Der Lehrer, evangelische Geistliche und elsässische Regionalhistoriker Sigmund Billings (1732–1796) teilt die Zünfte Colmars zu seiner Zeit in dem Buch Geschichte und Beschreibung des Elsasses und seiner Bewohner von den ältesten bis in die neuesten Zeiten (Basel 1782) wie folgt auf: »1) zur Treue oder Schneider; 2) zum Riesen oder Kiefer; 3) zu den Ackerleuten; 4) zum Haspel oder zu den Kornleuten und Gärtnern; 5) zu den Rebleuten; 6) zum Kränzlein oder den Beckern; 7) zum Löwen oder den Metzgern; 8) zum Wohleben oder den Schuhmachern; 9) zum Adler oder den Webern, und 10) zum Holderbaum oder den Schmieden.«
In diese Zeit der Zünfte hinein wurde am 3. März 1786 Anne Marie Cathérine Kiené in Colmar geboren. Ihre Eltern waren keine Angehörige einer dieser Zünfte. Überhaupt kann man davon ausgehen, dass gewissermaßen ausnahmslos alle späteren professionellen Musikerinnen und Musikern des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts explizit nicht aus Handwerkerhaushalten kamen, sondern meist aus dem gehobenen Bürgertum. Marie wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihre Mutter war die Pianistin Catharina Leyer (beziehungsweise Anne Marie Cathérine Kiené), über die man – außer in Bezug auf ihre Rolle als Mutter und erste Klavierlehrerin Maries – leider fast keine weiteren Informationen findet. Ebenso verhält es sich mit Maries Vater, dem Geiger Joseph Kiené. Nur vereinzelt werden Verwandtschaften beglaubigt und Herkünfte aufgezählt.
Auf der Seite von Musik und Gender im Internet erfahren wir über Kindheit und Jugend Maries: »Im Jahre 1791 zog die Familie nach Neuchâtel in der Schweiz. Dort verbrachte sie ihre Jugend und dort lernte sie den aus Berlin stammenden Hugenotten Paul Bigot de Morogues kennen, den sie im Jahr 1804 heiratete. Diese Verbindung bedeutete für die Bürgerliche zweifelsohne einen gesellschaftlichen Aufstieg. Im selben Jahr zog das Paar nach Wien, wo Paul Bigot eine Stelle als Bibliothekar des musikliebenden Grafen Andrej K. Rasumovsky antrat. In dessen Salon lernte Marie Bigot Joseph Haydn, Antonio Salieri und Ludwig van Beethoven kennen, für dessen Œuvre sie sich früh einzusetzen begann. Neben vermutlich halböffentlichen Auftritten im Hause Rasumovsky, trat Marie Bigot auch mehrfach in öffentlichen Konzerten in Wien auf. Beethoven war häufiger Gast im Hause Bigot, wo Marie Bigot ihm die ›Appassionata‹ aus dem Autograf vorspielte. Ob sie auch Klavierunterricht von ihm erhalten hat, ist nicht gesichert, aber zumindest möglich. Mehrere Briefe Beethovens an Marie Bigot und ihren Gatten legen die Vermutung nahe, dass Beethoven sich von Marie Bigot angezogen fühlte.«
Beethoven-Biograph Jan Caeyers konkretisiert in seinem Buch Beethoven. Der einsame Revolutionär (München 2012): »Beethoven hatte Marie Bigot bei Rasumowsky kennengelernt, bei dem ihr Ehemann als Bibliothekar arbeitete. Sie war eine ausgezeichnete Pianistin – angeblich spielte sie die Appassionata fehlerlos vom Blatt –, und Beethoven unterrichtete sie gern. Im März 1807 hatte Beethoven wohl die Grenze der Vertraulichkeit ein wenig überschritten, indem er die sechzehn Jahre jüngere Marie und ihre Schwester zu einer Spazierfahrt einlud. Der Gatte, der schon einmal verärgert auf allzu familiäre Grüße Beethovens an seine Schülerin reagiert hatte, schrieb einen eifersüchtigen Brief. Beethoven antwortete mit Entschuldigungen und einem Bekenntnis zu seinen hochethischen Grundsätzen im Umgang mit verheirateten Frauen.«
Während der Napoleonischen Kriege zog die Familie Bigot 1809 nach Paris und etablierte dort – wie zuvor in Wien – einen einflussreichen wie prominenten Kultursalon. Marie Bigot setzte sich hier sehr für die Verbreitung der Werke Beethovens ein. Auch als Klavierlehrerin brachte sie das pianistische Schaffen Beethovens immer wieder aufs Tableau. 1812 geriet Paul Bigot de Morogues in Vilnius in Kriegsgefangenschaft und kehrte erst 1817 zurück. Marie Bigot betritt darum ihren Lebensunterhalt durch Klavierunterricht. 1816 nahmen zugleich Fanny und Felix Mendelssohn bei Bigot Klavierstunden.
