Zu Beginn des Jahres 1923 stand das Leben in Berlin ganz im Zeichen einer Hyperinflation. Dinge des alltäglichen Bedarfs kosteten plötzlich Millionen, bald Milliarden. Die Inflation hatte bereits während des Ersten Weltkriegs begonnen. Doch jetzt, kurz nach Neujahr 1923, explodierten die Preise förmlich. Kaufleute mussten extra Räume anmieten, nur um die schieren Massen von Papiergeld irgendwo unterzubringen.
Und genau in dieser Zeit der Hyperinflation wurde Ursula Meyer in Berlin geboren: am 1. Februar 1923. Ihr Vater starb bereits im Oktober 1924. Mutter Thea (geb. Goldberg) heiratete 1929 Hans Lewy. Ursula Meyer nahm den Namen ihres Stiefvaters an und hieß nun Ursula Lewy. In Berlin-Charlottenburg besuchte sie die Grundschule und schließlich das Gymnasium.
Früh erhielt Ursula Meyer Klavierstunden und schon ab dem 12. Lebensjahr kam regelmäßiger Kompositionsunterricht hinzu. Dafür verantwortlich zeichnete der von ihr bis zuletzt verehrte Dirigent, Komponist, Pianist und Musikologe Gustav Ernest (1858–1941). Als Ernest 1938 80 Jahre alt wurde, gratulierte man ihm noch im Jüdischen Gemeindeblatt für Berlin zum Geburtstag. Zur gleichen Zeit musste Ursula Lewy als Angehörige einer jüdischen Familie das Gymnasium verlassen und auf eine Berufsschule wechseln, in der sie, wie wir auf der Seite der Mamlok-Stiftung lesen, »[…] vor allem Betten machen und Bügeln lernen sollte. Nach wenigen Wochen wurde ihr auch hier die Teilnahme am Unterricht untersagt, in diesem Fall für die angehende Komponistin eine Erlösung. Sie konnte sich nun ganz ihrer Musik widmen und sich aufs Klavierspielen und Komponieren konzentrieren.«
Gerade noch rechtzeitig konnte die Musikerin mit ihrer Familie im Februar 1939 nach Ecuador fliehen. Von dort aus hatte sich ein Verwandter gemeldet. Die Großeltern blieben allerdings zurück. Großvater Emanuel Goldberg starb, weil man ihm den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten entzog. Die anderen Großeltern starben wohl an Entkräftung – in den Lagern von Theresienstadt und Treblinka.
Ursula Lewy erhielt von Ecuador aus ein Stipendium und konnte damit ab Sommer 1940 an der Mannes School of Music in New York Komposition bei dem bekannten Dirigenten George Szell (1897–1970) studieren. Für einen Sommerkurs wechselte sie 1944 nach North Carolina, wo sie für sich die Werke der Wiener Schule entdeckte. Auch traf sie hier auf Ernst Krenek (1900–1991) und besuchte dessen Kompositionsmeisterklasse. (Weitere Kompositionslehrer kamen später noch hinzu.) 1947 heiratete sie den aus Hamburg stammenden Geschäftsmann und Schriftsteller Dwight (Dieter) Mamlok und nahm dessen Nachnamen an.
Nach vielen Jahren, an denen Ursula Mamlok Musiktheorie und Komposition an verschiedenen Institutionen in New York (unter anderem an der Manhattan School of Music) unterrichtet und weiter komponiert hatte, starb 2005 ihr Ehemann. Nun hielt sie nichts mehr in den USA. Ein Jahr später zog Ursula Mamlok zurück in ihre Heimatstadt Berlin. Nach 67 Jahren.
Bis zuletzt galt die Musik Ursula Mamloks in Deutschland noch als »Geheimtipp«. In den letzten Monaten ihres Lebens konnte sie sich immerhin an den Uraufführungen ihrer Werke an kleineren Spielstätten erfreuen. Mamlok starb mit 93 Jahren am 4. Mai 2016 in Berlin.
Ursula Mamlok (1923–2016)
Sonate für Klavier (1942)
So richtig »wiederentdeckt« sind die Werke von Ursula Mamlok immer noch nicht, trotz immerwährender »lobender Erwähnungen«. Dabei komponierte Mamlok fast 100 (sowohl vermittlerisch als auch wohl editorisch leicht zugängliche) Werke – für ganz unterschiedliche Besetzungen, insbesondere viel Kammermusik. Ihre Sonate für Klavier ist allerdings ein Frühwerk, 1942 in New York komponiert.
Wir hören im ersten Satz (Allegro moderato) Unisono-Oktaven, die ein wenig wie »Neue Sachlichkeit in der Musik« tönen. Und dennoch ist da ein nachdenkliches Umhergründeln – und dort plötzlich ein ganz »normaler« Kadenzabschluss (anders als bei Hindemith, der Zentraltöne oder Grundharmonien auf verstiegeneren Wegen erreichte). Hier sumpft etwas chromatisch zur Seite weg. Nach etwa 90 Sekunden werden auch tiefere Regionen des Klaviers erforscht. Dann die Wiederkehr der anfänglichen Oktaven. Ganz nüchtern werden Linien vorgestellt; nach mehr als zwei Minuten klingen dann einzelne Momente so, als hätte Prokofjew Pate gestanden. Dessen zünftige, maschinelle Antriebspower tritt hier jedoch zugunsten einer gewissen Gelassenheit zurück. Vielleicht könnte man sagen: Hindemith, gemischt mit Prokofjew-Einflüssen und Brahms-Tonketten. »Amerika« hört man hier nicht! ¶