Breite Wege, weite Sicht, wenig Barrieren, frische Luft, Grün statt Autoverkehr und darum weniger Lärm und Feinstaubbelastung als in angrenzenden Quartieren, freier Eintritt, Raum für Sportarten wie Kitesurfen, Spikeball, Slackline oder Jam-Skating, wilde Gärten … Das Tempelhofer Feld ist ein Ort der urbanen Freiheit. Und außerdem ein Experiment im fragilen Zusammenspiel zwischen den Bedürfnissen von Großstadtmenschen und Natur: Die in Deutschland als gefährdet eingestufte Feldlerche brütet hier noch bis in den Juli, in etwa 200 Nestern im Gras (eine Populationsdichte wie sonst nur an der Nordsee). Gerade während der Pandemie ist das 303 Hektar große ehemalige Flughafengelände für viele ein Ort des Durchatmens und Ausbruchs aus der sozial distanzierten Enge der eigenen vier Wände, der Begegnungen und Erlebnisse jenseits jeder Verwertungslogik möglich macht – normalerweise.
Wie das genaue Gegenbild wirkt das Pop-Up-Autokino, zu dem die Staatsoper Unter den Linden am 13. Juni auf dem Tempelhofer Feld einlädt: bis zu 400 Autos und mit ihnen wieder abgeschlossene Räume, stickige Luft für alle ohne Cabrio, zugewiesene Plätze, Zugang nur unter bestimmten Voraussetzungen (ein Auto haben oder mieten, pro Fahrzeug 38 Euro Eintritt zahlen). Warum ein Autokino gerade auf dem Tempelhofer Feld? Jede Nutzung ist hier naheliegender als eine, die nur motorisiert möglich ist.

Die noch drängendere Frage lautet allerdings: Warum gerade jetzt? »Normale« Freiluftkinos machen auf, nächste Woche startet auch die Berlinale open air, Theater, Opern- und Konzerthäuser dürfen wieder ihre Tore öffnen und wirkliche Live-Erlebnisse zulassen. Da wirken Arien aus dem Autoradio so unbefriedigend wie ein Zoom-Stammtisch, wenn man sich stattdessen auch in den Biergarten setzen kann. Auch die ins Autokino gestreamte Premiere von Puccinis La fanciulla del West kann man sich live Unter den Linden geben. Die Plätze mit Sichteinschränkung sind dort sogar günstiger als der PKW-Stellplatz im Autokino. Mit diesem glaubt Staatsoper-Intendant Matthias Schulz »hoffentlich ein neues Publikum zu erreichen. Umso schöner, dass jetzt beides stattfinden kann: Die Premiere vor Publikum im Saal und gleichzeitig ein neuer Zugang durch Autokino!« Allerdings verspricht das Setting der schlicht und unauffällig im Saal abgefilmten Opernbühne keine cineastischen Highlights: Zu erwarten sind eher große Gesten, die Closeups auf peinliche Weise sprengen, oder lange Totalen, die eine riesige LED-Leinwand nicht wirklich mit Leben füllen können. Zumal bei Tageslicht (die Aufführung beginnt bereits um 19 Uhr). Dazu drohen akustische Störgeräusche über UKW aus dem Autoradio.
Das Label »Pop-Up« klingt nach Flexibilität, Spontaneität, nach über Nacht entstandenen Radwegen. All das beißt sich mit Blechkarossen, die von Ordner:innen auf bestimmte Parkplätze verwiesen werden und das Gelände vor Ende der Veranstaltung dann nicht mehr verlassen dürfen. Das hat weniger von Operngenuss als von einem Stau auf der A7, nur dass hier die Kino-Angestellten und nicht das Rote Kreuz die Steckengebliebenen mit Getränken versorgt.
Die assoziative Dissonanz zwischen »Tempelhofer Feld« und »Pop-Up« auf der einen und »Autokino« auf der anderen Seite ist kaum zu übersehen. Auf ziemlich durchsichtige Weise will sich hier ein Opernhaus einen graswurzelhaften Anstrich geben. Das libertäre Image des Tempelhofer Felds soll auf die Staatsoper, die als Institution sonst eher hermetisch wirkt, abfärben. Sonst hätte man das Ganze auch am Olympiastadion oder dem Flughafen Schönefeld veranstalten können. Und der Sponsor BMW hat in der Pandemie endlich eine Chance für ein Erlebnismarketing gesehen, das das Auto direkter mit der Oper verbindet als es Auto-Selfies postende Opernstars jemals könnten.
Ob das Autokino ein geeignetes Format ist, »eine leichtere Zugänglichkeit der Opernwelt für ein junges Publikum zu ermöglichen«, wie die Staatsoper und BMW ihre Kooperation #BMWOPERANEXT framen, ist mehr als fraglich, auch wenn das Autokino, dieses skurrile Relikt der 1960er, im Lockdown ein kleines Revival erlebte. Das »junge Publikum«, das über ein eigenes Auto und ausreichend Geld für ein Stellplatzticket verfügt und außerdem noch Geduld und Hingabe mitbringt, um sich mehrere Stunden lang für eine Opernpremiere auf einem Parkplatz einschließen zu lassen, ist allerdings vermutlich an einer Hand abzuzählen (einen PKW kriegt man damit also voll). So fraglich die Fixierung auf ein junges Publikum grundsätzlich ist, scheinen die Oper für Alle-Events, die BMW sonst gesponsert hat, diesem Zweck deutlich angemessener.
Immerhin: Das Infektionsrisiko ist, wenn man im Laufe der Aufführung nicht zur Toilette muss, so gering wie bei einem Abend auf der heimischen Couch. Und wie dort kann man den Kindern zur Not das Smartphone zum Zocken in die Hand drücken, wenn sie das ausgewählte Programm irgendwann langweilt. Trotzdem bleibt der Eindruck einer sehr schlechten Idee, die zur schlechten Zeit kam.
Die Tatsache, dass das Event bisher – insbesondere verglichen mit anderen Kulturangeboten, die gerade wieder öffnen – schlecht verkauft ist, spricht dafür, dass auch das Publikum nicht auf das Angebot gewartet hat. Aber wer sollte sich auch schon groß dafür begeistern? Opernliebhaber:innen, die zufällig gerade die Hi-Fi-Anlage ihres Wagens gepimpt haben? Alle, die das Sehen und Gesehen-Werden im Opernhaus gerne mit ihrem Auto fortsetzen wollen? Und wenn ja: Kommen die SUVs dann alle in die erste Reihe? Sollte das der Fall sein, könnte sich als einzig Treffendes an dieser ganzen Veranstaltung der Beginn der Inhaltsangabe aus der Ankündigung von La fanciulla del West erweisen: »Der Sehnsuchtsort stellt sich als unerbittliche Einöde heraus, in der das Gesetz des Stärkeren gilt.« ¶