Die Empörung darüber, dass der Bundestag letzte Woche nach der emotionalen Rede von Wolodymyr Selenskyj einfach zur Tagesordnung überging, war groß. Der ukrainische Präsident hatte den Parlamentarier:innen schonungslos das Versagen der deutschen Russlandpolitik vor Augen geführt und um mehr Unterstützung gebeten. Statt sich damit zu beschäftigten, gab es im Plenum direkt im Anschluss parteipolitisches Gezänk und die Bundestagspräsidentin gratulierte zwei Abgeordneten zum 60. Geburtstag.
Vier Wochen dauert der russische Krieg gegen die Ukraine mittlerweile und es scheint, als habe man sich auch in der Klassikwelt schon wieder gemütlich eingerichtet im Protokoll und der eigenen Komfortzone. Die Putin nahestehenden Gergiev und Netrebko hat man nach anfänglichem Zögern schnell entsorgt, als es imagemäßig zu heiß wurde. Dort, wo beide früher ein- und ausgingen, veranstaltet man nun Benefizkonzerte, dekoriert blau-gelb und spielt die ukrainische Nationalhymne. So hat man sich in Windeseile vom Pranger aufs hohe moralische Ross geschwungen.
Mehr als 500 prominente russische Kulturschaffende, darunter auch Gergiev, hatten 2014 einen Brief zur Unterstützung der Krim-Annexion unterzeichnet. »Nach diesem Brief konnte jeder Auftritt dieser 500 im Westen als Propagandaakt angesehen werden«, schrieb der Choreograph und ehemalige Direktor des Bolschoi-Balletts, Alexei Ratmansky gestern. Auch durch diese Unterstützung habe Putin seine unbegrenzte Macht erlangt und setze sie nun im Krieg gegen die Ukraine ein. Russland habe Kultur und Kunst seit Jahren für seine Propaganda benutzt, meinte die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk letzte Woche auf der Pop-up Buchmesse in Leipzig, »an diese Propaganda hat der Westen geglaubt«. Statt über diese Verstrickungen, die auch in der klassischen Musikwelt vielfältig waren, nachzudenken, lenkt man die Diskussion lieber von sich weg und warnt vor einem russischen Kulturboykott. Der Intendant der Salzburger Osterfestspiele, Nikolaus Bachler, sieht im Rauswurf von Gergiev und Netrebko eine »Hexenjagd«, ein von vielen Klassik-VIPs unterzeichneter Offener Brief verurteilt gleichzeitig »den Krieg gegen die Ukraine wie den Pauschalboykott gegen belarussische und russische Künstler«, als ob beides auf einer Ebene läge. Der Dirigent Tugan Sokhiev beklagt in einem merkwürdig selbstbezogenen Statement, in dem die Ukraine nicht vorkommt, eine »Cancel Culture« in Europa. Den ehemaligen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin erinnert der Rauswurf Gergievs an die McCarthy-Ära, Semperoper-Intendant Peter Theiler meint, er könne sich nicht vorstellen, jetzt jeden einzelnen russischen Künstler in sein Büro zu bitten und nach seiner Gesinnung zu befragen.

Das alles hat etwas von Ablenkungsmanöver und Strohmann-Rhetorik, denn einen Boykott gefordert, geschweige denn umgesetzt, hatte ja eigentlich kaum jemand. Die wenigen Beispiele, in denen russische Musiker:innen tatsächlich ausgeladen oder russische Werke abgesetzt wurden, erlangten deshalb weltweite Berühmtheit, wie das Cardiff Philharmonic Orchestra, ein walisisches Laienorchester, das Tschaikowskis Ouvertüre 1812 vom Programm genommen hatte. In dem Stück wird der russische Sieg über Napoleon unter anderem mit Kanonenschüssen dargestellt. Die Programmänderung zeugte daher vielleicht eher von Sensibilität als von Cancel-Wahn. Demgegenüber stehen allein im deutschsprachigen Raum allwöchentlich hunderte Konzerte mit russischen Künstler:innen und russischem Repertoire, bei denen niemand auf die Idee käme, sie abzusagen.
Auf manch Ukrainer:in könnte es indes wie Täter-Opfer-Umkehr und Whataboutism wirken, wenn jetzt die Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine immer verbunden wird mit der Warnung vor einem Boykott russischer Künstler:innen. »Mit ›Cancel Russians‹ wird ein weiterer Kriegsschauplatz eröffnet«, heißt es bei BR Klassik, als seien die Situationen vergleichbar und alle gleichermaßen Opfer.
Auf dem politischen Parkett gibt es mittlerweile viele, die eingestehen, sich getäuscht und im Umgang mit Russland falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Von derlei Selbstkritik ist man im Klassikbusiness weit entfernt. In München beispielsweise hatte man kritische Nachfragen hinsichtlich Gergievs Rolle als kultureller Arm von Putins Oligarchie bei gleichzeitiger Anstellung als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker stets mit Floskeln weggebügelt. »Der gemeinsame musikalische Erfolg ist möglich durch ein großes gegenseitiges Vertrauen, Respekt voreinander in aller Unterschiedlichkeit und die Bereitschaft, sich auch bei verschiedenen Ansichten immer wieder auf Gemeinsamkeiten zu verständigen«, so Kulturreferent Anton Biebl im Januar 2021 gegenüber VAN.
