Juli 1846. Laut des Königlich Bayerischen Polizey-Anzeigers wurden im Juli des Jahres eine ganze Reihe von Straftaten verübt: »Ungeeignetes Benehmen beim Amte« (Vorfälle: 7), »körperlicher Misshandlung Anderer« (39), »Beleidigung der Gendarmerie« (11), »Störung der nächtlichen Ruhe« (24), »Einmischung in Arretierungen« (5), »Nichteinrichtung des Stadtzolles« (15) und andere Ordnungswidrigkeiten wurden bekanntgemacht. Ob das Aufkommen von Verfehlungen der Bürgerinnen und Bürger Münchens damit hoch oder niedrig einzuschätzen ist, das scheint nicht sofort ersichtlich. Für die Musikgeschichte spielt dies auch keine Rolle. Die Geburt von Sophie Menter am 29. Juli 1846 – ebendort in München – sehr wohl. (Einer glaubhaften Quelle zufolge kommt wohl auch der 19. Juli als Geburtstag infrage.)
Sophies Mutter legte ihrer Tochter sowie deren Schwestern das Erlernen des Klavierspiels nahe. Wilhelmine Menter (geb. Diepold) war selbst Sängerin und ließ Tochter Sophie – insgesamt waren neun Kinder im Haus – zunächst von zwei älteren Schwestern unterrichten. Mit sieben Jahren wechselte sie zu dem Münchner Klavierlehrer Sigmund Lebert und wurde schon zwei Jahre später am dortigen Konservatorium als Klavierstudentin aufgenommen. Die Tochter des Cellisten Josef Menter wuchs also in einem aufgeklärt-bürgerlichen Umfeld auf, in dem es Mitte des 19. Jahrhunderts keine Revolution brauchte, um einer Frau auch eigenschöpferisch, kompositorisch freie Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Sophie Menter studierte am Konservatorium Klavier bei dem komponierenden. aber als Komponisten vergessenen Pianisten Julius Emil Leonhard (1810–1883). Musiktheorie-Unterweisungen kamen von dem heute ungleich bekannteren Organisten und Komponisten Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901). Silke Wenzel berichtet in ihrem hervorragenden, quellenreichen Artikel, wie Menter durch das Zutun des damaligen städtischen Münchner Musikdirektors Franz Lachner (1803–1890) zur Fortsetzung des Studiums bei dem Pianisten Friedrich Niest (1816–1892) animiert wurde, so dass die hochbegabte 15-Jährige 1861 als Solistin das bisweilen heute noch auf den Programmen auftauchende Konzertstück f-Moll op. 79 Carl Maria von Webers öffentlich präsentieren konnte. Bald folgten Konzertreisen in den Südwesten Deutschlands und in die Schweiz, 1867 gab Menter ihr Debüt im Gewandhaus zu Leipzig, das offenbar von weniger Erfolg gekrönt war.
Im selben Jahr (1867), traten berufliche und private Änderungen ins Leben von Sophie Menter, denn nun, so Wenzel, nahm die Musikerin »eine erste Anstellung als Hofpianistin des Fürsten von Hohenzollern in Löwenberg (Schlesien) an. Gleichzeitig erhielt sie Unterricht von Carl Tausig (einem Schüler Franz Liszts) an dessen ›Akademie für das Höhere Klavierspiel‹ in Berlin und wurde ab April 1868 vom Löwenberger Hof freigestellt, um dort ihr Studium zu beenden. In Löwenberg traf Sophie Menter auch mit dem Cellisten David Popper zusammen, der zu dieser Zeit ebenfalls eine Anstellung am Löwenberger Hof hatte. Das Paar heiratete 1872. Über die erste Zeit ihrer Ehe ist bislang nur wenig bekannt. Sophie Menter unternahm zahlreiche Konzertreisen gemeinsam mit ihrem Mann. In den Jahren 1875 und 1878 reiste das Ehepaar durch das Baltikum, wo die beiden im November/Dezember 1875 sowie im Frühjahr 1878 in Riga auftraten. Als Sophie Menter 1877 zur k.k. Hofpianistin ernannt wurde, ließ sich das Ehepaar vermutlich in Pest nieder.«
