In dieser Rubrik kommentieren wir in jeder Ausgabe eine Nachricht, die uns in der vergangenen Woche beschäftigt, betrübt oder erfreut hat.
Plácido Domingo soll seit 26 Jahren Verbindungen zu mindestens vier Mitgliedern einer kriminellen Sekte in Buenos Aires haben. Das berichten argentinische Zeitungen, die sich auf Quellen aus dem Umfeld der Ermittlungen gegen die Sekte berufen. Zwei der besagten Mitglieder befinden sich in Haft, eines ist auf der Flucht und das andere starb vor vier Jahren. Die Sekte, die unter dem Namen »Escuela de Yoga de Buenos Aires« firmierte, wurde letzte Woche von argentinischen Behörden nach über 30 Jahren zerschlagen. Sie wird für Geldwäsche, Erpressung, Menschenhandel und illegale Prostitution, darunter auch von Minderjährigen, verantwortlich gemacht. Die sexuellen Dienstleistungen sollen unter dem Decknamen »VIP Geisha« speziell für internationale Prominente und Führungskräfte angeboten worden sein, vor allem in Buenos Aires, aber auch in Las Vegas, Chicago und New York.
In drei von der Polizei abgehörten Telefonaten, die unter anderem von der Zeitung El Diario veröffentlicht wurden, geht es um das Arrangement einer sexuellen Begegnung zwischen – vermutlich – Domingo und einer der Anführerinnen der Sekte. In einer der Tonbandaufnahmen erklärt ein Mann, bei dem es sich laut argentinischer Behörden um Domingo handeln soll, einer Frau namens Mendy die Vorsichtsmaßnahmen, nach denen ihr Treffen ablaufen soll, damit seine Agenten nichts davon mitbekommen. »Wenn wir vom Abendessen aufstehen, gehen wir getrennt, weil meine Agenten auch aufs Zimmer gehen, wenn ich nach oben gehe, und sie wohnen auf derselben Etage«, sagt der Mann. Dann gibt er der Frau die Nummer des Zimmers an, in dem sie sich treffen sollen.
Bei Mendy soll es sich um Susana Mendelievich handeln, die bei der Sekte für den lukrativen Finanzierungszweig »VIP Geisha« verantwortlich gewesen sein soll. Früher war sie auch als Pianistin und Komponistin tätig.
In einem weiteren Telefonat berichtet sie dem Chef der Bande, Juan Percowicz, dass ein »Plácido« sie kontaktiert habe. »Er kann uns besuchen, ich meine, er wird mich besuchen. […] Ich werde mich wieder einmal opfern müssen, ich habe eine große Berufung zum Dienen.« In einem weiteren Telefonat berichtet Mendelievich Percowicz von den Vorbereitungen für das Treffen. »Er hat mich angerufen und einen Plan ausgeheckt, damit ich im Hotel bleiben kann, ohne dass die Agenten es merken«, sagt sie zu Percowicz. »Was für ein verkommener Mensch du bist«, antwortet Percowicz. Ob und wann das Treffen stattfand, ist nicht bekannt. Domingo trat im vergangenen April im Teatro Colón in Buenos Aires auf.
In weiteren abgehörten Telefonaten von Mendelievich mit einem Sektenmitglied soll es außerdem um den gescheiterten Versuch gehen, die Verbindungen zwischen Domingo und den der Sekte angehörenden Musiker:innen auszunutzen, um den Sänger als Mitglied zu gewinnen. »Wir haben 30 Jahre lang versucht, diese musikalischen [Verbindungen] zu nutzen, und es ist uns immer noch nicht gelungen [Domingo zu rekrutieren]«, so Susana »Mendy« Mendelievich laut der spanischen Zeitung El País.
Er habe die Mitglieder der Sekte allerdings als »befreundete Musiker« angesehen und nichts von den ihnen vorgeworfenen kriminellen Machenschaften gewusst.
Sowohl die 75-jährige Mendelievich als auch der 84-jährige Percowicz wurden letzte Woche festgenommen. Domingo soll außerdem Kontakt mit dem jetzt ebenfalls verhafteten Oboisten Mariano Krawczyk alias Kraus und dem 2018 verstorbenen Geiger Rubén González gehabt haben, der von 1986 bis 1996 Konzertmeister des Chicago Symphony Orchestra war und verdächtigt wird, in Chicago eine Zweigstelle der Sekte eröffnet zu haben.
