Werden die Ausdrücke »Beethoven« und »zu langsam« in einem Atemzug genannt, geht es meist gerade um dessen schnellen Sätze mit ihren ambitionierten Metronomangaben. Der Musikwissenschaftler und Pianist Marten Noorduin, der über Beethovens Tempoangaben promoviert hat, wundert sich jedoch vor allem über das omnipräsente Zu-langsam-Spielen gerade der langsamen Sätze im Spätwerk Beethovens. Seine These: Der Komponist ging hier womöglich von einem deutlich flüssigerem Tempo als dem heute verbreiteten aus.
Ich treffe Noorduin, unserem musikwissenschaftlichen Gesprächsthema angemessen, im Café der Berliner Staatsbibliothek. Wir bestellen Bienenstich und lassen ihn unangerührt auf dem Tisch stehen. Marten, der sofort das Du anbietet (»Mein Nachname ist zu kompliziert«), benutzt die Kuchengabel lediglich zum Unterstreichen seiner ausladenden Gesten.

VAN: Wie bist du darauf gekommen, dass die langsamen Sätze aus Beethovens Spätwerk heute viel zu langsam gespielt werden?
Marten Nooduin: In den 1980er Jahren war die historische Aufführungspraxis in Holland, wo ich groß geworden bin, sehr stark. Ich habe das persönlich nicht miterlebt, weil ich erst 1987 geboren wurde, aber ich habe später bemerkt – wie viele andere Leute auch –, dass diese Bewegung die Tempi in vielen Fällen angezogen hat. Das gilt insbesondere für einige der langsamen Sätze. Einige der schnellen Sätze wurden etwas weniger schnell. Es war also im Grunde eine Bewegung zur Mitte hin – im Großen und Ganzen, ich verallgemeinere hier. Aber es gab ein Aber: Die historische Aufführungspraxis hat die Werke aus Beethovens früher und mittlerer Schaffenszeit für sich erobert, aber bei Beethovens Spätwerk hat das nicht so gut geklappt. Aus irgendeinem Grund wurden zum Beispiel die späten Streichquartette erst vor ein paar Jahren auf historischen Instrumenten aufgenommen.
Hast du eine Idee, warum das so war?
Es ist relativ einfach zu überblicken, welche Tempi Beethoven für Werke aus seiner frühen und mittleren Schaffenszeit im Sinn hatte, weil es da so viele Metronomangaben von ihm gibt. Bei den späten Werken ist das nicht so leicht. Da haben wir im Grunde nur die Metronomangaben für die 9. Sinfonie, und darin gibt es nur einen langsamen Satz – einen recht bewegten. Dann gibt es noch Metronomangaben für die Hammerklaviersonate und ein paar wenige kleinere Werke. Das ist alles, was wir haben. Die späten Werke konnten sich also gewissermaßen eigenständig entwickeln.
Von einer Gruppe um Wagner und Bruckner wurden dann gerade die langsamen Sätze in Beethovens Spätwerk als eine Art Höhepunkt angesehen, nach dem Motto: ›Beethovens Adagios sind jeweils das Herz des Stücks, hierher rührt der Zauber.‹
In den 1980er Jahren dann gab es diese historisch informierten Musiker:innen, deren Raison d’Être im Grunde genommen war, den Einfluss Wagners zurückzudrängen, und die hat sich nicht mit dem Repertoire auseinandersetzt, bei dem es da eigentlich am meisten zu tun gab.
Warum haben die frühen Beethovenwerke Metronomangaben und die späten nicht? Das Metronom wurde ja erst 1815 patentiert.
Beethoven war auch lange vorher schon sehr daran gelegen, die Tempi genau anzugeben. Das gilt schon für seine frühen Werke, bei denen wir in seinen Manuskripten akribische Anmerkungen finden, in denen er sich Gedanken macht: Mache ich das ein bisschen schneller, mache ich das ein bisschen langsamer? Welche Notenwerte verwende ich, welches Metrum schreibe ich hin? Aber es gab keine gute Möglichkeit, das Tempo präzise anzugeben.
Im Jahr 1813 lernte Beethoven das Chronometer kennen, zwei Jahre später wurde es als Metronom patentiert. Beethoven besorgte sich eins und benutze es auch sofort. Er schrieb Metronomangaben in eine neu komponierte Kantate und für alle acht Sinfonien und elf Streichquartette, die er schon komponiert hatte.
Warum hat er dann in der Folge in seine neuen Stücke keine Metronomangaben geschrieben?