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Unmittelbar nach dem russischen Angriff wollte man sich bei Stadt und Orchester zu Gergiev erst gar nicht äußern, als der Druck zu groß wurde, folgten dann das Ultimatum des Oberbürgermeisters Dieter Reiter und der Rauswurf. Diese Entscheidung wurde letzte Woche von fast allen Fraktionen im Münchner Stadtrat befürwortet. Kulturreferent Biebl wird mit den Worten zitiert, »wir haben daran glauben wollen, dass man eine gemeinsame Entwicklung nehmen kann und den Dialog betont«.
Zu dieser Behauptung gehört eine gehörige Portion Chuzpe, denn man hatte sich in München ja nie ernsthaft bemüht, einen Dialog zu führen. Im Gegenteil: Das ganze Konstrukt beruhte auf dem Deal, dass Gergiev volle Säle und internationale Strahlkraft beschert und man ihn dafür im Gegenzug in Ruhe lässt. Der Kontakt war so flüchtig, dass das eigene Orchester eigentlich nie wusste, wo sich der jetsettende Gergiev gerade befand und wie man ihn erreichen könnte. Als jetzt das internationale Image von Orchester und Stadt in Gefahr war, entdeckte man in München plötzlich auch die eigene Haltung wieder.
Vielleicht lassen sie das alles in München trotzdem durchgehen, weil dort im Falle Gergiev fast alle mit im Boot saßen. Der Münchner Stadtrat hatte sich schon 2013 fraktionsübergreifend für seine Berufung zum Chefdirigenten ausgesprochen. Selbst Stadtratsmitglied Thomas Niederbühl von der Rosa Liste, der damals noch angesichts von homophoben Äußerungen Gergievs eine Vertragsauflösung ins Spiel gebracht hatte, sprach letztes Jahr gegenüber VAN davon, dass es keinen Anlass mehr gäbe, Gergiev zu kritisieren. Man dürfe Kritik an Putin nicht an ihm austragen. »Wichtig ist, er ist Maestro für die Philharmoniker und macht da hervorragende Arbeit.«

Auch beim Orchester selbst duckt man sich weg. Auf eine Interviewanfrage teilt der Pressesprecher der Münchner Philharmoniker mit, dass sich Intendant Paul Müller »zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht äußern wolle«. Das Aussitzen hat gute Erfolgsaussichten: Wo kein Kläger, da kein Richter. So wiederholt sich in München auf frappierende Weise die Geschichte. Schon im Vorfeld der Berufung von James Levine zum Chefdirigenten der Philharmoniker wurden im Münchner Stadtrat im November 1997 Missbrauchsvorwürfe gegen den Dirigenten diskutiert. Auch damals war die Sorge um den eigenen Ruf größer als die, einen potentiellen Straftäter unhinterfragt eingestellt zu haben.
Jetzt steht das Orchester erneut vor einem Scherbenhaufen, flankiert von einer Intendanz und Kulturpolitik, die sich aus der Verantwortung stehlen. Er habe unter Gergiev gerne gespielt, aber wisse nicht recht, wie er jetzt auf die Zeit mit ihm zurückblicken solle, so ein Musiker der Münchner Philharmoniker. Viel deute mittlerweile darauf hin, dass Gergiev das Vorgehen Putins nicht nur toleriere, sondern in jeder Hinsicht mittrage.
Gergiev war so wenig »nur Musiker« wie Nord Stream 2 einfach »ein rein privatwirtschaftliches Projekt«. Apropos: Auch in Usedom will man sich übrigens nicht äußern. Dort ist Thomas Hummel Intendant des Usedomer Musikfestival und in Personalunion Executive Director des Baltic Sea Philharmonic. Das Orchester wurde 2008 vom Usedomer Musikfestival zusammen mit der Nord Stream AG ins Leben gerufen, die auch Hauptsponsor wurde. Ab 2017 übernahm diese Rolle dann die Nord Stream 2 AG. Am 12. September 2020 besuchte Nord-Stream-Lobbyist und Scorpions-Fan Gerhard Schröder ein Konzert des Baltic Sea Philharmonic beim Usedomer Musikfestival. Laut einer Recherche des Spiegel soll der Besuch als Fassade für Hintergrundgespräche zwischen Schröder und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) gedient haben, um die »Stiftung Klima- und Umweltschutz MV« zu gründen, die allgemein als Deckmantel gilt, um die am Pipelinebau beteiligten Firmen vor US-amerikanischen Sanktionen schützen.
Mittlerweile ist die Partnerschaft zwischen Nord Stream 2 und dem Baltic Sea Philharmonic ausgesetzt, das Nord Stream 2 Logo verschwand stillschweigend von der Website des Musikfestivals. Ähnlich wie Paul Müller in München steht auch Intendant Thomas Hummel nicht für ein Interview zur Verfügung. Wir wissen also nicht, wie er heute die Kooperation mit Nord Stream 2 bewertet. Was die lettische Botschaft in Deutschland davon hält, ist hingegen bekannt. »Lassen Sie sich von dieser herzerwärmenden Botschaft nicht in die Irre führen«, kommentierte die Botschaft Ende Februar einen Facebook-Post des Baltic Sea Philharmonic. Aufgabe des Orchesters sei gewesen, durch Kulturdiplomatie die Interessen des Kremls in Europa zu fördern. »Der Versuch diese Tätigkeit als Brückenbauen zu verkaufen ist scheinheilig und diskreditiert alle, die sich aufrichtig dieser Tätigkeit widmen.« ¶