Domingo hatte zunächst nicht auf die Bitte verschiedener Medien um eine Stellungnahme reagiert. In einem gestrigen Interview am Rande eines Auftritts im mexikanischen Monterrey bestreitet Domingo nicht, dass er der Mann auf den Aufnahmen ist. Er habe die Mitglieder der Sekte allerdings als »befreundete Musiker« angesehen und nichts von den ihnen vorgeworfenen kriminellen Machenschaften gewusst. Auf die Frage, ob er sich betrogen fühle, antwortete er: »Es macht mich traurig, wenn man viele Jahre lang Freunde hatte und merkt, dass man benutzt wurde.«
Tatsächlich haben Domingo, Mendelievich, Kraus und González eine gemeinsame musikalische Vergangenheit, die schon lange zurückreicht. In argentinischen Zeitungen wird auf ein Open-Air-Konzert am 20. Februar 1996 auf dem Campo Argentino de Polo in Buenos Aires verwiesen, bei dem ein Ausschnitt der Oper Cartas Marcadas auf dem Programm stand, die von Mendielivich, Kraus und González komponiert wurde und deren Libretto auf einem Buch des Sektengründers Percowicz basiert. Domingo trat dabei im Duett mit der Sopranistin Verónica Loiácono auf, die heute in den USA leben soll und von Interpol wegen ihrer Beteiligung an der Organisation gesucht wird. Die argentinische Zeitung La Nacion berichtete damals über das Konzert.
Die institutionellen Reaktionen auf die Vorwürfe zeigten, wie anders dies- und jenseits des Atlantik mit dem Verdacht von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung umgegangen wird.
»Er sitzt in der Scheiße, Juan, er tut mir leid, ich wünsche ihm nichts Böses, aber es ist so schön zu sehen, wie wir strahlen und durch die Lüfte fliegen und er in der Scheiße sitzt. Er hat uns alles erzählt, was sie ihm angetan haben«, so Susana »Mendy« Mendelievich in einem der oben erwähnten Telefonate zum Sektenführer Percowicz. Damit spielt sie, beziehungsweise Domingo, wohl auf die Vorwürfe von vor drei Jahren an. Damals hatten mehr als zwanzig Frauen dem Sänger sexuelle Belästigung vorgeworfen. Dazu gehörten feuchte Küsse auf den Mund, Griffe unter den Rock, penetrantes Nachstellen in Umkleidezimmern und nächtlicher Telefonterror. Mehrere Sängerinnen berichteten davon, dass Domingo den Wunsch, ihre Karriere zu fördern, vorgetäuscht habe, um intime Situationen zu schaffen, in denen er dann sexuell zudringlich geworden sei. Sieben Frauen gaben an, ihre Karriere sei durch die Zurückweisung der Annäherungsversuche nachhaltig beschädigt worden.
Domingo hatte sich damals in einer Stellungnahme bei allen Kolleginnen entschuldigt, »die sich durch irgendetwas, was ich gesagt oder getan habe, unwohl oder verletzt gefühlt haben«, gleichzeitig aber bestritten sich jemals »aggressiv gegenüber irgendjemandem verhalten zu haben«. »Ich habe nie etwas getan, um die Karriere von irgendjemandem in irgendeiner Weise zu behindern oder zu schädigen.«
Die institutionellen Reaktionen auf die Vorwürfe zeigten, wie anders dies- und jenseits des Atlantik mit dem Vorwurf von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung umgegangen wird. In den USA hatten damals umgehend fast sämtliche Institutionen, unter anderem die Los Angeles Opera und die New Yorker Metropolitan Opera, eine Zusammenarbeit mit Domingo beendet. In Europa hingegen hielten Opernhäuser und Festivals wie die Elbphilharmonie Hamburg, die Salzburger Festspiele oder die Staatsoper Berlin an geplanten Auftritten mit dem Sänger fest. In die Begründungen mischten sich zwischen das »In dubio pro reo« als handlungsleitendes Motiv auch grundsätzliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Vorwürfe. »Ich kenne Plácido Domingo nun seit über 25 Jahren. Zu seiner künstlerischen Kompetenz hat mich von Anfang an sein wertschätzender Umgang mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Festspiele beeindruckt«, schreibt die damalige Präsidentin der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler, in einer Stellungnahme.
