Durch das alte Londoner Kohlekraftwerk Battersea Power Station schallt leise Klaviermusik. Kurz hinter der riesigen gläsernen Rezeption von Apple haut in einem gigantischen Einkaufszentrum ein Mann sehr engagiert Modest Mussorgskys Das große Tor von Kiew in die Tasten, das Publikum besteht aus genau drei Personen. Es birgt eine gewisse Ironie, dass in dieser Mall früher vielleicht klassische Musik gespielt wurde, um bestimmte Gruppen loszuwerden, und jetzt mit derselben Musik versucht wird, die Massen nach der Pandemie wieder in den Einkaufstempel zu locken. 

Mit diesem seltsamen Gedanken im Hinterkopf mache ich mich auf den Weg zu einem Briefing zur Apple Music Classical App, die heute erscheint: »Es war harte Arbeit, aber ein Herzensprojekt«, sagt Apple-Music-Chef Oliver Schusser. Die Stimmung im luftigen Meetingraum ist ein wenig angespannt.

Das Logodesign lässt ein wenig zu wünschen übrig, aber die App sieht beeindruckend aus und ist in der Bedienung so angenehm, wie es sich für ein neues Produkt des weltweit größten Technologieunternehmens eben gehört. Apple Music Classical ist eine eigenständige App, wer ein Apple Music Abo für monatlich 10,99 Euro hat, bekommt sie kostenlos dazu. Erstmal läuft die App nur auf iOS, eine Android-Version ist angekündigt. Im Gegensatz zu Spotify, das vor kurzem mit seinen »Pivot-to-Video«-Plänen an die Öffentlichkeit ging (ähnlich wie auf TikTok sollen hier in einem »Feed« bald auch Videos erscheinen, wodurch die App ihren Musikfokus verlieren und sich eher in Richtung einer Content-Plattform bewegen könnte), ist die Oberfläche der Apple Music Classical App angenehm altmodisch und orientiert sich hauptsächlich an den aktuellen Apple Music-Landingpages. Neben der Musik selbst soll die App Playlists, Werkeinführungen und weiteren, von Expert:innen präsentierten Content enthalten. (Apple macht keine Angaben dazu, wen sie als Expert:innen einspannen wollen oder wie groß dieses Team sein wird, es wird jedoch betont, dass es international aufgestellt sein soll.) 

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Die größte Stärke der App liegt jedoch darin, dass sie gekonnt mit den Eigenheiten klassischer Musik umzugehen weiß. Dass klassische Musik und die anderen großen Streaming-Portale bisher mehr schlecht als recht zusammen gingen, liegt vor allem an den Metadaten. Das Problem ist nicht etwa, dass klassische Musik mehr Metadaten hätte als alle anderen Genres – die Anzahl der Interpret:innen bei Beethovens Neunter kontert Beyoncé locker mit 72 gelisteten Songwriter:innen für ihr Album Lemonade von 2016 –, sondern das Zusammenspiel aus Informationen wie der Opuszahl, Hob.-Nummer, gefühlt hundert Versionen derselben Brucknersymphonie, mit Songe dune nuit du sabbat einem eigenen Titel für den fünften Satz und Angaben zu Dirigent:innen, die in einem auf einen Taylor Swift Song zugeschnittenen Formular keinen Platz finden.

Die Vielfalt dieser Metadaten hat Apple zur raison dêtre seiner neuen App gemacht. Und bei derart vielen »data points«, wie Apple sie nennt – mehr als 50 Millionen »Datenpunkten« aus der eigenen Aufnahmendatenbank – macht das auch absolut Sinn. Klassische Musik ist das perfekte Revier für wissenshungrige Algorithmen, und ihre Arbeit wird um ein Vielfaches einfacher, wenn zu einem Stück eine Fülle einzelner Angaben geliefert werden (ein Titel, eine Tempobezeichnung, eine Opusnummer, ein Entstehungsdatum oder eine Dirigentin). Die Kategorisierung ergibt hier viel mehr Sinn als wenn man Maschinen dazu zwingt, zu beurteilen, ob Jacob Collier eher Jazz, Hip-Hop, Chormusik oder einfach nur »genre-übergreifend« ist. Die allmächtige Suchmaschine hat großes Potenzial, nicht zuletzt für Programmmacher:innen: Brauchen Sie für ein Konzert noch Musik aus dem Jahr 1876? Zwei fünfte Symphonien, die Sie einander gegenüberstellen können? Sie möchten ein Chorkonzert zum Thema »Wasser«, »Liebe« oder »Licht« gestalten? Die App kann all das und noch viel mehr. 

