Auf Treppenstufen sitzend Sterni trinken und Schönberg hören, das passt nicht zusammen – scheint sich die Deutsche Bahn zu denken. Darum soll ab Herbst der Durchgangsbereich des Berliner S-Bahnhofs Hermannstraße durchgängig mit atonaler Musik beschallt werden – ein Pilotprojekt, das Vorbild für weitere Bahnhöfe werden könnte. Über Sinn und Unsinn von Klassik-Offensiven an Bahnhöfen und das Menschenbild von Verkehrsbetrieben, die sich sowas ausdenken, ist schon viel geschrieben worden. Ich mache mich auf die Suche nach dem Kern des Ganzen: Der Musik, der ultimativen Bahnhofs-Vorplatz-Playlist. Erstmal rufe ich dazu den zuständigen DB-Mitarbeiter in Berlin an.

Welche Stücke sollen demnächst an der Hermannstraße gespielt werden?

Wir wissen noch keine Titel.

Wer wird die Stücke auswählen, ist das schon klar?

Das wird im Bereich ›Station und Service‹ überlegt. Aber ein Auswahlteam ist dort noch nicht aufgestellt. Das ist für den Herbst vorgesehen.

Was verstehen Sie unter atonaler Musik?

Es geht ja darum, Durchgangsbereiche im Bahnhof Hermannstraße so zu beschallen, dass sich da keine – ich sag jetzt mal: ›Personen‹ aufhalten. Es ist ja ein Durchgangsbereich. Deswegen soll mit dieser atonalen Musik erreicht werden, dass man den Bereich eher schnell verlässt, als sich niederzulassen.

Haben Sie jemanden im Team, die oder der sich mit atonaler Musik auskennt?

Das muss man dann sehen, ob man da Fachleute dazu nimmt.

Für diese Expert*innen-Rolle hat sich in gewisser Weise die Initiative Neue Musik Berlin ins Spiel gebracht – indem sie die neue Geräuschkulisse in einer »Auftaktveranstaltung« am 24. August schon mal antestet, den Zweck aber ins Gegenteil verkehrt: »Am Eingang des S-Bahnhofs Hermannstraße wollen wir mit Essen und Getränken für alle zusammenkommen, um gemeinsam Atonale Musik zu hören oder gar zu spielen. Wir möchten Atonale Musik, die für die Befreiung von (tonalen) Hierarchien und die Gleichwertigkeit aller Klänge steht, als Metapher für gesellschaftliche Gleichberechtigung und Teilhabe verstehen und mit unseren musikalischen Dissonanzen gesellschaftlichen Missklängen entgegentreten«, heißt es in Ankündigung des Spontanevents. Mit dabei: Sirje Aleksandra Viise, Juliana Hodkinson, Ruth Velten, Erik Drescher, Mathis Mayr und Ernst Surberg – live.Die Beschallung mit klassischer Musik aus der Dose haben andere Städte schon längst getestet: Am Leipziger Hauptbahnhof läuft seit Mai 2017 auf den Plätzen auf beiden Seiten des Bahnhofs klassische Musik. Aber welche? Die Fahndung nach der Leipzig-Hbf-Playlist gleicht der Asterix-Obelix’schen Jagd nach Passierschein A38. Ich erreiche eine Mitarbeiterin der »Promenaden Hauptbahnhof«, die für die Einspielung zuständig sind.

Wer wählt die Stücke aus, die da laufen?

Ich glaube, das geht automatisch.

Und aus welchem Pool an Musik werden die Stücke automatisch ausgewählt?

Das Repertoire? Das macht die Haustechnik.

Einen Haustechniker kann ich leider erst am nächsten Tag wieder sprechen:

Welche Musik läuft denn bei Ihnen?

Nur Klassik-Stücke.

Warum haben sie gerade die Stücke ausgewählt, die aktuell laufen?

Weil sie gemafrei sind.

Wie funktioniert die Musikeinspielung technisch?

Wir haben 80 Stücke und die laufen einfach durch.

Foto pilot_micha (CC BY-NC 2.0)
Foto pilot_micha (CC BY-NC 2.0)

Können Sie mir sagen, welche Stücke aktuell bei Ihnen laufen?

