Michael Hofstetter prägte als Generalmusikdirektor unter anderem das Stadttheater Gießen, die Ludwigsburger Schloßfestspiele, das Genfer Kammerorchester, das Stuttgarter Kammerorchester und das styriarte Festspielorchester Graz. Aktuell leitet er die Internationalen Gluck-Festspiele Nürnberg und ist künstlerischer Leiter des Tölzer Knabenchors. Der Dirigent begeistert sich nicht nur für Alte Musik, sondern auch für historische Bausubstanz: Er wohnt in einer uralten Burg in der Nähe von Nürnberg, auf die er mich zum Gespräch einlädt. 

Michael Hofstetter • Foto © wildundleise.de

Ich würde sagen, dass Gluck nach wie vor einer der unterschätztesten Komponisten aller Zeiten ist. Würden Sie dem zustimmen?

Ja, definitiv. Er hat nur eine einzige Oper und darinauch nur eine einzige Arie geschrieben – das ist das gängige Klischee über Gluck. [lacht] Dabei war er ein ganz großer Meister der Oper und prägte über Jahrzehnte diese Kunstform wie kaum ein anderer. 

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Die Sinfonia, wie Ouvertüren damals noch genannt wurden, zu Antigono ist für mich der Inbegriff freudestrahlender Barockklänge, auf einer Stufe stehend mit Händels Feuerwerksmusik.

Auch hier bin ich ganz bei Ihnen. Glucks persönliche Handschrift zeigt sich unter anderem in den Trommelbässen, wie eben in der genannten Ouvertüre. Sie treiben die Musik voran, verleihen ihr Wucht und Würze, lassen sie aber zugleich federnd und vital erscheinen. Das ist wunderbare Musik, mit der er zu Lebzeiten in Italien recht großes Aufsehen erregte und viel Geld verdiente, die aber heute viel zu selten gespielt wird.

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Warum?

Auch andere Komponisten gerieten in Vergessenheit, sogar Bach. Allerdings wurde über Glucks Werk – im Gegensatz zu Bach – schon zu Lebzeiten gestritten. Nachdem er begann, die Oper stilistisch zu erneuern, kam es zu einem erbitterten Zwist zwischen jenen, die seinen Stil bewunderten, und jenen, die weiter endlose Koloraturen hören wollten und Gluck vorwarfen, seiner Musik fehle es an Melodie. Da geht schon das Missverständnis los. Zum einen hat Gluck nicht auf Verzierungen verzichtet, wie immer wieder behauptet wurde und wird. Er wollte sie nur nicht überfrachten, damit der Text verständlich bleibt und sich niemand nach zehn Minuten Gesang fragt, um was es eigentlich geht und wo die Handlung steht.

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Das Musiktheater sollte wahrhaftiger und stringenter werden. Wenn man so will, forderte Gluck: Wahrheit vor Schönheit, jedenfalls vor Schönheit im damals üblichen Sinne. Gluck suchte die Schönheit in der Natürlichkeit.  Er wollte nicht, dass immer nur ›schön virtuosgesungen wird, um zu unterhalten. Ihm wurde klar: Wir brauchen eine neue musikalische Form, um das auszudrücken, was das Leben ausmacht. Sein Thema ist die Psyche, die Seele des Menschen. Doch der Ansatz sprengte die Form der üblichen Opera Seria mit ihren Liebeshändeln und Verwicklungen, die am Ende ein König oder Fürst auflöst, der die Komposition bezahlt hat. 

Getrieben vom geistig-seelischen Impuls der Libretti schuf Gluck durchkomponierte Werke ohne secco-Recitative. 

Er legte außerdem großen Wert auf Wahrhaftigkeit und Schauspielkunst. Im Zweifelsfall hätte er sich unter zwei Sängerinnen für diejenige entschieden, die nicht ganz so gut singt, aber die bessere Schauspielerin ist. Von Gluck ist eine Aussage an seinen Orpheus in der ersten Pariser Aufführung überliefert. Er sagte seinem Sänger zu einer musikalischen Passage voller seelischer Schmerzen: ›Das musst du schreien, als würde dir in diesem Augenblick ein Bein abgesägt.‹ Er wollte Wahrhaftigkeit und weg von jeder Künstlichkeit. 

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Mozarts späte Opern, insbesondere Cosi fan tutte mit ihrer ins Absurde gehenden Handlung, wird gerne als Beispiel für die Vermutung genutzt, dass Glucks Ansatz zu seinen Lebzeiten auf taube Ohren stieß. Für Mozart stimmt das wohl, oder?

