Der klangvolle – witzig (aber falsch) an Wagners »Weia! Waga! Woge, du Welle! Walla zur Wiege! « erinnernde – Ortsname Walla Walla im US-Bundesstaat Washington geht auf amerikanische Indigene zurück. Dort, wo sich die Blue Mountains langsam neigen, nahe der Grenze zu Oregon, wurde am 15. August 1882 Marion Bauer geboren.
Ihre Eltern – französisch-jüdischer Herkunft – waren in die USA eingewandert. Marions Mutter Julie arbeitete als Sprachlehrerin (wahrscheinlich mindestens für Französisch) – und Vater Jacques verdiente als Kaufmann (er besaß ein Ladengeschäft in Walla Walla) den anderen Teil des Geldes, um die Familie zu ernähren. Marion Bauer war das jüngste von sieben Kindern, die innerhalb einer Zeitspanne von fast 20 Jahren zur Welt gekommen waren. In der großen Familie – so erfährt man aus einer Reihe von Internetquellen – war wohl kaum Raum dafür, sich jedem Kind mit seinen etwaigen musikalischen Entwicklungswünschen ausgiebig zu widmen. Deshalb setzte der erste Klavierunterricht, der Marion Bauer zuteil wurde, angeblich erst recht spät ein.
Nach dem Tod ihres Vaters zog die Familie von Marion Bauer 1890 nach Portland (Oregon). Dort schloss sie 1898 ihre Schullaufbahn ab und folgte ihrer Schwester Emilie nach New York City, um dort Komposition zu studieren. Offensichtlich war neben der Bewältigung virtuoser Klavierliteratur das Interesse am Erstellen eigener Klänge, Formen, Stücke geweckt worden. Hier, in New York also, studierte Bauer ab 1903 bei dem Rheinberger-Schüler Henry Holden Huss (1862–1953). Wie so viele vielversprechende Komponistinnen und Komponisten wies der Weg bald nach Paris. Bauer siedelte nach Frankreich über – gewissermaßen auf den Spuren ihrer Ahninnen und Ahnen – und nahm ein Studium bei Stéphane Raoul Pugno (1852–1914), André Gedalge (1856–1926), Jean Paul Ertel (1865–1933) und der legendären Nadia Boulanger (1887–1979) auf.
Marion Bauer beschrieb eine eindrückliche Laufbahn als Pianistin und Komponistin, doch engagierte sich auch äußerst intensiv in diversen Gremien, Fördervereinen und Akademien, wie wir in der ausführlichen – und frei zugänglichen – Arbeit The versatile Marion Bauer (1882–1955): American composer, lecturer, writer aus dem Jahr 2008 von Sarah Grace Shewbert lesen können.
Bauer schloss ihre Studien nie ab – und wurde trotzdem 1926 Dozentin in der Musikabteilung der New York University. Damit war sie dort eine der ersten Frauen überhaupt. Bis Anfang der 1950er Jahre unterrichtete sie Komposition, Formenlehre, Analyse, Ästhetik und Musikjournalismus. Zu einer ihrer Studierenden gehörte die bereits hier porträtierte Miriam Gideon (1906–1996). Nach ihrer Lehrtätigkeit an der New York University lehrte Bauer an der Juilliard School sowie an der Columbia University. Das kritische, essayistische Schreiben nahm einen bedeutenden Platz im Leben der sonst als Interpretin und Komponistin aktiven Marion Bauer ein. 1925 gründete sie mit Amy Beach (1867–1944) und anderen Komponistinnen die Society of American Women Composers.
Marion Bauer starb – kurz vor ihrem 73. Geburtstag – am 9. August 1955 in South Hadley, Massachusetts.
Marion Bauer (1882–1955)
Vier Klavierstücke op. 21 (1930)
Marion Bauer komponierte Musik für Bühnen, Filme und Orchester. Besonders liebte sie die Kammermusik. Außerdem entstanden Lieder – im Auslaufen der Epoche des Lieder-Schreibens. Die Vier Klavierstücke op. 21 datieren auf das Jahr 1930.
Das erste Stück (Chromaticon) bringt uns eine Mischung von Vergangenem und (damals) »Heutigem« zu Gehör. Tändelnde Linien, aber nicht mehr wirklich tonal; bald fast gewaltvoll, wütend sich selbst zusammenstauchend. Unbrav! Bald angenehm an Debussy erinnernd werden noch größere Tonräume erobert. Eine brütende Atmosphäre, die Girlanden schweben melodisch uneigentlich umher. Man fühlt sich musikgeschichtlich angedockt, doch so richtig zuordnen lässt sich die Musik auch nicht, zumal die Ein- und Ausbrüche höchst modern und expressiv erscheinen. Interessant!
Das zweite Stück (Ostinato) schlängelt ebenfalls irgendwie langsam chromatisch umher, kennt dabei aber angenehm harmonisch ausgeleuchtete Lichtungen. Fast muss man an die langsamen Etüden Ligetis denken, in denen auf eine Weise sehr Ähnliches geschieht. Von einfachen, jazzig-dissonant angehauchten Zuständen polyrhythmischer Natur geht es aufwärts, sich umschlingend, dabei sich verdrehend, radikalisierend – bis hin zu den erwähnten Ausbrüchen. Großartige Musik! ¶