Es gibt einige Hinweise darauf, dass er viel mehr Metronomangaben schreiben wollte. Es gibt Briefe von ihm an Verleger, in denen er darum bittet, mit der Veröffentlichung von Werken zu warten, weil er noch Metronomangaben hinzufügen wollte und dann doch nie dazu kam – zum Beispiel für die Missa solemnis.
Ein Grund für diese Verzögerungen könnte gewesen sein, dass Beethoven um diese Zeit in einen Rechtsstreit mit seiner Schwägerin Johanna über die Vormundschaft für seinen Neffen Karl verwickelt war. Auch nachdem Beethoven den Rechtsstreit schließlich gewonnen hatte, bedeutete Karls Erziehung für ihn viel Arbeit und unterbrach damit zuweilen seine kreativen Arbeit. Bezeichnend ist die 9. Sinfonie, für die die ersten Skizzen um 1815 entstanden sind, die aber erst 1822 weiter komponiert und 1824 fertiggestellt wurde.
Die richtige Metronomangabe zu finden, war für ihn außerdem etwas komplizierter, als man sich das vorstellt. Wir wissen im Fall der 9. Sinfonie, wie er es gemacht hat: Da hatte er eine weitere Person, seinen Neffen Karl, dabei. Beethoven setzte sich an das Klavier, und Karl versuchte, das Tempo am Metronom richtig zu bestimmen. Für die Sinfonie brauchten sie von morgens bis nachmittags.
Es ist nicht so, dass Beethoven das Metronom irgendwann nicht mehr benutzen wollte. Das ist ein Mythos, den Anton Schindler in die Welt gesetzt hat. Es lag vor allem daran, dass Beethoven mit anderen Dingen beschäftigt war. Und dass er nicht damit gerechnet hat, dass er sterben würde.
Was ist mit dieser These, dass Beethoven sein Metronom falsch benutzt und alles 12 Schläge zu schnell aufgeschrieben hat, weil er das Tempo am unteren Ende des Gewichts statt oben abgelesen hat?
Diese Interpretation steht in einer langen Tradition, die versucht, Beethovens Metronomangaben für ungültig zu erklären. Es gibt diese sehr lange Tradition, die Kluft zwischen der eigenen Art, Beethoven zu spielen, und den historischen Belegen, die wir haben, zu überwinden, indem man nicht das eigene Spiel anpasst, sondern versucht, eine Erklärung zu finden, die diese Kluft schließt.
Für diese These, die im Wesentlichen besagt, dass Beethoven die Metronomzahl unter dem statt über dem Gewicht des Metronoms abgelesen hat, gibt es überhaupt keine Belege. Beethovens Metronomangaben sind sehr konsistent. Stücke mit gleicher Charakteristik haben unglaublich ähnliche Metronomangaben, viel ähnlicher als man denken würde, oft innerhalb einer Spanne von fünf Prozent. Das Gleiche gilt für Stücke vieler seiner Zeitgenossen. Wenn man sagt, dass Beethoven sein Metronom falsch benutzt hat, muss man wahrscheinlich auch sagen, dass Leute wie Moscheles und Czerny das genauso falsch gemacht haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass so viele Menschen das Metronom entgegen den Anweisungen benutzt haben, ohne dass jemand bemerkt hätte, dass da etwas nicht stimmt. Außerdem kannte Beethoven den Erfinder und der hat ihm wahrscheinlich durchaus gesagt, wie man ein Metronom benutzt.
Es gibt sogar Hinweise in Briefen, dass Beethoven sein Metronom zur Reparatur geschickt hat. Wenn es also kaputt war oder er es falsch benutzt hat, war er sich dessen bewusst. Einzelne Fehler können natürlich auch bei Metronomangaben vorkommen, Übertragungsfehler, Druckfehler …
Die 9. Sinfonie hat, wie du sagtest, Metronomangaben. Wird deren langsamer Satz denn heute entsprechend den Metronomangaben gespielt?
Beim Tempo gibt es immer auch eine gewisse Flexibilität: Die Metronomangaben gelten in den ersten paar Takten, dann wird das Tempo flexibler. Viele Leute fangen ungefähr beim angegebenen Tempo an und gehen dann ein wenig runter. Es gibt aber auch Interpretationen, die das angegebene Tempo halten.
Welche zum Beispiel?
Benjamin Zander mit dem Philharmonia Orchestra.
Und wer spielt das Adagio … viel zu langsam?