Freia Hoffmann schreibt über die Bedeutung Marie Bigots: »Marie Bigot de Morogues war eine in ihrer Zeit hoch geachtete und berühmte Klaviervirtuosin, auch wenn sie keinerlei Konzertreisen unternahm. Sie trat öffentlich, vor allem aber in Salons auf. Sicher waren es neben ihrem ausgezeichneten Spiel auch ihr Wesen und ihre gesellschaftlichen Umgangsformen, die ihr eigenes Heim attraktiv machten. Das Umfeld, in dem sie sich bewegte, hatte zweifellos Einfluss auf ihr Spiel. […] Gleichzeitig fällt an der zeitgenössischen Berichterstattung auf, dass immer wieder die schwache Gesundheit Marie Bigot de Morogues’ betont wird: Der Geschlechtscharakter der Frau, wie er im Denken ihrer Zeit verankert war, ließ zwar künstlerische Begabungen und – in Grenzen – auch Erfolge zu, forderte aber ebenso seinen Tribut vom Körper der Frau, der für derartige ›unweibliche‹ Anstrengungen nicht geschaffen schien. Marie Bigot de Morogues war in den Augen ihrer Zeitgenossen eine erstklassige Künstlerin und faszinierende Person, in ihrem Auftreten durchaus damenhaft zurückhaltend, doch als Musikerin wie als Lehrerin eine starke Persönlichkeit. Die Tatsache, dass sie den Anstrengungen einer solchen Berufstätigkeit gesundheitlich nicht gewachsen war, tat diesem Bild keinerlei Abbruch: Im Gegenteil, dies unterstrich es sogar.«
Marie Bigot starb am 16. September 1802 im Alter von nur 34 Jahren in Paris. Ursache für ihren Tod war vermutlich Tuberkulose.
Marie Bigot (1786–1820)
Suite d’études für Klavier, No. 1: Etüde c-Moll. Allegro (1817/18)
Trotz eines (bei MuGi zitierten) Nachrufs, demnach Marie Bigot angeblich »zahlreiche« Werke hinterließ, sind bislang nur weniger als zehn Stücke überliefert. Die Etüde Nr. 1 c-Moll (Allegro) aus der Suite d’études legt schön kreisend los, angenehm an die Musik von Felix Mendelssohn erinnernd. Doch durchaus kernig geht es hier im Bass des Klaviers zu. Stämmige Oktaven wecken Interesse. Das Ganze wirkt durch die spannungsvollen Einkreisungen wie ein Nachdenken über eine Etüde – bei gleichzeitiger (fragloser) Etüdenvirtuosität, die aber keineswegs oberflächlich oder billig effekthascherisch vermittelt wird. Vielleicht erinnern wir uns auch an Robert Schumanns Toccata C-Dur op. 7, diese stammt jedoch aus dem Jahr 1836. Abgeschrieben hat Marie Bigot also schon einmal nicht … ¶