Am 13. November 2022 kommt es am Staatstheater Nürnberg zu einem Ereignis: eine mehr als 250 Jahre alte Oper einer Frau feiert Premiere. Ein (leider) höchst seltener Umstand. Es handelt sich um die Oper Talestri – Königin der Amazonen der Komponistin Maria Antonia Walpurgis, die später mit vollständigem Namen Prinzessin Maria Antonia Walpurgis Symphorosa von Bayern, Kurfürstin von Sachsen hieß. Geboren wurde sie am 18. Juli 1724 in München.
Die besten Chancen auf eine hervorragende, lebensbereichernde, vielleicht sogar »glücksverheißende« Bildung im Lichte des Erlernens von Sprachen und des Erlebens von Kultur (meist auch zumindest mit dem Versuch einer etwaigen praktischen, aktiven kulturellen Tätigkeit verbunden) hatten mehrere Jahrhunderte lang vor allem die Kinder reicher, adeliger Familien. Wollten Frauen komponieren: Sie mussten bis zum 19. Jahrhundert entweder Nonnen werden oder ein »von« im Namen tragen, wie Wilhelmine von Preußen/Brandenburg-Bayreuth (1709–1758) oder Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel (1739–1807). Und so wurde auch die adelige Maria Antonia nachhaltig gefördert: Sie erlernte die französische und die italienische Sprache sowie Latein und zeigte früh Talente in den Bereichen Gesang und Klavier. Mit 16 Jahren sang sie schon Hauptrollen in kleinen Musiktheaterwerken.
Mit 23 Jahren (1747) wurde Maria Antonia mit dem Kurprinzen Friedrich Christian von Sachsen (1722–1763), ihrem Cousin 1. Grades, verheiratet. »Trotzdem«, so könnte man sagen, sei die Ehe sehr glücklich verlaufen, wie Eva Neumayr die damaligen Umstände kommentiert. Maria Antonia wurde siebenfache Mutter. Ihre frühe Beschäftigung mit der Dichtkunst und ihr Talent führten dazu, dass sie in die römische »Accademia dell’Arcadia« aufgenommen wurde. Nebenbei tat sie sich als Malerin hervor – und der Gesangs- und Kompositionsunterricht kam von Johann Adolph Hasse (1699–1783), der Maria Antonias eigene Kantatentexte vertonte (wie anlässlich von La conversione di Sant‘ Agostino, Dresden 1750). Mit dem ebenso bekannten Dichter Pietro Metastasio pflegte Maria Antonia brieflichen Kontakt und vertonte seine literarischen Vorlagen.
1763 bestieg ihr Mann Friedrich Christian den Thron und überantwortete seiner Frau das Amt der Finanzaufseherin für den gesamten Staat. Eine absolute Seltenheit (wie die Opernaufführung heuer in Nürnberg). Doch ihr Gatte starb unglücklicherweise zwei Monate nach Thronbesteigung (1763) an den Pocken. Maria Antonia überlebte ihren Mann um 17 Jahre und verließ unseren Planeten am 23. April 1780. Maria Antonia von Bayern: ein erstaunlicher Mensch, äußerst intelligent, sehr gebildet – und sehr aufgeräumt.
Maria Antonia von Bayern (1724–1780)
Da me ti dividi. Arie des Learco aus der Oper Talestri, Regina delle Amazzoni (1763)
Neben Talestri, Regina delle Amazzoni (1763) konnte Maria Antonia mindestens noch die Oper Il trionfo della Fedeltà (1754), drei Kantaten, eine Arie sowie ein (leider verlorengegangenes) weiteres kirchliches Werk vollenden.
Die Arie des Learco Da me ti dividi stammt aus der besagten (jetzt in Nürnberg gegebenen) Oper Talestri. Sie erklingt am Beginn des dritten Aktes. Oronte (Prinz der Skythen, eine Sopranrolle) verabschiedet sich von seinem Gefährten Learco (Prinz der Massageten, ebenfalls Sopran). Die Komponistin Maria Antonia Walpurgis »spricht« also in Form einer Abschiedsarie zu uns. Der Erlebnis-Intensitätsgrad des Ganzen ist dabei vielleicht umso höher, da der Text gleichfalls von ihr stammt. (Übersetzt aus dem Italienischen lautet der Libretto-Inhalt an dieser Stelle in etwa: »Gehst du von mir, mein geliebter Freund? Meine Seele fühlt sich an wie aus der Brust gerissen. Noch nie sah ich so viel Dunkelheit! Was für ein furchtbarer Tag! Was für ein giftiges Martyrium!«).
Nun könnte man vielleicht – aufgrund des eher wenig erfreulichen Gefühls des Abschieds an dieser Stelle der Oper – an dieser Stelle der Oper eine getragene Moll-Arie voller schmerzlicher Empfindsamkeitsvorhalte erwarten. Doch weit gefehlt! Ein Jahr vor der Entstehung von Talestri war am Wiener Burgtheater am 5. Oktober 1762 die »Tragèdie-opéra« Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck uraufgeführt worden, in der der Komponist unter anderem damit überraschte, dass er die Trauerarie des Orfeo Ach, ich habe sie verloren im reinsten (»untraurigen«) C-Dur »erstrahlen« ließ.
Nur wenige Monate später (die genauen Zeitabläufe müsste man mal intensiver recherchieren) setzt Maria Antonia Walpurgis eine weitere Abschiedsarie ebenfalls in C-Dur – und forciert gewissermaßen noch einmal (»vs. Gluck«) das Tempo (i. e.: Allegro, wenn auch nicht explizit vermerkt, so doch durch das Gefüge der Musik ableitbar), nämlich in Da me ti dividi! Ihre Umsetzung ist furios, und absolut noch auf der Höhe der Zeit! Man achte allein mal auf die rhythmische Struktur der Arie, die sich fast akrobatisch dem Text anschmiegt. So viele Notenwerte! So viele individuelle Justierungen im Rhythmus – das macht große Freude!
Und zusätzlich: Das Gefühl des Abschiedsschmerzes, die Traurigkeit, die mitschwingt, wenn wir einem innig vertrauten Freund »Lebewohl!« sagen müssen: Hier erscheint diese Emotion im (grünlich-säuerlichen) Lichte von Wut, Enttäuschung und Gift! Kein Normalfall. Viel mehr als das! Fantastisch! ¶