In Deutschland ist sie noch immer ziemlich unbekannt, in Irland fast so etwas wie eine Kompositionslegende. Geboren wurde sie am 8. März 1889 in Bushey Park, in der Nähe von Enniskerry, in der Grafschaft Wicklow; ziemlich genau sechs Wochen vor Charlie Chaplin (1889–1977): Ina Boyle.
Ihr Vater arbeitete als Kaplan und wurde zum ersten Musiklehrer von Ina Boyle. Hinzu kamen Cello- und Violinstunden bei der Gouvernante der Familie, die die junge Ina zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Phyllis absolvierte. Ab dem Jahr 1900 unterrichtete der Organist und Komponist Samuel Myerscough (1854–1932) die Elfjährige in Musiktheorie und Harmonielehre. 1910 wurde schließlich Percy Buck (1871–1947) ihr Lehrer – und drei Jahre später studierte Boyle regulär Kontrapunkt, Harmonielehre und Komposition in Dublin, unter anderem bei Charles Herbert Kitson (1874–1944): ebenfalls ein – ganz in der (konservativen) katholischen Kirchenmusiktradition Irlands stehender – komponierender Organist.
Kitson motivierte Boyle, eigene Gedanken, eigene Werke zu Papier zu bringen und diese zu veröffentlichen. Die ersten Notenpublikationen stammen aus dem Jahr 1915. Ab 1923 setzte Ina Boyle ihr Studium bei Ralph Vaughan Williams (1872–1958) in London fort. In den 1920er und 1930er Jahren wurden ihre Werke vereinzelt in England aufgeführt und bald schloss sich Boyle zum Zwecke gemeinsamer Konzertreihen mit den Komponistinnen Elisabeth Lutyens (1906–1983), Grace Williams (1906–1977) und Elizabeth Maconchy (1907–1994) zusammen.
Laut einer irischen Webseite kümmerte sich die Komponistin fürsorglich um ihren kranken Vater und schränkte dadurch ihre künstlerisch motivierten Reisen stark ein. Hinzu kamen die Wirren des Zweiten Weltkriegs, die Boyles zunehmend isolierten. Zeitgleich versuchte sie, durch den Versand eigener Partituren an Dirigenten und Chorleiter im Musikleben Englands präsent zu bleiben. Doch nur in ganz wenigen Konzerten kam es zu Aufführungen ihrer Musik.
Ina Boyle starb – unverheiratet – am 10. März 1967 in Greystones (nahe ihres Geburtsortes) an den Folgen einer Krebserkrankung, zwei Tage nach ihrem 78. Geburtstag.
Ina Boyle (1889–1967)
Symphonie No. 1 (»Glencree«) (1927)
Von Ina Boyle ist eine Oper (Maudlin of Paplewick, 1966) überliefert; hinzu kommen drei Ballettmusiken, etwa ein Dutzend Orchesterwerke, einige Lieder, Chormusik, Stücke für Gesang und Orchester sowie ein Streichquartett. Ihre erste Symphonie (insgesamt komponierte Boyle deren zwei) entstand 1927. Die damals 38-jährige Komponistin untertitelte diese Symphonie mit Glencree – einem Tal in den Wicklow Mountains, der Region ihrer inniglich geliebten Heimat, die sie nur für kurze Abstecher nach London verließ. Durch das etwa 400 Meter hohe Tal Glencree fließt der Fluss Dargle. Am Fuße des im Mittelalter vor allem von alten Eichen bewachsenen Tals befindet sich das Dorf Enniskerry.
Man hört gewissermaßen die Vögel irischer Wälder sanft tirilieren. Als staunten diese über die gewachsene Natur; fast erstarrt vor dem schönen Grün. Eine Oboe singt ihr liebliches, weitläufiges Klagelied. Im Hintergrund verschieben sich herrliche Geigenakkorde, Coplands wunderbare Ballettmusik Appalachian Spring (1944/1954) quasi antizipierend. Wer Boyles Musik bis hierhin vielleicht für »harmlos« hielt, wird von einem (recht genau nach eineinhalb Minuten erklingenden) innigen und dennoch deutlich als emotionale Zäsur vernehmbaren Akkord überrascht. Eine Klarinette prescht empor – das ganze Orchester antwortet nun mit einer expressiven Forte-Exegese. Großartig dunkeln sich die Akkorde ein; überhaupt erstaunlich, wie fantastisch Ina Boyle das Spiel mit immer interessanten, zu Herzen gehenden Farbharmonien beherrscht! Große Musik! ¶