Nach Ende des Koreakrieges musste sich das bodenschatzarme Südkorea mit großen Mühen dem Aufbau des Landes widmen. Südkoreas Präsident Syngman Rhee ließ 1952 viele Oppositionelle verhaften, betrieb Misswirtschaft und justierte 1956 mittels einer Verfassungsänderung die Gesetzeslage zu seinen Gunsten derart, dass ihm fortan prinzipiell unbegrenzt viele weitere Amtszeiten möglich gewesen wären. Man erinnert sich an das Gehabe von Wladimir Putin in unseren Tagen.

Nach massiven Demonstrationen gegen den autokratischen Führungsstil von Präsident Rhee trat dieser im April 1960 zurück und flüchtete ins Exil nach Hawaii. Der Übergangsregierung, die sich wieder um eine demokratischere Politik bemühte, gelang es nicht, die wirtschaftliche Misere zu beenden. Und am 16. Mai 1961 putschte sich schließlich das Militär unter Führung des Generals Park Chung-hee an die Macht.

Fast genau zwei Monate später, am 14. Juli 1961, wurde Unsuk Chin in Seoul geboren. Ihr Vater war ein evangelischer Geistlicher und offenbar musikalisch selbst nicht vorgebildet. So brachte sich Unsuk Chin als Kind selbst das Klavierspielen bei. Traditionell spielte schon damals in Südkorea das »abendländische« Repertoire des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Hauptrolle bei der Ausbildung junger Musiker:innen. Trotzdem studierte Unsuk Chin zunächst Komposition bei einem südkoreanischen Lehrer an der Seoul National University. Ein DAAD-Stipendium brachte sie in den Jahren 1985 bis 1988 an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Hier studierte Unsuk Chin bei György Ligeti, der zu dieser Zeit die wohl produktivste künstlerische Phase seiner Laufbahn erlebte, unter anderem den ersten Band der revolutionären Études pour Piano(1985) vorlegte und als Komposition unterrichtender Prominenter ganze Generationen stilistisch prägte (was sich bis heute leider in langweilig tönenden – »virtuosen« – Imitationsstückchen diverser Ligeti-Anhänger:innen niederschlägt).

ANZEIGE

Mit Ligeti geriet Unsuk Chin aber wohl in einen Konflikt. Der Komponist hatte sich in diesen Jahren fast beleidigt endgültig von der deutschen Avantgarde – sprich: von den Festivals in Darmstadt, Donaueschingen und Witten – abgekehrt. Seine ganz eigene Mischung von Jazz, Debussy, von Musikeindrücken nicht notierter Musik, Alter und mechanischer Musik galt als »postmodern« und »witzig«. Die avantgardistischen Bestrebungen Unsuk Chins lehnte Ligeti demzufolge eher ab. Chin geriet in der Folge mit Mitte Zwanzig in eine künstlerische Krise und komponierte angeblich drei Jahre lang kein einziges Werk. Die Komponistin blickt wie folgt auf jene Jahre zurück (zitiert nach dem Artikel von Torsten Möller): »Ich war erst 24, es war ein Kulturschock für mich. Ich kam aus Südkorea, ein damals unfreies und armes Land, in dem jeder zu kämpfen hatte. Ligeti sagte zu mir, alle meine Kompositionen wären unoriginell und ich sollte sie lieber wegwerfen. Dabei hatte ich damit schon internationale Preise gewonnen. Es war eine sehr schwere Zeit für mich und für drei Jahre hatte ich gänzlich aufgehört zu komponieren. Nichtsdestotrotz habe ich sehr viel von seiner Musik gelernt.«

1988 zog Unsuk Chin nach Berlin und beschäftigte sich an der Technischen Universität Berlin vor allem – vielleicht auch als Ausweg aus der Diskussion um Stile, Dissonanzen, Postmodernismen und Postseriellem –  mit elektronischer Musik. In den folgenden Jahren wurde sie zu einer der erfolgreichsten Komponistinnen unserer Zeit, erhielt Aufträge von quasi allen großen Orchestern, Ensembles und Solist:innen dieser Welt.

Unsuk Chin lebt bis heute als freischaffende Komponistin in Berlin.

Unsuk Chin (* 1961)
Konzert für Violine und Orchester (2001)

YouTube Video

Unsuk Chins Oper Alice in Wonderland wurde 2007 in München uraufgeführt. Außerdem liegen Kompositionen für Stimmen und Orchester beziehungsweise Ensemble, drei Orchesterwerke, sechs Kammermusikkompositionen, einige Klavieretüden, Elektronik-Arbeiten sowie fünf Werke für Solo-Instrument und Orchester vor.

Das Konzert für Violine und Orchester wurde am 20. Januar 2001 von Viviane Hagner und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Kent Nagano in der Philharmonie Berlin uraufgeführt. Ganz eigenartig beginnt das Werk mit quasi komplementärrhythmisch ineinandernuschelnden Marimbas. Dazu tremolieren Steel Drums ganz leise. Die sich darüber setzende Solo-Violine trumpft negativ auf, indem sie rhythmisch versetzt »Einstimmungen« vornimmt. Quasi-Leersaiten, zu Beginn eines Nichts aus weder tonalen noch dissonanten Klängen.

Völlig unauffällig kommt ein Kontrafagott hinzu, ebenso ein Kontrabass – sprich: Instrumente, die man fast nie (solistisch) hört. Hier wird eine Ursuppe aus extrem ermatteten, angegrauten und unspezifisch artikulierten Klängen gekocht! Die leeren Saiten der Violine entpuppen sich als rhythmisch ausdifferenzierte Aneinanderreihung von Flageolett-Zuständen. Im Hintergrund scheinen sich Bass-Melodien zu entwickeln, immer mehr Instrumente gesellen sich hinzu, hier und da tauchen die »exotischen« Perkussionsinstrumente aus der Orchestermischung heraus. Zunehmend rhythmisiert die Solo-Violine ihre fahlen Klänge – und nach fast zweieinhalb Minuten passiert »endlich« etwas Traditionelles: Die Solo-Geige bringt einen »virtuosen« Abgang und verharrt erst einmal auf einem dunklen Klang auf ihren tiefsten Saiten.

Unsuk Chins Musik lebt von dem Mut zum Uneigentlichen, der sich nicht sofort daran selbst ergötzt, »Hallo, ich bin uneigentlich!« im darmstädtischen Sinne zu brüllen. Die Komponistin beherrscht die Kunst schlicht interessanter Instrumentation. Ein Stück, in das man naiv zuhörend hineingeraten kann. Ein ungewöhnlicher Film im Kopf. Gut! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.