Es gibt eine gefilmte Version von Leonard Bernstein, es macht echt Spaß, die anzugucken. In vielen Passagen nimmt Bernstein das Tempo deutlich langsamer, dadurch kriegt das Werk so eine religiöse Atmosphäre. Das zeigt, dass Beethovens Musik auf ganz unterschiedliche Weise funktioniert: Man kann sie langsam oder schnell und mit Druck spielen, und beides ist legitim.
Tendieren ältere Dirigent:innen dazu, Beethoven noch langsamer zu machen?
Das sagt man so, aber ich glaube nicht, dass das stimmt, bei Benjamin Zander ja zum Beispiel schon mal nicht.
Im Grunde spielen alle die langsamen Sätze der späten Werke Beethovens sehr langsam, auch Jüngere wie Igor Levit, den ich sehr mag.
Nur bei der Hammerklaviersonate macht er das etwas weniger, vielleicht weil es da Metronomangaben gibt, da bleibt er aber auch deutlich drunter. Den späten Beethoven langsam zu spielen, ist keine Frage des Alters, sondern eine Frage der Ideologie.
Welcher Ideologie?
Viele sehen in Beethovens Spätwerk etwas Magisches: Er war taub, alt, krank, und doch schrieb er die 9. Sinfonie, dieses phänomenal optimistische Werk, und die späten Streichquartette, die man sich tausendmal anhören kann und jedes Mal etwas Neues findet.
Die Sache ist: Das stimmt nicht ganz. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass Beethoven nie völlig taub war. Als er in den späten 1810er Jahren immer tauber wurde, konnten die Leute ihn immer noch anschreien, nur hätte das in einer Situation wie dieser [in einem Café] nicht funktioniert. Also hatte er diese kleinen Heftchen, in die die Leute geschrieben haben, was sie sagen wollten, und Beethoven hat mündlich geantwortet. So haben wir heute Beethovens Sozialleben seiner letzten 10 Lebensjahre sehr gut dokumentiert: in welche Restaurants er ging, was er aß, was er trank, was seine Freunde über die Leute um ihn herum dachten … Aber es gab immer ein Problem: Es gibt Lücken in den Konversationsheften. Zunächst dachte man: Vielleicht hat er einfach andere Zettel benutzt. Das erschien nicht sehr plausibel, denn er war sehr sorgfältig in der Aufbewahrung seiner Unterlagen. Dann hat man gemerkt: Die Lücken sind immer an seinen Geburtstagen.
Theodore Albrecht vermutet, dass einige dieser Lücken in den Aufzeichnungen während Ereignissen zu finden sind, bei denen Beethoven sicherlich Gespräche geführt hätte. Außerdem gibt es Belege dafür, dass Beethoven 1823 jemandem mit Hörproblemen erzählt hat, dass er auf seinem linken Ohr noch etwas hören kann. Es gab Momente, in denen sein Gehör schlechter war, und Momente, in denen sein Gehör wieder besser war. Aber er war wahrscheinlich nicht völlig abgeschottet von der Welt.
Etwa sechs Monate nach Beethovens Tod wurde in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung das sogenannte Heiligenstädter Testament von 1802 veröffentlicht, in dem Beethoven sinngemäß geschrieben hat: ›Ich überlege, mich wegen meiner Taubheit umzubringen. Ein Organ, das in meinem Beruf so viel besser entwickelt sein sollte, ist krank und versagt.‹ Und die Leute dachten: ›Ah, jetzt wissen wir, warum seine späten Werke so seltsam sind! Weil er sie geschrieben hat, als er eigentlich komplett abgeschnitten war von aller Musik!‹ Das wurde zu einer Art Meme.
Was fanden die Zeitgenoss:innen seltsam an den späten Werken?
Ein gutes Beispiel ist die 9. Sinfonie, die für die Philharmonische Gesellschaft in London geschrieben wurde, die auch noch für eine 10. bezahlt hatte. Sie spielten die 7. seit Jahren und liebten sie, und als sie dann die 9. bekamen, dachten sie: ›Was zum Teufel ist das? Auf halber Strecke wird aus der Sinfonie ein Oratorium und sie ist viel zu schwierig.‹ Also spielten sie sie einmal und dann noch einmal 10 Jahre später und dann geriet sie in Vergessenheit. Man dachte: ›Die späten Werke sind einfach nicht so gut wie die früheren, und der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass Beethoven taub war.‹ Viele meinten das damals. Dann, um die 1840er Jahre herum, gab es eine Art Wandel. Verschiedene Leute schlugen vor, Details an den späten Werken zu ändern, um sie besser aufführbar zu machen. Czerny zum Beispiel, der selbst in dessen letzten Lebensjahren noch bei Beethoven studiert hatte, hat hier und da Sachen geändert, um die Werke an die Aufführungspraxis der 1840er Jahre anzupassen, und viele Leute sind ihm dabei gerne gefolgt.
