Wenige Wochen nach dem Tod Georg Friedrich Händels (1685–1759) kam am 4. Juni 1759 in Rom Maria Rosa Coccia zur Welt. Ihre Eltern waren selbst keine professionellen oder anderweitig aktiven Musikerinnen und Musiker. Daher war es durchaus ungewöhnlich, dass eine Frau zu dieser Zeit eine musikalische Laufbahn einschlug.
Coccias immensen musikalischen Fähigkeiten äußerten sich beispielsweise dergestalt, dass Maria Rosa hervorragend mit Stimme und Cembalo improvisieren und angeblich auch die unpraktischsten Notenschlüssel leicht lesen konnte. Als Zwölfjährige legte sie einen – damals in der Anzahl typischen – Zyklus von sechs Cembalo-Sonaten vor. Mit 13 Jahren kam ein ganzes Oratorium hinzu, das den biblisch-programmatischen Titel Daniello nel lago dei leoni (Daniel in der Löwengrube) trug. Zuvor hatte man Coccia vermutlich bei einer Nonne profund ausbilden lassen, in den damals üblichen Fächern (Kontrapunkt, Fuge …). Außerdem ermöglichte man ihr regelmäßigen Zugang zu Bibliotheken, wo sie wohl die klassischen Dramen und Komödien studieren konnte.
Als erste Frau überhaupt bestand Maria Rosa Coccia im Jahr 1774 – also mit nur 15 Jahren – die Prüfung zur »Maestra di Cappella«. Als Abschlussarbeit legte sie die Cantus-firmus-Komposition Hic vir despiciens mundum vor. 1779 kam Coccia zusätzlich zu der Ehre, in die Accademia Filarmonica von Bologna aufgenommen zu werden. Coccia stieg zur »Maestra pubblica di Cappella« auf. Doch, so lesen wir: Derart konsequent – ja, fast sagenumwoben – erfolgreich ging es mit Coccia leider nicht weiter: »Alles deutet darauf hin, dass Maria Rosa Coccia eine glänzende Karriere als Komponistin bevorsteht. Doch dann wendet sich das Blatt. Nach ihrer Aufnahme in die Accademia Filarmonica wird Coccia von Francesco Capalti öffentlich scharf angegriffen, einem Maestro di Cappella der Kathedrale von Narni, der behauptet, Coccias Prüfungsarbeit sei fehlerhaft gewesen. Er kann zwei der vier Prüfer zu der Aussage bringen, dass Coccia der Titel ›Maestra‹ nicht aufgrund von Talent, sondern nur aus Respekt vor ihrem Geschlecht verliehen wurde und dass ihre Prüfungsarbeit nie hätte veröffentlicht werden dürfen. Sie stellen damit den eigentlichen Sachverhalt gewissermaßen auf den Kopf, da ja vermutlich viel eher davon auszugehen ist, dass Coccia die Prüfung bestanden hat, nicht wegen, sondern trotz der Tatsache, dass sie eine Frau ist. Es beginnt ein mehrjähriger heftiger Streit, in dem prominente Persönlichkeiten aus der italienischen Musik-Szene nachdrücklich Partei für Coccia ergreifen, darunter der […] Librettist Metastasio, der Kastrat und Star-Sänger Farinelli und der noch heute sehr bekannte Komponist Giovanni Battista Martini.«
Ereignisse wie aus einem (noch nicht geplanten) Film. Coccia setzte dieser Vorfall jedenfalls sehr zu, denn nachdem sie 1783 wohl ihre vorerst letzte Komposition veröffentlicht hatte, ließ sie erst 1832 wieder von sich hören. In diesem Jahr bat Coccia die katholische Kirche um eine Rente, die ihr auch – in sehr bescheidenen Dimensionen – gewährt wurde. Sie habe, so Coccia in ihrem Bittschreiben, schließlich ein ganzes Leben lang nur komponiert und unterrichtet.
Am 21. November 1833 stirbt Maria Rosa Coccia im Alter von 74 Jahren in Rom.
Maria Rosa Coccia (1759–1833)
Ifigenia (1779)
Coccia schrieb, wie oben bemerkt, Werke für Cembalo sowie diverse Vokalkompositionen mit unterschiedlicher Begleitung. Neben dem besagten Oratorium entstanden mindestens noch ein Opern-Zwischenspiel sowie eine wohl abendfüllende Oper nach einem Libretto von Metastasio: L’isola disabitata (um 1773). Leider ist wohl nur das Libretto erhalten, die Musik gilt als verschollen. 2021 widmeten sich spanische Musikerinnen und Musiker vom Barockorchester der Universität von Salamanca der Kantate Ifigenia. Die Widmungs-Kantate entstand 1779 für Prinzessin Mariá Luisa de Parma von Asturien. Es handelt sich um eine völlige Neuentdeckung und folglich um eine (oben verlinkte) Ersteinspielung. Erst vor zwei Jahren sei die Kantate in einer Bibliothek aufgetaucht.
Ifigenia dauert überraschenderweise über eine halbe Stunde. Die Kantate eröffnet mit einer dreiteiligen Symphonie. Später folgt der typische Wechsel von Rezitativen und Arien, darunter auch ein Duett sowie ein Quintett, in dem alle solistisch geführten Stimmen zusammenkommen. In dem Programmheft der Produktion erwähnt man, dass Kantaten von Frauen im 18. Jahrhundert häufig komponiert wurden, um diese eigentlich als vollwertige Opern – aber ohne wirkliche Inszenierungen – verstehen zu können.
Tatsächlich macht die am Anfang stehende Symphonia keineswegs den Eindruck, »nur« als Vorspiel einer »braven« Kantate dienen zu wollen. Das eröffnende Unisono-Motto bringt zunächst eine motivische Andeutung, dann erweitert sich der Einfall – operntypische Vorschlagsnoten inkludierend – flugs. Sehr lustig, Ton-Wiederholungen schnippisch und aufgeregt nutzend; temperamentvoll, dabei vielleicht ein wenig an die Lustigkeit des Themas von Mozarts allererster Symphonie (1. Satz) (1764/65) erinnernd.
Schön übernehmen die Geigen das Heft des Handelns, bald kleine Seufzer darbietend. Empfindsamer und galanter Stil in interessanter Vereinbarung. Schnell einigt man sich wieder auf ein Tutti – unter Abspielung des Anfangsmottos. Tolle Crescendi, Um- und Einkreisungen zeigen ein enormes Gespür für Drama, Spannung – und Humor. Sehr lohnenswert. Da müsste jetzt noch viel mehr wiederentdeckt werden. ¶