Morgen vor genau 90 Jahren starb die polnische Pianistin und Komponistin Nathalie Janotha. Am 9. Juni 1932. Und heute vor genau 166 Jahren wurde sie geboren. Am 8. Juni 1856. In Warschau. Wenige Wochen vor dem tragisch frühen Tod von Robert Schumann (am 29. Juli 1856).

Man weiß fast nichts über die Herkunft oder die Profession von Nathalie Janothas Mutter. Ihr Vater Juliusz wirkte als Klavierprofessor am Warschauer Konservatorium – und wurde, naheliegend, der erste Klavierlehrer seiner Tochter. Ab ihrem 13. Lebensjahr wurde die Hochbegabte an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin Kontrapunkt-Schülerin des Komponisten Woldemar Bargiel (1828–1897) und Klavier-Studentin des komponierenden Pianisten Ernst Rudorff (1840–1916). Von 1871 bis 1874 war sie zusätzlich eine der vielen Klavierschülerinnen der legendären Clara Schumann.

Silke Wenzel zitiert aus einem Artikel der »Neuen Zeitschrift für Musik« von 1874. Janotha war zu dieser Zeit als Solistin im Gewandhaus Leipzig aufgetreten – und zwar mit Mendelssohn Bartholdys Konzert für Klavier und Orchester g-Moll op. 25. Der Rezensent fand folgende Worte über das Klavierspiel der 17-Jährigen: »Umso mehr Interesse erregte die an diesem Abende auftretende Pianistin, ein erst etwa fünfzehnjähriges [sic] Mädchen, Natalie Janotha aus Warschau. Seit langer Zeit ist uns nicht in diesem Alter so überraschende Reife verständnißvoller Auffassung, ein so gesunder künstlerischer Sinn, gepaart mit Anmuth und sinniger Belebtheit der Darstellung wie mit bereits ungewöhnlich gleichmäßig ausgebildeter glänzender virtuoser Technik vorgekommen. Alles weist darauf hin, daß Frl. J., welcher zugleich das große Glück bereits dreijähriger Leitung ihrer Ausbildung durch Clara Schumann zu Theil geworden, ein hoher Beruf für ihre Kunst innewohnt.«

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Janotha konnte sich früh als Pianistin auf dem blühenden Markt junger Klaviertalente in Europa durchsetzen. 1884 gab sie ihr Berliner-Philharmonie-Debüt mit Schumanns a-Moll-Klavierkonzert; mit niemand Geringerem als Joseph Joachim am Dirigierpult. (Wie Hatano Sayuri in seiner Dissertation »Der intellectuelle Urheber bin doch ich!« Der Konzertagent Hermann Wolff als Wegweiser des Berliner Konzertlebens 1880 bis 1902 nachweist, kam es noch vor 1902 zu mindestens einem weiteren Solistinnenauftritt mit den Berliner Philharmonikern.) Ein Jahr zuvor war Janotha erstmals selbst als Klavierlehrerin in Frankfurt tätig geworden. Mit Clara Schumann hatte sie sich dabei offenbar massiv zerstritten. Doch zu solchen Episoden kam es im Leben Schumanns hinsichtlich möglicher Konkurrentinnen wohl nicht selten, wie vielfach nachzulesen ist. Der Streit mit Schumann brauchte Janotha nicht zu kümmern, galt sie doch zwischen 1875 bis 1915 über vier Jahrzehnte (auch ohne das Zutun Schumanns) als eine der geschäftigsten und begehrtesten Pianistinnen ganz Europas.

Die Jahre nach dem Berlin-Debüt bestanden für Nathalie Janotha gewissermaßen aus einer fast pausenlosen Konzerttournee – durch Länder wie Russland, England und Italien. In England spielte sie auch einmal vor Queen Victoria. Die Dauerbeschäftigte fand neben den vielen Konzerten (und Konzertreisen!) dennoch immer wieder die Zeit, eigene Stücke zu komponieren. Und – auch damit befand sich Janotha damals in guter Gesellschaft: Regelmäßig setzte sie ihre Kompositionen auf die Programme ihrer eigenen Klavierrecitals. (Mittels der Anfang des 20. Jahrhunderts erfundenen Welte-Mignon-Technik ist das brillante, schön brummende, witzige Klavierspiel Janothas sogar gewissermaßen »live« überliefert worden.) Besonders liebte Janotha die Klavierkompositionen Frédéric Chopins (hier ist leider nur eine einzige Welte-Mignon-Einspielung erhalten geblieben), dem sie nicht nur pianistisch und kompositorisch nacheiferte, sondern den sie sich durch die Edition und Publikation neuer Notenausgaben nachhaltig (noch) bekannter zu machen anschickte.

Die inzwischen nach England übergesiedelte Janotha konnte bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges in Großbritannien konzertieren. Da sie sich aber seit 1885 offiziell »Königlich-preußische Hofpianistin« nennen durfte, wies man sie 1915 aus. In den Folgejahren zog sich Janotha aus dem Konzertleben zurück, wohnte bald in Den Haag und trat nur noch in seltenen Ausnahmefällen überhaupt als Pianistin in Erscheinung. Dann verliert sich gewissermaßen ihre Spur. (Hier ist dringender Forschungsbedarf anzumelden; auch und insbesondere, was die zeithistorischen Hintergründe des Rückzugs Janothas angeht.) Manchmal, so erwähnt Wenzel, begleitete sie noch die Tänzerin Angèle Gydour, über die nichts Weiteres herauszubekommen ist. Standen Gydour und die (ein Leben lang unverheiratete) Janotha etwa in einer Liebesbeziehung? Reine Spekulation.

Nathalie Janotha verstarb am 9. Juni 1932 76-jährig in Den Haag.


Natalie Janotha (1856–1932)
Gavotte impériale für Klavier (1890)

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Trotz Janothas profunder Klavierkarriere entstanden rund 400 Werke; vornehmlich solche für ihr eigenes Instrument. Hinzu kamen Kunstlieder und Chorwerke. Auffällig, so bemerkt auch Wenzel, sind die vielen Widmungs- und Festkompositionen für Adelige europäischer Königshäuser. Janotha war also nicht nur in pianistischer, sondern auch in wirtschaftlich-netzwerkerischer Hinsicht sehr erfolgreich.

Von 1904 stammt eine Welte-Mignon-Einspielung der 1890 komponierten Gavotte impériale. So »herrschaftlich« dünkt dieses schöne Stück Klaviermusik zunächst gar nicht! Das wirkt höchst melodieverliebt, erzählend; ein wenig vielleicht an ein Kinderpiece Robert Schumanns andockend. Erst dann wird es »imperial«; mit tapsenden Bässen. Doch sehr lustig gerät die Musik in einen leicht chaotischen Strudel der Verdichtung hinein. Die ausgelassenen Teile von Liszts Ungarischen Rhapsodien klingen gewissermaßen »im Hinterkopf« mit. An den späten Liszt wiederum gemahnen kurze, schlichte Linien voller Einsamkeit. Und schon geht es wieder in den Zirkussalon hinein! Sehr wechselvolle, fast ein wenig angenehm »wahnsinnige« Musik! Klasse komponiert. Es darf (auf hohem Niveau) gelacht werden. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.