Da müssen Sie per Mail eine Anfrage an die Zentrale stellen, ich weiß nicht, ob ich das einfach so rausgeben darf .

Sind sie zufrieden mit der Musikauswahl?

Voll. Weil sie zu unserer Musikstadt Leipzig passt.

Aber es werden ja nicht nur Leipziger Komponistinnen und Komponisten gespielt.

Das stimmt.

Wer wählt denn die Stücke aus?

Unser Center-Manager.

Und wie erreiche ich den?

Da müssen Sie in der Zentrale anrufen.

Ich rufe in der Zentrale an. Der Center-Manager ist nicht erreichbar, meldet sich aber tatsächlich nach einer Stunde zurück – und ist sogar auskunftsfreudig.

Wie oft wird die Playlist erneuert?

Unregelmäßig. Aber wir müssen den Zuhörern, die da vorbeigehen, natürlich regelmäßig etwas Neues bieten. Wir nehmen keine besondere künstlerische Auswahl vor. Wir schauen nur, dass es keine beschwerliche Musik ist, sondern etwas, was eine insgesamt fröhliche Ausstrahlung hat. Es gibt ja verschiedenste ›klassische Musik‹ (die Anführungszeichen spricht er extra mit). Wir spielen keine Zwölftonmusik oder zweistündige Orgelwerke. Ich höre mir auch nicht jedes einzelne Stück komplett an, ich mache eher Hörproben – sonst könnte ich ja einen eigenen Musikdirektor beschäftigen! Wir haben aber schon geguckt, dass es bekannte Stücke sind.

Wir wollen uns damit mit der Musikstadt Leipzig identifizieren. Wir haben beim Bachfest 2017 damit angefangen und das ist ganz gut angekommen. Seitdem haben wir das.

Wie sehen die Rückmeldungen aus?

Man hat ja in der Presse schon einiges lesen können. Es gibt vor allem in der Politik Leute, die das kritisch sehen, weil wir angeblich Obdachlose vertreiben wollen. Das ist aber gar nicht unsere erste Intention. Wir erfahren eigentlich durch Kunden-Rückmeldungen durch die Bank ein positives Feedback. Ich musste auch schonmal einem Musikprofessor aus München eine Version von Liszts Ungarischer Rhapsodie überstellen, weil der sich gefragt hat, welcher Künstler da spielt.

Wer ist überhaupt auf diese Idee gekommen mit der Musik auf den Bahnhofsvorplätzen?

Letzten Endes wir – also in Persona: ich.

In Leipzig passiert also ziemlich das Gegenteil von dem, was sich in Berlin abspielt: Wohlfühl-Klassik, bloß nichts »Beschwerliches«, gar Zwölftöniges. Und: Der Center-Manager scheint zumindest grob zu wissen, wovon er in musikalischer Hinsicht spricht. Ganz im Gegenteil zu Berlin – und Hamburg. Da wurde nach mehreren Jahren der Klassik-Berieselung (»Die Bahn möchte mit der Musik eine angenehme Atmosphäre und eine positive Grundstimmung für die Kunden schaffen. Die leichte klassische Musik läuft auf dem Bahnhofsvorplatz und an den beiden Ausgängen Richtung Kirchenallee«) am Hauptbahnhof im September 2014 das Genre gewechselt: Die Reisenden werden nun, so teilt man mir per Mail mit, mit »Chillout-Lounge-Musik« empfangen. Warum? Kein Kommentar, aber der Wechsel war »erfolgreich«. Auf die Frage, welche klassische Musik denn vorher gespielt wurde, lautet die schlichte Antwort: »Diese Informationen liegen uns leider nicht vor.« Sie kann wohl einfach nicht aus ihrer Haut, die Deutsche Bahn …Letzte Station auf der Suche nach der ultimativen Bahnhofs-Playlist: München Underground. Seit 16 Jahren laufen hier an 10 U-Bahnhöfen dieselben 300 Minuten klassische Musik – kuratiert von Andreas Steinbeisser, den ich telefonisch erreiche.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in den U-Bahnhöfen klassische Musik zu spielen?

