- Gidon Kremer: Mieczysław Weinberg: Sonatas for Violin (ECM)
- Stéphane Degout, Simon Lepper: Epic: Lieder & Balladen (Harmonia Mundi)
- Anna Prohaska, La Folia Barockorchester, Robin Peter Müller: Celebration of Life in Death (Alpha)
Wenn in der Tora jemand von Gott angerufen wird, ist die Antwort häufig ein einziges Wort: Hineni. Es ist das Wort, mit dem Abraham auf Gottes Auftrag reagiert, seinen Sohn Isaak zu opfern, und das er wiederholt, wenn er in letzter Sekunde aufgehalten wird. Auch Moses sagt es, wenn er den brennenden Dornbusch erblickt. Im Hebräischen bedeutet Hineni »Hier bin ich«, aber es umfasst mehr als nur eine schlichte Ortsangabe. Das »Hier bin ich« beschreibt den Standort des Selbst in Zeit und Raum, ebenso aber auch in der emotionalen, spirituellen und moralischen Welt. Das Wort wird zu einer Art Leitmotiv: Wenn eine Person es äußert, ist klar, dass ihr ein tiefer Wandel bevorsteht – meist in Form einer Krise. Leonard Cohen platziert die Phrase prominent im Opener zu seinem letzten Album You Want It Darker. Mit Cohens Worten gesprochen, könnte Hineni hier die »rituelle Antwort auf eine ausweglose Situation« sein.
Der jüdische Kantor Gideon Zelermyer, der in dem Song ebenfalls singt, erklärte der Montreal Gazette 2016, der Sänger bewältigte so sein eigenes Leben angesichts seines nahenden Todes: »Ich denke, ›hineni‹ bezieht sich auf Leonard als jemanden, der eine Übereinkunft mit Gott sucht, der seine Bilanz im Buch des Lebens, dem Sefer Chajjim, zieht: Hier bin ich – ich bin bereit.« Es ist ein Dankgebet für die Erneuerung, für die Gnade, für das Verständnis der Kreise, in denen sich das Leben in diesem Universum vollzieht. Aber Cohen deutet an, dass das für ihn trotzdem kein Gang ins helle Licht der Erlösung ist, sondern darker.
Ein ähnlicher deklamatorischer Geist durchzieht auch die Violinsonaten von Mieczysław Weinberg, der in einem anderen Leben gut auch Cohens älterer Bruder hätte sein können. Der polnisch-amerikanische Pianist Josef Hofmann erkannte das Talent des 1919 geborenen Komponisten und arrangierte für ihn ein Studium in den USA. Diese Pläne wurden durchkreuzt vom Weltkrieg und so emigrierte Weinberg in die Sowjetunion: Studium in Minsk, Flucht vor dem deutschen Angriff ins usbekische Taschkent, bis zum ganz eigenen Dornbuschbrand: der Begegnung mit Schostakowitsch, der ihn schließlich nach Moskau holte. Wie der Weltstar litt auch Weinberg unter der musikästhetischen Staatsdoktrin, finanziell wie politisch. 1953 wurde er, nach öffentlichen Angriffen auf seine Musik und Person für drei Monate inhaftiert, ein mutiger Brief Schostakowitschs und Stalins Tod retteten vermutlich sein Leben.
In den Sechzigern wandelten sich die Vorgaben für Kunstschaffende. Die ersten zwei der drei Violinsonaten entstanden in diesem Jahrzehnt, bis zur Vollendung der dritten, das seinem 1943 verstorbenen Vater gewidmet ist, sollte es noch zwölf weitere Jahre dauern. Diese einsätzige Sonate eröffnet das neueste Album Gidon Kremers. Ihre Fusion von Bachscher Handwerkskunst und einer Vielseitigkeit, wie man sie sonst nur aus Bartóks Solosonate kennt, zeichnet ein Portrait, das mit rauen Kanten und tiefen Furchen, mit Leben erfüllt ist. Stechend schnelle Bogenstriche münden in etwas, das an Weinbergs Jugend in größerer Nähe zum jiddischen Theater erinnert; wie einschneidend alles endet, als werde jemand mitten im Atem unterbrochen.