Grundsätzlich war die Opera seria mit Gluck ja nicht weg. Für bestimmte Anlässe war sie die richtige Form. Mozarts letztes Bühnenwerk La Clemenza de Tito ist bekanntlich eine Opera seria. Er war in diesen Sinne vielleicht kein Erneuerer, sondern hat die Musik seiner Zeitgenossen jeweils zu bis dahin nicht gekannter Perfektion gebracht. Das gilt zum Beispiel auch für die VErwendung der Bläser. Gluck hat ihren Einsatz auf der Suche nach seelischen Farben in den Partitutren seiner Opern deutlich erweitert und Mozart hat das dann zum eigenständigen Bläsersatz der Wiener Klassik ausgebaut. Gluck aber schuf die ersten durchkomponierten Opern, die komplett auf Rezitative verzichteten. Das haben weder Mozart noch Rossini gewagt. 

Würden Sie auch sagen, dass  Mozarts letzte Opern ohne Gluck nicht so grandios geworden wären?  

Das kann man so sehen. Man tut aber Gluck Unrecht, misst man seinen künstlerischen Wert vor allem oder ausschließlich am Einfluss auf Mozart. Um die Wirkmacht Glucks zu erfassen, muss man den Bogen viel weiter spannen: Ohne seine durchkomponierten Opern wäre Wagners Ring nicht denkbar. Wagner ist Gluck sehr nah.

Foto: Public Domain

Warum?

Glucks herausragende Leistung liegt im Brückenschlag zum 19. Jahrhundert. Er öffnete der Romantik den Weg. Die Barockoper stellte Affekte, also Emotionen, dar. Arien brachten Wut, Liebe, Eifersucht und Trauer als Topoi zum Ausdruck. Das ist, als würde man dem Publikum zeigen: Guck, so sieht ein liebender oder trauriger Mensch aus. Gluck drehte den Blick um und gibt zu verstehen: Lasst uns nach innen schauen. Er bringt in einer unfassbar stringenten, psychologischen Durchführung der Figuren plötzlich etwas auf die Bühne, was bis dahin so niemand kannte: Er erhob die Seele des Menschen zum Wesenskern des Geschehens auf der Bühne – mehr als 100 Jahre vor dem Beginn der Psychoanalyse durch Freud. 

Wie sah das konkret aus?

Geisterwelten dienten im 18. Jahrhundert dazu, innere Vorgänge im Menschen zu beschreiben. In Glucks Orfeo ed Euridice redetOrpheus so gut wie nie mit realen lebendigen Menschen. Er wünscht sich, allein gelassen zu werden, also sich nach innen zurückziehen zu dürfen. Er wendet sich dann an Eurydike, seine verstorbene Geliebte. Das Jenseits kann man als  ›innere Welt‹ deuten. Später kämpft Orpheus gegen die Furien, gemeint ist das Ringen mit den eigenen Ängsten, denen er sich stellt. Gluck lässt Orpheus nur mit der Harfe – dem musikalischen Sinnbild der Seele – den Furien gegenübertreten.  Orpheus spricht die Furien an, sagt ihnen, dass der Schmerz, der sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt sind, auch sein Schmerz ist – und da lassen sie ihn durch, besänftigt und verwundert von der Menschlichkeit und dem tiefen Verständnis, das Orpheus ihnen entgegenbringt. 

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Glucks Zeit war total auf die Gesangskunst der Kastraten ausgerichtet. Man könnte also auch zeitlich nicht nach vorn in die Romantik schauen, sondern zurückgehen und sagen: Nun sind wir wieder beim Ansatz Claudio Monteverdis, demzufolge die Musik dem Text zu dienen hat. 

Oh ja! Da gibt es eine starke Parallele. Es ging Gluck in der Tat wie Monteverdi nicht um tändelnde Unterhaltung. Gluck wollte den Textfluss mit der Musik fördern, weshalb er auf überlange Dacapo-Arien mit ellenlangen Koloraturen verzichtete. 

Warum wird Gluck erst in jüngerer Zeit – seit zehn, vielleicht fünfzehn Jahren – entdeckt, stärker aufgeführt und vor allem auch eingespielt? 

In den 1990er- und 2000er-Jahren ging es uns allen gut, wir hatten Wohlstand. An Krieg, an Flüchtlingsbewegungen und andere existenzielle Krisen hat man nicht gedacht. Die Gesellschaft feierte sich selbst. So wie im Barock dachte das Opernpublikum: Alles ist bestens, uns kann nie mehr was passieren. Das passte damals perfekt in unser Musikleben. Ich glaube, die Zeit Glucks und seiner großen geistig-seelischen Welten jetzt gekommen. ¶

… stammt aus Leipzig, lebt seit Ewigkeiten in Berlin, hat Drechsler gelernt, verdient aber seit gut drei Jahrzehnten sein Geld mit Wortdrechseleien. Von Kindesbeinen an liebt er alles, was unter den Begriff der »Klassik« fällt. Sein Spezialgebiet ist die Vokalmusik der Renaissance und des Barock, insbesondere die Oper.