Das Thema Sicherheit spielt bei uns immer wieder eine Rolle. München ist eine der sichersten Städte Deutschlands und der Münchener Untergrund ist erst recht sicher. Es wird immer wieder gesagt: ›Die U-Bahn ist unsicher, da wird man überfallen‹, das ist totaler Bullshit. Die U-Bahn hat ein Problem: Im Gegensatz zur Oberfläche, wo Kameras nach wie vor verpönt sind, haben wir alles ausgeleuchtet mit Kameras. Wenn irgendetwas passieren sollte, dann liefern wir die Bilder dazu, die Medien greifen die auf mit fetter Schlagzeile: ›Der U-Bahn-Schläger von München.‹ So wird das Bild einer unsicheren U-Bahn suggeriert. Die Oberfläche ist 100-fach unsicherer – aber da gibt’s keine Bilder. Das Problem war also: Man fühlt sich in der U-Bahn unsicher. Dann haben wir festgestellt: Musik in U-Bahnhöfen gibt ein gutes Gefühl. Wir haben 10 ›unsichere‹ U-Bahnhöfe ausgesucht, die bespielt mit Musik und eine Befragung gemacht. Und festgestellt, dass die Musik tatsächlich zu einem subjektiv besseren Sicherheitsempfinden bei den Kunden führte.

Foto ‎Frank Wegener (CC BY-ND 2.0)
Foto ‎Frank Wegener (CC BY-ND 2.0)

Warum gerade klassische Musik?

Wenn man Musik in der Öffentlichkeit abspielt, ist das natürlich gema-pflichtig und die Gema hat seinerzeit nach bespieltem Publikum oder nach bespielten Quadratmetern abgerechnet. Wir haben über eine Millionen Fahrgäste pro Tag und ich weiß nicht wie viele Quadratmeter Fläche – das wäre teuer geworden. Darum habe ich mich an einen Verlag gewandt, der mir gemafreie Musik zur Verfügung gestellt hat. Ich hab dann einfach 300 Minuten Musik zusammengestellt. Ich komme jetzt nicht zu 100% aus der Klassik, bin eher rock-orientiert und hab einfach unwissenschaftlich nach meinem Geschmack – das klingt gut, das kennt man – Musik zusammengestellt. Das läuft jetzt seit 2002, das könnte man auch mal ändern. Aber ich habe auch schon Zuschriften bekommen von Leuten, denen die Zusammenstellung so gefällt, dass sie fragen, ob es die auf CD gibt.

Die München-Underground-Playlist


Eine erlesene Mischung aus Wohlfühl-Watte und sanft säuselnder, bei zunehmender Hördauer jedoch immer brutaler arbeitender Nervensäge – wir haben die komplette Playlist!

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass man die Musik kennt? Man könnte doch auch mal ein paar Geheimtipps spielen.

Die Tonqualität war früher sehr schlecht. Damals haben wir noch mit CD-Playern gearbeitet, mit einer Anlage, die eine Resonanz-Frequenz bei 1kHz hat (hält sich die Nase zu), das klingt alles wie durch die Nase. Deswegen sollte man die Stücke wenigstens kennen. Das ist heute etwas besser, aber weit entfernt vom Konzertsaal.

Die Suche nach der ultimativen Bahnhofs-Vorplatz-Klassik-Playlist in @vanmusik.

Fühlen sich die Fahrgäste sicherer, weil sie etwas Vertrautes hören, oder weil – was immer unterstellt wird – mit solcher Musik unliebsames Publikum vertrieben werden soll?

Ich glaube, alles, was ruhig ist, sphärisch, wirkt beruhigend. Rap würde ich da unten nicht spielen. Unabhängig von der Musikrichtung geht einem Musik irgendwann auf die Nerven. Es ging nicht darum, mit klassischer Musik irgendjemanden zu vertreiben, aber wenn so ein Raum von Menschen belegt werden sollte, die sich dort länger aufhalten wollen – denen geht Musik an sich auf die Dauer auf die Nerven. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com