Kremer bewegt sich chronologisch rückwärts, von der dritten über die zweite endet er bei der ersten Sonate. So offenbart er, wie sehr die Vorgänger Brücken zu der dritten und letzten sind: frühe Skizzen, die aber auf eigenen Beinen stehen. Die persönlichen und politischen Turbulenzen lassen sich heraushören, genauso aber auch ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, das ihn trotz allem trägt.
Nicht in einer Weise, dass er sich selbst zum Märtyrer oder Held verklärt: »Ich kann über mich selbst sagen, was andere über sich sagen – dass sie verfolgt wurden«, meinte Weinberg einmal. Fern von Selbstmitleid oder Selbstverherrlichung ist seine Musik viel mehr ein Medium, durch das er der Welt Sinn verleihen konnte, philosophisch wie biographisch. Jede Phrase, jedes Zupfen ist ein eigener Vermerk im Sefer Chajjim. Kremer hat als langzeitiger Verfechter von Weinbergs Musik ein Gespür für die historischen und politischen Einflüsse auf die Musik jeder Epoche. Seine eigenen unerschütterlichen, zuweilen radikal ikonoklastischen Grundlagen machen ihn zum idealen Interpreten dieser drei Werke. Selbst wenn man sie mit der Konzentration und Sorgfalt hören würde, mit der der Talmud interpretiert wird, man könnte kaum all die Bedeutungen erhaschen, die sich in jeder Ecke der Partituren verbergen.
Dunkelheit als Weg zur Katharsis ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal von Weinberg. Aber von seinen Werken in die tiefromantische Welt von Schumann, Brahms, Liszt und Wolf überzugehen fühlt sich ein bisschen an so, als würde man von Neuschwanstein aus eine Direktverbindung zum Dornröschenschloss im Disneyland nehmen. Auch wenn es wohl kaum Katharsis ist, auf die der französische Bariton Stéphane Degout mit seinem Album aus Balladen und Liedern abzielt, ist Epic durchzogen von der Dunkelheit als rauem Rohstoff. Die Bismarcks und Napoleons, das Risorgimento und die kollidierenden Reiche eines Jahrhunderts, das trotz Wiener Kongress noch vom machthungrigem Blutvergießen getränkt war, lassen sich vielleicht wirklich am besten durch ein Lied wie Schuberts Der Zwerg verstehen, in dem der Titelheld seine Königin auf hoher See ermordet. Wie am besten mit Dunkelheit umzugehen ist, zeigen die drei Figuren in Liszts von rassistischen Stereotypen geprägtem Die drei Zigeuner dem lyrischen Ich: »Dreifach haben sie mir gezeigt / Wenn das Leben uns nachtet / Wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt / Und es dreimal verachtet.«
Pianist Simon Lepper spielt hier das trunken tänzelnde Zwischenspiel wie die letzte Runde in einem Film mit Marlene Dietrich und Degout singt den Gassenhauer mit einer Verachtung in der Stimme, die nicht gegen die drei (als Romani gelesenen) Reisenden, sondern gegen den Erzähler selbst und seine Projektionen richtet. Als hätten Liszt und Nikolaus Lenau die fehlende Selbstreflexion in den Reisefoto-Posts von Instagram-Influencern prophezeit. Aber das eine Lied des Albums, das ich immer wieder höre, ist Schumanns Die beiden Grenadiere, eine Miniaturoper von weniger als vier Minuten Dauer. Zwei französische Soldaten durchqueren auf dem Rückzug aus Russland Deutschland, als sie von Napoleons Gefangenschaft und dem Scheitern des Feldzugs, in dem sie in Kriegsgefangenschaft geraten sind, erfahren. Heinrich Heines Text überträgt eine damals aktuelle Geschichte in eine archaische Form: eine Art Artus-Sage, aber mit dem Bewusstsein, dass es sich um die unpoetischen Schicksale zweier ganz realer Menschen handelt. »Auch ich möcht mit dir sterben«, sagt der eine Soldat, als sie sich weinend aneinanderklammern, »doch hab’ ich Weib und Kind zu Haus, die ohne mich verderben«. Der andere Soldat sagt zur Hölle mit Frau und Kind – »Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!«
Die zweite Hälfte des Liedes vertont seine Bitte, dass sein Kamerad seinen Leichnam mit nach Frankreich nehme, sollte er jetzt sterben. Der ganze Krieg und seine Verwüstung kümmern den Soldaten nicht, sein eigener Verlust ist nichts im Vergleich zum Sturz seines Kaisers. Schumann zitiert hier die Marseillaise, aber hölzern und verzerrt. Jedes Mal, wenn Degout den geliebten »Kaiser« singt, birgt das Wort ein bisschen mehr Biss und Bitterkeit.