Was hat Czerny verändert?
Der langsame Satz der Klaviersonate in A-Dur aus dem op. 101 hat in einer kurz nach Beethovens Tod erschienenen, von Czerny edierten Ausgabe ein recht flüssiges Tempo. In den 1840er Jahren halbierte Czerny dann im Grunde das Tempo. Er ging von Viertelnote = 54 zu Achtelnote = 60 runter. Und unter diesen Umständen begannen die späten Werke zu gedeihen.
Und dann, in den 1860er Jahren, tauchte auch noch Wagner auf. Seine Vorstellung von Beethovens Spätwerk ist ganz anders. Er behauptete im Grunde, dass die Taubheit für Beethoven keine Einschränkung, sondern ein Vorteil war: Durch die Taubheit musste sich Beethoven nicht mit dem Lärm Wiens konfrontieren und konnte sich in seine eigene kleine Welt zurückziehen und diese himmlische Musik schreiben … Diese Erzählung von der Transzendenz prägte die Interpretation von Beethovens Spätwerk von da an – und bis heute. Was ich sehr interessant finde, ist, dass die historische Aufführungspraxis das zum allergrößten Teil nicht in Frage gestellt hat.
Wie kommst du bei Stücken ohne Metronomangabe zu dem Schluss, dass die zu langsam gespielt werden? Woher kommt da deine Idee vom ›richtigen‹ Tempo?
Die Metronomangaben, die wir haben, auch für einige späte Werke, zeigen, dass Beethovens Tempoangaben ziemlich konsistent sind. Von diesem Punkt aus können wir uns also weiter vorarbeiten. Wenn es keinen Unterschied gibt zwischen den Tempi der frühen, mittleren und späten Werke, dann haben wir ein Modell: Wenn Beethoven alle Stücke mit der gleichen Charakteristik in einem bestimmten Tempo geschrieben hat, dann nehmen wir doch auch die Stücke aus dem Spätwerk ohne Metronomangaben und spielen sie mehr oder weniger in demselben Tempo!
Was genau meinst du mit der ›Charakteristik‹ eines Stückes?
Das Metrum, die verwendeten Notenwerte und die italienische Vortragsbezeichnung. Das habe ich mir auch nicht selbst ausgedacht. Schon im späten 18. Jahrhundert gab es einen weit verbreiteten Konsens darüber, dass man Tempi über diese Parameter angeben sollte. Deshalb hat Beethoven bei seinen frühen Werken so viel Zeit darauf verwendet, herauszufinden, welche Notenwerte, welches Metrum, welche Tempobezeichnung er hinschreibt …
Bei welchem Werk hast du über diesen Weg nach dem passenden Tempo gesucht?
Meiner Meinung nach lässt sich das auf fast alle späten Werke mit umfangreichen langsamen Sätzen anwenden. Aber bei der Cellosonate op. 102 Nr. 2 hat es besonders gut funktioniert. Während der Pandemie habe ich mir viele Aufnahmen dieses Werks angehört, die alle extrem langsam waren. Aber ich dachte: Es ist ein Adagio con molto sentimento im Zweivierteltakt mit in erster Linie Achtelnoten und später noch einigen kleineren Notenwerten. Wir haben Beispiele von Beethoven, mit denen wir das gut vergleichen können.
Ich habe das schnellere Tempo in einer Aufnahme ausprobiert und es hat wirklich gut funktioniert. Wir haben auch beide Versionen, die langsame und die schnelle, in einem Konzert gespielt und beide haben funktioniert. Aber sie haben eine sehr unterschiedliche Wirkung.
Dabei ändert sich sicherlich der Charakter des Stückes. Was noch?
Im flüssigeren Tempo wird die Spannung zwischen den Akkorden deutlicher. Nur in einem etwas flüssigeren Tempo kann man auch über längere Abschnitte hinweg Akkorde in ihrer Beziehung zueinander hören.
Du kannst das ganz einfach selbst ausprobieren: Hör dir mal einen langsamen Satz bei Karajan an, am besten aus der 9. Da hörst du einen wunderschön ausbalancierten Akkord, und noch einen wunderschön ausbalancierten Akkord, und noch einen, und es könnte noch einen geben oder vielleicht fünf … Man hat diesen Eindruck von Ewigkeit, es ist eine Art unendliche Melodie.