Natürlich ist auch hier nicht alles perfekt. Apple hat zum Beispiel eine Reihe digitaler Porträts historischer Komponist:innen in Auftrag gegeben, weil dem Unternehmen der eigene Style wichtiger ist als ein halbes Jahrtausend Kunstgeschichte. Leider sehen sie billig und hässlich aus, wie Deepfakes der berühmten Porträts von einst. In der Pressemitteilung wird damit geprahlt, dass die meisten dieser neuen Porträts auf dem iMac und dem iPad entstanden seien, als ob das eine Qualität für sich wäre.

Apple Music Classical hat sich außerdem auf die Fahnen geschrieben, gleich die gesamte Recording-Industrie zu revolutionieren. In Deutschland sind die CD-Verkäufe allein zwischen 2020 und 2021 um 22 Prozent zurückgegangen, in Großbritannien sogar um 32,2 Prozent. Die App trägt zum Chor derer bei, die den Tod der CD schon lange voraussagen. Ihr Untergang könnte allerdings durch zwei bemerkenswerte Entwicklungen beschleunigt werden. Erstens hat Apple sofort Kooperationen mit einigen der größten Klassik-Institutionen ins Leben gerufen: Die Berliner Philharmoniker, das Chicago Symphony Orchestra, das London Symphony Orchestra, die Metropolitan Opera, das New York Philharmonic, die Opéra National de Paris, das San Francisco Symphony Orchestra und die Wiener Philharmoniker sind allesamt Partnerorganisationen, und es ist die Rede von »exklusiven Alben« (Live-Aufnahmen, die exklusiv für Apple lizenziert werden). Zweitens treten Künstler:innen wie Alice Sara Ott und Karina Canellakis vielfach in den Promo-Videos zur App auf und es ist mit einer Flut von Social-Media-Posts aller möglichen Künstler:innen zu rechnen, die noch auf den fahrenden Zug aufspringen und sich von der Herstellung physischer CDs verabschieden (so wie es die Geigerin Julia Fischer bereits vor einigen Jahren getan hat.). Beide Schritte lesen sich wie eine Absichtserklärung Apples, den Markt der Einspielungen klassischer Musik komplett zu erobern. 

Mit dem Wohlwollen des Klassik-Establishments, einer etablierten Plattform im Rücken und der Unterstützung eines Unternehmens mit einem Umsatz von 394,3 Milliarden Dollar im Jahr 2022 hat Apple Music Classical die beste Chance seit langem, für einen Stimmungsumschwung beim Klassikstreaming zu sorgen. Aber es bleibt ein Elefant im Raum: Trotz einiger Unklarheiten (»Wir zahlen mehr als unsere Konkurrenten«, sagte Schusser) bestätigte Apple, dass die Vergütungsstruktur der neuen Klassik-App die gleiche sein wird wie die von Apple Music, also derzeit etwa 0,01 Dollar pro Abspielung eines Tracks (ab einer Länge von 30 Sekunden). Dieses Modell mag für einen Hiphop Track funktionieren, aber nicht für Symphonien von Feldman oder Schostakowitsch. (In einem späteren Statement hieß es aus dem Apple Marketing gegenüber VAN: »Wir glauben, dass alle für ihre Kunst bezahlt werden sollen. Wir wollen Musik nicht gratis hergeben. Wir zahlen alle Labels nach dem gleichen Modell – und wir zahlen mehr als die anderen am Markt.«) Streaming ist in seiner jetzigen Form sinnvoll für Künstler:innen, die am Markt etabliert sind und nicht von den überschaubaren Streaming-Einkünften leben müssen. Für alle anderen bleibt es schwierig.

Dieses alte Problem kann auch Apple Music Classical nicht lösen. In mancher Hinsicht weiß die App also zu überraschen als wirklich brillante Ergänzung im Ökosystem der klassischen Musik. In einem wichtigen Punkt bleibt sie jedoch leider vorhersehbar. ¶