Auch einige Kolleginnen und Journalistinnen erkannten in Domingo damals nicht den Täter, sondern das Opfer einer um sich greifenden »Cancel Culture«. »I support You with all my heart and I hope that this terrible absurd will soon be over. Thank You for everything You’ve given to our World!!! You are GREAT!!! #standbyplacidodomingo #isupportplacidodomingo«, schrieb die Sopranistin Asmik Grigorian auf Facebook. Die öffentlich-rechtliche Kulturjournalistin Maria Ossowski forderte in einem SWR-Kommentar zum Fall Domingo, #metoo solle sich lieber beschränken auf die Fälle, in denen Frauen »beschnitten, gefoltert, geschlagen und vergewaltigt werden, in die Prostitution und die Pornoindustrie gezwungen, entrechtet und ermordet werden.« »Unziemliche Küsse auf den Mund«, wie im Falle Domingos, gehörten hingegen nunmal zum verführerischen Spiel der Oper, »das auch in der Realität belebt«.
Die Vorwürfe, die 2019 gegen Domingo erhoben wurden, waren gut recherchiert, vielfach belegt und wurden später unter anderem in einer Untersuchung der American Guild of Musical Artists bestätigt. Der neuerliche »Fall Domingo« ist bei genauerem Hinsehen allerdings weniger eindeutig. Ein argentinischer Strafverfolgungsbeamter, der anonym bleiben möchte, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AP, dass Domingo weder ein Verbrechen begangen habe, noch Mitglied der Vereinigung gewesen sei, sondern »ein Kunde von Prostitiution«. Prostitution ist in Argentinien nicht illegal, weshalb es bisher auch keine Anklage gegeben hat.
Ob und inwieweit Domingo um die Verbrechen der Sekte wusste, und um die Verbindungen seiner »Freunde« zu ebenjener, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Am Medienecho auf den Fall lässt sich hingegen beobachten, wie unterschiedlich die Verdachtsberichterstattung bei prominenten Protagonist:innen ausfällt und wie tendenziös dabei teilweise mit den Fakten umgegangen wird. Die großen argentinischen Zeitungen befassen sich ausführlich mit den Ermittlungsergebnissen, Hintergründen und Netzwerken der Sekte. Die Telefonate mit Domingo werden dabei erwähnt, jedoch stets auch seine strafrechtliche Unschuld. Die zweitgrößte argentinische Zeitung Clarin geht bei ihren Recherchen auf Domingo gar nicht ein. Tatsächlich sind seine Verbindungen zur Sekte nach derzeitigem Erkenntnisstand eher irrelevant. Nach Angaben von El País wurden bei dem Lauschangriff der argentinischen Ermittler:innen Handys von 35 Sektenmitgliedern abgehört und Telefonate mit einer Gesamtdauer von 176.000 Stunden aufgezeichnet. Weitere Hinweise auf Domingo sollen dabei nicht gefunden worden sein.
Ganz anders hingegen ein Kommentator in der Washington Post, der den Fall als Verlängerung und Bestätigung der Vorwürfe gegenüber Domingo von vor drei Jahren sieht – obwohl es bei Domingos Verbindungen zu Sektenmitgliedern bisher keine Hinweise auf Machtmissbrauch oder sexuelle Belästigung gibt. Ohne die Details des Falls – und Domingos vermeintliche Verstrickungen – detailliert darzustellen, resümiert er, dass »die Nachrichten selbst für diejenigen schockierend sein mögen, die die Ereignisse des Jahres 2019 kennen« und fordert kurzerhand eine Ende von Domingos Bühnenpräsenz: »Die meisten Veränderungen in der Oper brauchen ihre Zeit […] Aber das Domingo-Problem ist einfach [zu lösen]. Hören Sie auf, ihn zu buchen.« Ob die Veranstalter diesem Aufruf folgen, bleibt fraglich. Die metoo-Vorwürfe haben Domingos Karriere außerhalb der USA, so scheint es, kaum geschadet (der Beliebtheit bei seinen Fans auch nicht). Ein Konzert, das der Sänger am 16. Oktober in Santiago de Chile geben sollte, wurde gestern allerdings aufgrund »logistischer Schwierigkeiten« abgesagt. Domingos nächster Auftritt in Deutschland ist für den 3. Oktober in der Hamburger Elbphilharmonie geplant. ¶