Auf den Tag genau vor 70 Jahren, am 3. März 1951, kam in Londons Norden – genauer gesagt: in Hornsey – Lindsay Cooper auf die Welt. Ab dem Alter von elf Jahren erhielt Lindsay Klavierunterricht, wechselte aber ein paar Jahre später zum Fagott. Motiviert wurde sie offenbar vom Sohn ihres Klavierlehrers, der als Fagottist für das renommierte Bournemouth Symphony Orchestra tätig war. Als 14-Jährige ging sie in den Südwesten Englands, um am Dartington College of Arts (Grafschaft Devon) und schließlich am Royal College of Music in London Fagott zu studieren. Offenbar hatte Cooper zunächst den Entschluss gefasst, eine ähnliche Orchester- oder Solo-Laufbahn wie der Sohn des besagten Klavierpädagogen einzuschlagen. In »The Guardian« heißt es: »Lindsay war eine klassische ausgebildete Fagottistin, die aber eine Karriere im Orchester ablehnte, um das Leben einer Rockmusikerin auf Tour zu leben.« Diese Entscheidung hatte möglicherweise mit ihrem einjährigen Aufenthalt in New York City zu tun, von dem sie Ende der 1960er Jahre zurückkehrte.

Zunächst wurde Cooper temporäres Mitglied der Progressive-Rock-Band Comus (1969–1974, Neugründung 2008), die sich im Südosten Londons gegründet hatte. Zu der üblichen Besetzung dieser Band (Gesang, Gitarre, Bass, Percussion) holte sich Comus regelmäßig Orchester-Instrumentalist:innen ganz verschiedener Couleur dazu, darunter eben Lindsay Cooper am Fagott. Auf dem Comus-Album To Keep from Crying (1974) hört man Cooper bereits beim allerersten Song Down (Like a Movie Star). Ab Sekunde 57 vernehmen wir im Hintergrund Fagott-Töne als »Ersatz« für den E-Bass, die bei Minute 1:49 sogar als präsentes Solo offenbar werden.

In dieser Zeit erlernte Cooper – zusätzlich zum Fagott – das Spiel an Flöte und Oboe und war somit noch attraktiver für Engagements diverser Bands. Im selben Jahr der Comus-Platte wurde sie von Mike Oldfield für sein sphärisches und folkloristisch geprägtes (sich vom Titel her auf eine Landschaft entlang der Grenze von England und Wales beziehendes) Album Hergest Ridge engagiert. Hier ist Cooper (oder die andere Oboistin des Albums, June Whiting) bei Minute 8.45 erstmals zu hören.

Im Rahmen eines Theaterprojekts stieg Cooper außerdem bei der Avantrock-Band Henry Cow ein und arbeitete mit der Gruppe bis Ende der 70er Jahre. 1978 gründete Cooper, inzwischen im ganzen Land von diversen Bands als Multi-Instrumentalistin umschwärmt, mit der Feminist Improvising Group das erste prominente Ensemble, das als frei improvisierende Gruppe ausschließlich aus Frauen bestand. Mitglied der Band war unter anderem die Sängerin Sally Potter (*1949), die später als Regisseurin mit Filmen wie Orlando (1992, zweimal für den Oscar nominiert, Tilda Swinton in der Titelrolle) und The Man Who Cried (2000, mit Christina Ricci, Cate Blanchett und Johnny Depp) bekannt wurde. Für die Musik für ein paar der früheren ihrer Arbeiten engagierte Potter – größtenteils später selbst komponierend – Lindsay Cooper. Durch ihr interdisziplinäres Können lernte sie den ebenfalls auf kompositorischen, wie interpretationspraktischen und filmischen Ebenen aktive Heiner Goebbels (*1952) kennen, der insbesondere von der speziellen, teils durch Elektronik verstärkten Spielweise Coopers am Fagott begeistert war.

1991 wurde bei Cooper Multiple Sklerose diagnostiziert. Ende der 90er Jahre machten die Folgeerscheinungen der Erkrankung eine Fortsetzung ihrer musikalischen Laufbahn als live oder im Studio tätige Interpretin unmöglich. Cooper konzentrierte sich auf das Komponieren – und verstarb am 18. September 2013 im Alter von nur 62 Jahren. Als eine von ganz wenigen Musikerinnen überhaupt hatte sie den Spagat zwischen E-Musik-Avantgarde, diversen Rockmusik-Stilen, Jazz, Neuer Musik und freier Improvisation geschafft – und dafür durchgehend Anerkennung bekommen.


Lindsay Cooper (1951–2013)Paulskirche (1987)

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Benannt nach der Frankfurt Paulskirche entstand ebendort 1987 ein Track für Coopers Album A Classic Guide To No Man’s Land, der scheinbar für zwei Filme der deutschen Regisseurin Claudia von Alemann (*1943) komponiert worden war, wohl auch für die ARD-Fernsehreihe Unerhört – Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung von 1830 bis heute aus demselben Jahr.

Paulskirche beginnt im Klavier mit kristallinen Minimal-Music-Anklängen; eiskalte Sprünge auf der Klaviatur. Dazu bringt das Saxophon – gespielt von Lindsay Cooper – jazzige Melodie-Fragment-Kontrapunkte ins Spiel. Nach einer halben Minute unterbricht die Posaune verärgert die gechillte, aber Interesse weckende – keineswegs harmlos-untermalende – Szenerie. Jetzt beginnt ein höchst interessantes, angenehm lärmendes, angeraut atmendes Getöne der ganzen Band, das plötzlich in einen harmonisierenden Walzer à la Russe überführt wird. Filmmusik auf allerhöchstem, ironischem, instrumentatorisch kitzelndem Niveau. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.