Das Studium bei Liszt-Schüler Carl Tausig zahlte sich aus: Sophie Menter wurde zu einer in vielen Ländern Europas sehr erfolgreichen Pianistin, vor allem ihre Interpretation des Lisztschen Klavierkonzerts Es-Dur entzückte das Publikum. Menter konnte es sich, so Wenzel, Anfang der 1880er Jahre sogar leisten, das Angebot einer Klavier-Professur am legendären Petersburger Konservatorium abzulehnen, vergleichbar damit, in den 1990er Jahren eine ebensolche Professur in Hannover nicht anzunehmen. 1884 übernahm Menter aber doch noch eine Klavierklasse in Sankt Petersburg. Wenzel: »Nachdem jedoch im Januar/Februar 1887 Carl Davidoff als Direktor des Konservatoriums abgewählt wurde und Anton Rubinstein diesen Posten wieder übernahm, wurde Sophie Menter nach verschiedenen Differenzen mit Anton Rubinstein entlassen. (…) Nach ihrer Scheidung von David Popper 1886 und ihrer Rückkehr aus Russland, zog Sophie Menter in das Schloss Itter bei Kitzbühel (Tirol), das sie 1884 gekauft hatte. Zwischen 1888 und 1894 konzertierte sie alle zwei Jahre in der Londoner Saison und wurde auch dort für ihr virtuoses Spiel und ihre eigenwilligen Interpretationen berühmt.«
Durch die engen Kontakte zu Liszt und bald auch Tschaikowsky wurde Menter nicht nur pianistisch, sondern schließlich auch kompositorisch beeinflusst. Liszt wurde zu einem sehr engen Freund und Förderer – und Tschaikowsky widmete ihr 1884 seine Konzertfantasie op. 56 (quasi eine Art Nussknacker-Suite für Klavier und Orchester – völlig vergessen, herrlich komponiert). Prominenter ging es eigentlich nicht mehr. Bald war jedoch ihre Zeit als Pianistin vorbei und Menter konnte sich aufs Komponieren fokussieren. Unter anderem entstanden ihre beliebten Ungarischen Zigeunerweisen für Klavier solo, die Tschaikowsky höchstselbst 1892 auf Grundlage einer Fassung für zwei Klaviere orchestrierte und stellenweise bearbeitete. Auch Liszt interessierte sich für dieses Werk, von dem einige Forscherinnen und Forscher wohl annehmen, dass es möglicherweise von ihm selbst stamme.
Das 1884 erworbene Schloss Itter im schönen Tirol verkaufte Menter 1901, um nach Berlin zu ziehen. In Berlin unterrichtete sie eine Vielzahl später berühmter Pianistinnen und Pianisten. 1906 war sie bereits längst zu einer Art Pianistinnen-Komponistinnen-Legende geworden, die man – wie beispielsweise Mahler und Debussy – bat, auf dem ersten ernsten »Aufnahmemedium«, dem Welte-Mignon-Lochstreifen-Klavier, der Nachwelt etwas von ihrer Kunst zu überliefern. (Leider spielte Menter »nur« Liszt, nicht ihre eigenen Werke auf Welte-Mignon ein.)
Wohl im Jahr 1912 trat Menter letztmals als Solistin in München auf. Wieder mit ihrem »Entdecker-Stück«, dem ersten Klavierkonzert von Freund und Lehrer Liszt. Sophie Menter starb am 23. Februar 1918, südwestlich von München, Richtung Starnberger See, in Stockdorf. Sie wurde 71 Jahre alt.
Sophie Menter (1846–1918)
Romanze F-Dur op. 5 für Klavier (1907)
Viele Werke sind von Sophie Menter nicht überliefert. Nur wenige Stücke für Klavier solo sind bisher bekannt. Über den Rest wissen wir aktuell wenig bis nichts. Eine der damals (1907) in Leipzig im Druck erschienenen Werke ist die Romanze F-Dur op. 5 für Klavier. Melodie-Töne, die schön festfrieren, werden von eleganten, leicht melancholischen 16tel-Linien unterlaufen. Ein d-Moll-Teil bringt eine traditionelle harmonische Abwechslung, es wird ernster. Die lyrisch-märchenhafte Nachdenklichkeit von Robert Schumanns Werken wird sichtbar am Horizont. Bald verhakt sich das Geflecht harmonisch in ferne Gefilde des einerseits frohgemuten andererseits amourös-rückschauenden Reflektierens. Ein feines Stück. ¶