Ich habe meinen Studierenden die Aufnahme des dritten Satzes der 9. Sinfonie von Karajan vorgespielt und sie gebeten, die Melodie zu singen … [lacht] Wenn man das so langsam spielt, kriegt man die Melodie gar nicht mehr mit. Ich bin mit der Karajan-Aufnahme der 9. Sinfonie aufgewachsen, aber bis ich irgendwann in die Partitur geguckt habe, wusste ich nicht, wie die Melodie dieses Satzes geht. Man verliert sie bei Karajan, es ist eher diese religiöse Erhabenheit. Und das gefällt mir!
Mein einziges Problem damit ist, dass das der Standardweg für die späten Werke ist. Wenn man die fließender spielt, werden bestimmte harmonische Spannungen auch über weitere Strecken hinweg deutlich. Es zu machen wie Karajan, ist völlig legitim. Aber das sollte nicht der einzige Weg sein.
Schneller zu spielen wäre also eine historisch gut zu begründende Möglichkeit, Beethovens Spätwerk anders anzugehen. Dann würden wir uns wirklich von dem lösen, was Wagner im Sinn hatte.
Hat die Tatsache, dass sie Beethoven über Jahrzehnte hinweg möglicherweise zu langsam gespielt haben, das Potenzial, Musiker:innen richtig in Rage zu bringen?
Sie haben von mir nichts zu befürchten. Ich sage nicht, dass man das eine oder das andere tun sollte. Ich weise nur darauf hin, dass es einen Konsens gibt, den späten Beethoven auf eine bestimmte Weise zu spielen, und ich denke, dass dieser Konsens in Frage gestellt werden sollte. Es sollte eine größere Bandbreite von Herangehensweisen an sein Spätwerk geben. Dieses Repertoire wird eh die ganze Zeit gespielt. Wäre es nicht großartig, wenn man da mehr Unterschiede hören würde? Ein Orchester im religiösen Stil der 1950er Jahre, ein Streichquartett, das Beethoven wie in den 1910er Jahren spielt – es gibt tatsächlich Leute, die das heute machen – und andere, die es wieder anders machen? Zurzeit ist die transzendente langsame Interpretation die einzige präsente Variante. Ich habe mir so viele Aufnahmen angehört, und soweit ich das beurteilen kann, gibt es aktuell quasi nur das. Und das ist es, was ich ändern möchte.
Würdest du sagen, dass es immer noch wichtig ist, irgendwie zu versuchen, dem nahe zu kommen, was Beethoven im Sinn hatte? Es geht ja immer wieder um ›Werktreue‹ …
Was ist denn überhaupt ein ›Werk‹? [lacht] Ich finde, es ist interessant, herauszufinden, was Beethoven im Sinn gehabt haben könnte – gehabt haben könnte, diese Formulierungen wähle ich mit Bedacht, das ist ein Terrain voller Widersprüche. Wir werden das nie wirklich herausfinden, denn was er im Sinn hatte, könnte sich von Tag zu Tag geändert haben, oder es könnte nicht gut artikuliert worden sein … Aber ich denke, es ist interessant, die Belege zu nutzen, die wir haben, um zu einem Beethoven zu kommen, den wir bisher so noch nicht hatten.
Das war auch der Grundgedanke in den 1980er Jahren, zumindestens von einigen Beteiligten. Man wollte nicht zurück in die 1820er Jahre, das ging ja auch nicht. Und es gab auch keinen Grund dazu. Man nutzte die Belege, die man hatte, um Beethoven wieder frisch klingen zu lassen. Und ich denke, das sollten wir auch heute so machen. Alles andere ist einfach nicht spannend. Warst du schonmal im Kino in irgendeinem Film, zu dem dich ein Freund überredet hat, und der Film ist total langweilig und du hoffst nur, dass er bald vorbei ist und dann beugt sich der Freund rüber und flüstert: ›Weißt du, dass das alles auf wahren Begebenheiten beruht?‹ Das macht den Film nicht besser. Und genau das versuche ich zu vermeiden. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass das, was Beethoven im Kopf hatte, unbedingt die beste Version ist von dem, was seine Musik sein könnte. Aber ich denke, es ist interessant, festzustellen, dass das, was er aufgrund der historischen Belege im Sinn gehabt haben könnte, sehr weit entfernt ist von dem, was wir heute tun. ¶