksmittel geblieben.
Sie sind dann später trotzdem noch eine erfolgreiche Solistin geworden. Hat sich Ihr Unbehagen mit dem äußeren Druck seitdem geändert?
Nein, das ist bei mir heute noch so. Es gibt immer mal wieder Phasen, in denen ich schauen muss, dass ich mich wieder zurück auf die Füße stelle, vor allem wenn Erwartungen an mich gestellt werden, denen ich scheinbar nicht gerecht werde – weil ich das falsche Kleid getragen habe, oder nicht den richtigen Lippenstift oder nicht gelächelt habe während der Verbeugung.
Das waren jetzt alles Beispiele, die Sie erlebt haben?
Ja, immer wieder im Laufe der Jahre.
Sie haben mal gesagt: ›Was mich in meiner Jugend irritiert hat und was ich heute immer noch nicht voll akzeptiere, ist das ganze Drumherum, diese Maschinerie des Musikbetriebs, in die man sich einfügen muss.‹ Was meinten Sie damit?
Was ich zum Beispiel gar nicht kann, ist Klinken putzen. Erstens lässt es mein Alltag nicht zu – ich habe drei Kinder, eine volle Professur in München und meine Konzerte. Und dann entspricht es mir auch einfach nicht, überall aufzutauchen und zu sagen: ›Hier bin ich und übrigens bin ich ziemlich toll und außerdem mache ich demnächst das und das.‹ Das kann ich nicht und das lerne ich, glaube ich, auch nicht mehr. Aber natürlich ist es für die Karriere sehr wichtig, dass man sich immer wieder in Erinnerung ruft, bei Veranstaltern, Kolleg:innen, in Sozialen Netzwerken. Es gibt immer mal wieder Versuche von außen, mich in die Richtung zu drängen, ›mach doch mal, ist doch alles da‹. Aber ich sage mir: Es läuft jetzt auch so. Es reicht mir eigentlich schon, wenn man mich einfach leben lässt.
Sie sind mit 22 Jahren das erste Mal Mutter geworden. Hat sich seitdem eigentlich etwas verändert im Klassikgeschäft, was die Vereinbarkeit von Familie mit einer solistischen Karriere angeht?
Es ist als Frau generell schwierig. Erstens muss man immer mindestens so gut sein wie ein männlicher Kollege, um überhaupt nicht nur belächelt und als ›hübsch‹ und ›süß‹ bezeichnet zu werden. Das ist der eine Punkt. Wenn man dann noch Mutter ist, heißt es: ›Ah, schön, Gratulation, dann noch viel Spaß mit dem Kind.‹ Dann ist man eigentlich raus. Ich habe so viele Jahre meine Zähne hart zusammengebissen, um trotzdem weiterzukommen und weiterzumachen, nicht ›nur noch‹ Mutter zu sein. Es ging auch irgendwie, aber es hat sehr viel Kraft gekostet.
Was hätten Sie sich damals gewünscht vonseiten des Betriebs?
Ich weiß es nicht. Es ist einfach Fakt, dass man nicht genau so viel Zeit hat, sich um sein Instrument zu kümmern wie gleichaltrige Kollegen oder Kolleginnen. Dass die dann vielleicht auch besser ›abliefern‹, ist auch klar. Vielleicht kann man es Veranstaltern da gar nicht vorwerfen, dass sie lieber kinderlose Fleißige wählen.
Aber Musik ist ja mehr als ein Produkt, das man möglichst fehlerfrei abliefern muss.
Also für mich auf jeden Fall [lacht]. Man offenbart sehr viel aus seinem Seelenleben, wenn man so spielt, wie ich finde, dass man spielen sollte. Man kehrt sein Innerstes nach außen. Da sieht man viel. Man merkt auch sehr schnell, wenn sich jemand nur alles antrainiert hat, ohne dass es wirklich mit einem inneren Erleben korrespondiert. Das kann man bis zur allerhöchsten Perfektion treiben.
Sie haben bisher fast ausschließlich Repertoire aufgenommen, das ziemlich ›empfindlich‹ ist im Stil und Ausdruck, also kein Tschaikowsky-Violinkonzert, zum Beispiel …
… das macht mir übrigens auch Spaß. Es ist aber eher ein schöner Ausflug. Man kann da nicht so viel falsch machen.
Warum spielen Sie lieber etwas, bei dem Sie viel falsch machen können?
