Marie Hinrichs wurde am 16. September 1828 in Halle an der Saale geboren, also fast genau zwei Monate vor dem Tod von Franz Schubert (19. November 1828). Ihr Vater war der evangelische Theologe und Philosophieprofessor Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs (1794–1861), der sein letztes großes Werk – eine Geschichte der Erde – nicht mehr vollenden konnte.

Über Marie Hinrichs ist nur wenig bekannt, wie man an einzelnen, wenigen Stellen online nachlesen kann. Über ihre musikalische Ausbildung erfährt man beispielsweise nichts. Sie wird aber sicher gut Klavier gespielt haben, da Vater Hermann ihr und möglicherweise auch ihrem acht Jahre älteren Bruder Friedrich mit Sicherheit Unterweisungen an diesem Instrument ermöglichte. Möglicherweise hat Marie auch selbst gesungen, jedenfalls erschienen 1846 ihre Neun Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte im Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel im Druck. Hier vertonte sie Gedichte unter anderen von Heinrich Heine und Ludwig Uhland.

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Im geschichtsträchtigen Jahr 1848 – Marie war 19 Jahre alt – heiratete sie den Hallenser Komponisten und Dirigenten Robert Franz (1815–1892), dessen Lieder zu seinen Lebzeiten so bekannt waren, dass selbst Liszt Transkriptionen für Klavier solo vorlegte. Aus der Ehe von Marie Franz gingen drei Kinder hervor. Möglicherweise überlebte das dritte Kind jedoch nicht. Auch erfährt man, dass die Ehe zwischen Marie und Robert glücklich und harmonisch verlief. Und ergänzend heißt es schließlich noch: »Warum Marie Franz außer diesen Liedern keine weiteren Kompositionen geschrieben hat, ist nicht bekannt. Aus den Briefen kann man jedoch erkennen, dass sie viel zu Hause war, was wahrscheinlich auch an ihrem gesundheitlichen Zustand lag. Ihre täglichen Aufgaben bestanden dabei vermutlich aus der Organisation des Haushaltes, der Erziehung der Kinder und der Unterstützung ihres Mannes, was damit dem damaligen Frauenbild nahekam.« (Marie Franz starb am 3. Mai 1891 im Alter von 62 Jahren. Ihr Mann Robert folgte ihr am 24. Oktober 1892 nach.)

Halt! »Außer diesen Liedern«? Offenbar gibt es doch noch mehr Lieder als die Neun Gesänge op. 1 der 17-jährigen Marie. Jedenfalls tauchte im März 2022 die (schöne) Interpretation eines noch bislang unbekannten Stückes von ihr online auf.


Marie Franz (1828–1891)
Küsset dir ein Lüftelein

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Mit Küsset dir ein Lüftelein vertont Marie Franz die vierte Strophe des Wunderhorn-Volksliedtextes von Morgen muss ich weg von hier. (Anlässlich der Musikwerdung von Texten aus Des Knaben Wunderhorn – gesammelt, zusammengestellt und veröffentlicht von Achim von Arnim und Clemens von Brentano, 1805 bis 1808 – war es völlig normal, nur einzelne Strophen, manchmal sogar ganze »Kompilationen« verschiedener Wunderhorn-Gedichte zu vertonen, wie beispielsweise Gustav Mahler mit Wo die schönen Trompeten blasen 1898 zeitigte.)

Der auch von Silcher (1827) und Brahms (für Frauenchor) vertonte Text (WoO 38, Nr. 17, 1859–1862) handelt von der oft in deutschen Volksliedern verhandelten Sehnsucht, vom Abschied, vom Scheiden. In der vierten, letzten und von Marie Franz fokussierten Strophe weht ein leichter Wind von Sinnlichkeit (»Erotik« wäre zu viel gesagt) ins Haus (beziehungsweise: schmerzvoll in die Ferne): »Küsset dir ein Lüftelein Wangen oder Hände, denke, dass es Seufzer sein, die ich zu dir sende: Tausend schick’ ich täglich aus, die da wehen um dein Haus, weil ich dein gedenke.« Zeichen der Natur sollen also echte menschliche Begegnungen »ersetzen«, Wetterphänomene die heißvermisste Person streicheln, Amseln den Namen der oder des Geliebten rufen; und dies alles soll immer auch: trösten!

Das Moll-Lied von Marie Franz kommt ganz schlicht daher. Dezent vollzieht das Klavier die Linie des Gesangs rhythmisch in Akkorden nach. Die Harmonien sind dabei nicht ganz uninteressant! Schöne Wechsel zwischen kühl-verfinstert und hymnisch-warm. Ein expressiver Ausbruch bei der ersten Wiedergabe der letzten Zeile: »Weil ich dein gedenke.« Die Wiederholung schließlich zärtlich Dur-ummantelt. Ein sehr gutes Lied. Trostvoll und innig. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.