Manchmal wird sie als »Erste Komponistin im Mittelalter«, gar als »die erste Komponistin« (überhaupt) oder eben als »die früheste Komponistin des Abendlandes« bezeichnet. Eine Neuentdeckung ist diese legendäre Frau also keineswegs. Erst im Juni 2022 konnte ein Crowdfunding-Projekt erfolgreich abgeschlossen worden, das in der Verfilmung ihres Lebens münden soll, denn: »Die Hl. Kassia gilt als erste namentlich bekannte Komponistin des Abendlandes (810–865 n. Chr., Byzanz). Bislang gab es über diese äußerst bemerkenswerte Frau keine TV-Doku. Das wollen wir ändern.« Bekannt oder unbekannt? Hauptsache: Byzanz!

Um 810 in Konstantinopel geboren, ist Kassia – das kann man mit Sicherheit sagen – die erste berühmte europäische Komponistin, die mit Namen bekannt ist. Denn der Begriff des Komponierens ist nicht klar abgrenzbar von der des (pädagogischen/wissenschaftlichen/überlieferungsbedingten) Interpretierens, da es beispielsweise in der griechischen Antike Frauen gegeben haben mag, die mit einzelnen Darmsaiten einerseits ein Stück weit Mathematik und Physik betrieben, andererseits aber auch Klänge produzierten (vielleicht sogar in bestimmte – bleibende – Notationsformen überführten). Sowohl in der griechischen als auch in der römischen Antike gab es also – allein, weil auf vielen Abbildungen Frauen beim Musizieren zu sehen sind – Komponistinnen. Nur waren einige Arten des Musizierens Frauen verboten (bis in unsere heutige Zeit dürfen Frauen in bestimmten arabischen Ländern keine Blasinstrumente spielen); Komponieren entsteht – gerade im Kontext weiblichen Komponierens – häufig aus dem Interpretieren heraus; und gerade angesichts der vielen Frauen, die im 18. und 19. Jahrhundert zunächst Pianistin, dann Sängerin und schließlich Komponistin wurden, wird deutlich, dass tonschöpferische Frauen vielmehr noch als die Männer über die (virtuose) Beschäftigung mit Instrument und Stimme zum Aufschreiben eigener Werke kamen – und kommen. 

ANZEIGE

Neben Hildegard von Bingen (1098–1179) ist Kassia gewissermaßen die »Stifterin des weiblichen Komponierens«. Und das Wichtigste: Ihre Namen sind bekannt. Sie sind präsent, auf sie kann sich die Aufmerksamkeit richten.

Kassia jedenfalls stammte aus reichem Hause, ihr Vater war ein hoher Offizier im byzantinischen Reich. Kassia wurde – damals absolut selten – im Schreiben, Lesen, in Philosophie und in Theologie ausgebildet. Außerdem wechselte sie mit dem berühmten Gelehrten Theodor Studites (759–826) Briefe.

Es wird erzählt, dass der byzantinische Kaiser Theophilos (ca. 800–842) bei der Brautschau im Jahr 826 – unter anderem – auf Kassia traf. Angeblich habe Kassia bei dieser Brautschau eine erhellende, kluge, quasi emanzipatorische Antwort auf die Frage gegeben, wie es aus ihrer Sicht mit der Rolle der Frau im Kontext der Religionsausübung bestellt sei. Offenbar hatte man Kassia gefragt, warum Frauen in der Welt so viele Übel angerichtet hätten, wie allein die biblische Eva (mitsamt ihres paradiesischen »Sündenfalls«) beweise. Darauf entgegnete Kassia – laut schriftgelehrter Zeugen – schlagfertig: Frauen hätten mindestens ebenso viel Gutes erwirkt, wie die Heilige Maria beweise, ohne die es Jesus schließlich nicht gegeben hätte. Theophilos – eher kein Liebhaber weiser Frauen – erwählte eine andere Frau als seine Gemahlin. 

Kassia verschrieb sich als Geistliche – wie später Komponistinnen bis ins 18. Jahrhundert hinein – der Religion, gründete 843 in Konstantinopel eine Gemeinschaft geweihter Jungfrauen, leitete diese bald als Vorsteherin an – und schuf in diesen Jahren ungefähr fünfzig geistliche Hymnen für den Einsatz in der Liturgie. Dreiundzwanzig von diesen Hymnen fanden bleibenden Eingang in die Druckschriften der orthodoxen Kirchen. Kassia schrieb darüber hinaus eigene Texte.

Sie starb um das Jahr 865 herum. Kassias sterblichen Überreste wurden, wie es heißt, auf die griechische Insel Ikaria gebracht. Eine ihr geweihte Kapelle auf der Insel Kasos ist mit einem (leeren) Marmorsarg aus dem 9. Jahrhundert bestückt.


Kassia (ca. 810–ca. 865)
Hymnen

YouTube Video

Die erste Hymne des verlinkten Albums beginnt mit einer Solo-Linie, die klagend und dennoch gleichsam jauchzend schwingt. Anschließend kommen zwei weitere Stimmen hinzu, die ihren Text ungemein schön »diktieren«, besonnen – und dennoch eindringlich mahnend. Es bilden sich insgesamt durchaus für unsere Ohren gewohnte Klänge. Immer wieder spalten sich die Stimmen einzeln jedoch ab, bilden kurze »Durchgangsdissonanzen«. Auch treffen wir auf die mitteleuropäischen »Hohlklänge«, die wir aus »unserer« Gregorianik kennen.

Die Art und Weise dieses weiblichen Interpretierens – im historischen Hör-Beisein der seit viel mehr als 1.000 Jahren toten Komponistin selbst – ist bestechend. Die Weisheit, Göttlichkeit, aber auch Traurigkeit schwingt mit. Zugleich tönt diese Musik – beispielsweise auch durch unfassbar lang ausgehaltene Quinten im Hintergrund der bewegten Text-Gesänge – zeitlos. Die beste Möglichkeit zum Abtauchen in die uralte Kraft weiblichen Seins, Wissens und Singens (auch, wenn es in den Texten durchaus ab und zu um Männer geht; beispielsweise um die Verdienste des römischen Kaisers Augustus, 63 v. Chr.–14 n. Chr.). ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.