Am 16. Juni 1925 kam in Detroit Lucia Dlugoszewski zur Welt. (Nicht 1931, wie sie selbst ab und an vermerkte.) Ihre Eltern waren – wann genau (und warum), lässt sich nicht so leicht feststellen – aus Polen in die USA gekommen. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit des musikalisch-kulturellen Erbes war bei Immigrantinnen und Immigranten aus Ländern wie Ungarn, Tschechien oder eben Polen im westlichen Ausland wohl besonders ausgeprägt. Früh muss Lucia Dlugoszewski Klavierstunden angeboten bekommen und angenommen haben. Der Weg führte bald an ein Konservatorium in Detroit. Dlugoszewski drang darauf, Ärztin zu werden, doch der Beginn eines Medizinstudiums wurde ihr verwehrt (möglicherweise aufgrund ihres Immigrationshintergrundes).

So erscheint die Fortsetzung ihrer Klavierstudien zunächst nur als »Notlösung« – als eine »Notlösung« allerdings, die sich lehrerinnenspezifisch extrem prominent ausging. Denn von 1952 bis 1955 war Grete Sultan (1906–2005) die Klavierlehrerin von Dlugoszewski. Sultan war als Tochter einer jüdischen Berliner Familie 1941 vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen und wurde dort zu einer wahren Klavierlegende. Unter anderem schrieb John Cage einen Teil seiner Music for Piano (1956) für Grete Sultan, die noch 1996 – mit 90 Jahren – Bachs Goldberg-Variationen spielte und 2005 mit 99 Jahren verstarb. Hinzu kam Kompositionsunterricht bei niemand Geringerem als Edgar Varèse.

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In den 1950er Jahren lernte Dlugoszewski wohl den US-amerikanischen Choreografen und Tänzer Erick Hawkins (1909–1994) kennen. Dieser war seit 1948 mit der Modern-Dance-Legende Martha Graham (1894–1991) verheiratet. Doch die Ehe wurde durch die Alkoholeskapaden und die cholerischen Ausbrüche von Hawkins überschattet. Hawkins und Dlugoszewski jedenfalls verliebten sich – und heirateten (»heimlich«, wie man liest) im Jahre 1962. Dlugoszewski wurde zur musikalischen Leiterin der Tanzkompagnie ihres Mannes und komponierte für die entsprechenden Tanzprojekte zahlreiche Werke.

Besonders bekannt wurde Dlugoszewski durch ihre Liebe zum Bau und Umbau von Instrumenten. Meist resultierten entsprechende Projekte in der Erfindung neuer Schlaginstrumente, aber auch ganze Klavier und Flügel wurden – vielleicht in Erinnerung an die Präparationsideen von John Cage – in diversen Strukturen neu angeordnet.

Lucia Dlugoszewski starb am 11. April 2000 in New York City. Sie wurde 68 Jahre alt.


Lucia Dlugoszewski (1931–2000)
Fire Fragile Flight für 17 Instrumente (1973)

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Neben zahlreichen Kompositionen für die erwähnten Choreografien des Ensembles um Erick Hawkins entstanden Orchester- und Kammermusikwerke sowie eine Tiny Opera (1953) für Stimme solo. 1973 komponierte Dlugoszewski das Ensemblestück Fire Fragile Flight. Alles beginnt mit sehr hohen Tinnitus-Tönen. Dann folgen lustige Glissandi-Aktionen, schnell komplex werdend – ein Zittern, ein mittelschweres Beben. Stetige Bewegungen: kreisend, orientierungslos. Hellste Glocken scheinen Signale für den Beginn gespenstischer Rituale zu geben. Die Bewegungen werden immer mal wieder (festfrierend) angehalten, sehr kurz, sehr virtuos bremsend.

Alsbald ist der Gesamtklang in die mittlere Tiefe hin verrutscht. Nun ratscht und klappert es. Eine untergründige Bewegung bietet negative Rhythmusorientierungspunkte an: Das Ganze klingt wie ein Klappern an der Tür. Komponierter Stress, ausdifferenzierte Nervositäten. Instrumentatorisch sehr freudvoll, extrem fordernd: gut! ¶


Am 14. August 2022 spielt das Klangforum Wien (Dirigent: Patrick Hahn) Lucia Dlugoszewskis Fire Fragile Flight im Salzlager Essen bei der RuhrTriennale.

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.