Ich finde bei Beethoven oder Schubert mehr vom Seelenleben in allen seinen Facetten. Tschaikowsky ist tolle Musik, das Violinkonzert hat wunderbare Melodien. Es ist aber auch viel unempfindlicher, man muss nicht so viel eigenes dazugeben.
Ein opulenter Ton um des opulenten Tones willen ist nicht das, was Sie suchen?
Ein glatter Dauerschönklang mit Dauervibrato berührt mich nicht so. Aber er entspricht oft noch unserer Hörgewohnheit, zum Beispiel auch beim Brahms-Konzert. So, wie wir das heute oft präsentiert bekommen, hat es nicht so viel damit zu tun, wie es zu Brahms’ Zeiten gespielt wurde. Aber es ist fest in den Köpfen verankert, dass es so zu klingen hat wie bei David Oistrach, der diesen Brahms-Klang, den wir heute erwarten – nicht nur Zuhörer, auch Veranstalter, Kollegen –, so geprägt hat. ›Spiel mal einen richtigen Brahms-Klang.‹ Was ist ein richtiger Brahms-Klang? Ich habe das auch von einem meiner Lehrer beim Beethoven-Konzert immer wieder gesagt bekommen: ›Lena, spiel doch mal einfach schön, gib das doch den Leuten, vibrier das doch mal durch und spiel es schön aus.‹ Ich kann das aber nicht so empfinden.
Zu diesem Stil- und Klangbewusstsein passt, dass Sie zuletzt die Schubert-Sonaten auf Darmsaiten und mit Hammerklavier-Begleitung eingespielt haben. Ist Ihr Interesse daran neu?
Nein, das war eigentlich schon immer da und ist bestimmt auch beeinflusst durch meinen Lehrer Helmut Zehetmair, der sehr begeistert von Harnoncourt war. Seitdem ich elf bin, bekam ich das bei ihm mit, die Artikulation, die Vorhalte, das Vibrato an den richtigen Stellen, dieses Stilbewusstsein für jede Epoche war immer ein wesentlicher Bestandteil. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, eine differenzierte Spielweise entwickelt zu haben.
Es wird gerade viel diskutiert über wegbleibendes Publikum und leere Säle. Welche Art von Resonanz brauchen Sie?
Ich freue mich, wenn man fühlt, dass die Leute dabei sind.
Fühlen Sie das immer?
Ich bilde mir ein: Ja, und auch wenn die Leute nicht so dabei sind. Dem Publikum mache ich aber nie einen Vorwurf. Ich finde es toll, dass sie kommen, sich Zeit nehmen, sogar Geld ausgeben für Tickets. Veranstalter wiederum stehen so unter Druck, ihre Säle vollzukriegen. Da versucht man natürlich, Superlative zu präsentieren, es sind dann oft die Jungen und die Älteren, die im Gespräch sind. Und es hilft, wenn man sehr hübsch ist. Auch ein Künstlerfoto muss schon was hermachen, sonst hat man keine Chance. Als Mann ja, als Frau nein. Das ist wirklich leider so.
Vielleicht ist das Äußerliche umso bedeutsamer, weil es in der Musik anders als im Sport keine ›objektiven Resultate‹ gibt.
Ja, jeder empfindet es anders. Wir Musiker zerbrechen uns ständig den Kopf, ›wie spiele ich diesen Ton?‹ Das ist auch gut so, sonst wäre der Sinn für mich abhandengekommen. Aber sehr viele Musiker:innen, das sehe ich auch bei den Studierenden, leiden unter einem Perfektionsdruck, einer wirklichen Panik, auf der Bühne irgendwelche Fehler zu machen, die man hören kann. Letzten Endes ist es wahrscheinlich vor allem für uns selbst ein Problem, gar nicht für das Publikum.
Was sagen Sie Ihren eigenen Studierenden dazu?
Ich versuche, sie in ihren besonderen Qualitäten zu bestärken und sie dabei zu unterstützen, bereits beim Üben das Vertrauen in das, was sie gut können, zu stabilisieren und sich mit den Schwächen anzufreunden. Außerdem sage ich ihnen, welch ein Privileg es ist, Musik beruflich machen zu dürfen. Wenn wir uns nach bestem Gewissen auf einen Auftritt vorbereitet haben, müssen wir auf der Bühne loslassen können, uns von unserem Kontrollzwang befreien dürfen, uns der Musik hingeben. ¶