Epic schließt mit drei vergleichsweise zahmen Petrarca-Sonetten von Liszt, aber ich empfehle eher diese Paarung: Wechselt nach Degouts Schumann zum Anfang von Anna Prohaskas neuem Album. Prohaskas schlichter, aber gehaltvoller Sopran ist im gregorianischen Dies Irae über leichtester Begleitung des La Folia Barockorchesters genau das klingende Sicherheitsnetz, das man sich nach Schumanns wildem Drahtseilakt wünscht.
Als zweite von Prohaskas beiden in CD-gepressten Antworten auf die Pandemie hätte Celebration of Life in Death ziemlich daneben gehen können – in den Händen einer anderen Sängerin. »Antworten« auf Weltereignisse, besonders solche, die für ein ganzes Album (oder zwei!) in Anspruch nehmen, neigen dazu, weniger die Musik als Kompass bei der Suche nach Sinn zu nutzen, als die Musiker:innen auf der Suche nach Relevanz ins Zentrum der Ereignisse zu rücken: Ein »Was ist mit miiiiiir?«, mühsam gestreckt über Arien, Kantaten und Lieder. Aber Prohaska war nie eine Sängerin fürs Weinerliche. Auch der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts und seine umfassende Dokumentation – auch in der Musik – faszinierten sie schon lange.
Das ist der Ausgangspunkt für ein äußerst intelligentes – und dringend zu empfehlendes – Album. Musik von Guillaume de Machaut und Lorenzo da Firenze sind der Auftakt einer Wanderung durch Tod und Krisen in ihrer gegenseitigen Befeuerung durch die Geschichte. Das Adrenalin einer gewissen Unsicherheit knistert durch Prohaskas Machaut und andere, anonyme Werke der Alten Musik. Umgekehrt wird Purcells Since the pox or the plague, of inconstancy reigns, eine Warnung vor den (virologischen) Gefahren der fleischlichen Liebe, gespielt mit dem wenig frommen Temperament frühreifer Sechzehnjähriger, die einer Abstinenzpredigt der Church Lady lauschen müssen.
Prohaska und La Folia (unter sicherer Leitung von Robin Peter Müller) beschließen die Celebration mit einem Arrangement von Leonard Cohens Hallelujah. Dieser überspielte – und übercoverte – Schlager hat seine tiefen talmudschen Bedeutungsschichten zwischen all den Weihnachtsalben und Eiskunstläufen schon lange verloren. Aber als letzte Konsequenz von Prohaskas Tanz mit Sex, Tod und Krieg hat die Sängerin hier die Aufgabenstellung eindeutig verstanden. Prohaska liefert, auch weil sie ihre üppige Opernstimme zugunsten schmachtenden Singsangs mit radikal reduzierter Begleitung beiseitelegt. Cohens Song, der menschliches, allzu zwischenmenschliches Versagen ins Gewand biblischer Legenden hüllt, hat das letzte Wort. ¶