Das KharkivMusicFest ist eines der jüngsten und größten klassischen Musikfestivals in der Ukraine. Erst 2018 lud es das erste Mal zu einem umfangreichen Programm. Das Festival sah sich also Zeit seines Bestehens mit großen Herausforderungen – Pandemie und Krieg – konfrontiert, fand jedoch immer Möglichkeiten, kulturelle Angebote zu machen. Seit 2022 bin ich Künstlerischer Leiter dieses Projekts.

In gewisser Weise waren es der Krieg und der Wunsch, trotz allem Kunst zu machen, die uns als Team verbanden: 2019 leitete ich ein Musikprojekt in Sewerodonezk und anderen Frontstädten. Die Information darüber erreichte schnell Charkiw, und bald wurde ich dorthin zunächst als Dirigent eingeladen. Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit wurde mir die Position des Künstlerischen Leiters des Festivals angeboten. Das erste Festival unter meiner Leitung sollte im Frühjahr 2022 stattfinden.
Trotz der massiven Bombardierung und des Beschusses gelang es uns, in den ersten Wochen des Krieges nicht nur vier Konzerte in verschiedenen Luftschutzkellern von Charkiw zu veranstalten, die »Konzerte zwischen den Explosionen«, sondern das erste davon sogar am geplanten Eröffnungstag des Festivals, dem 26. März, durchzuführen.
Aktuell muss das Festival manövrieren zwischen dem Streben nach Normalität und den Gefahren seines Standorts. In dieser ambivalenten Situation ist es seinen Zielen treu geblieben: spannende und anregende Veranstaltungen für die Menschen der Stadt zu realisieren und neue Bedeutungen und kulturelle Verbindungen zu schaffen.

Wir haben es auch in diesem Jahr geschafft, acht vollständige Konzerte zu realisieren, die an verschiedenen Orten – von Konzertsälen bis hin zu Krankenhäusern – stattfanden. Das Programm war ebenfalls sehr breit gefächert und umfasste sowohl berühmte internationale Komponist:innen als auch ukrainische Jugendliche, die die Sprache der Musik nutzten, um ihre neuen Kriegserfahrungen zu verarbeiten. Außerdem wurden überall in der Stadt Klaviere aufgestellt, auf denen jedermann musizieren konnte. Ein wichtiger Ausdruck der neuen Realität waren die Art Therapy Days, bei denen alle durch Musikworkshops, Lesungen und Theateraufführungen, die von professionellen Psycholog:innen und Therapeut:innen organisiert wurden, niedrigschwellig Hilfe erhalten konnte. Über diese Veranstaltungen hat die Programmdirektorin unseres Festivals, Julia Nikolaevskaya, ausführlicher geschrieben. Ich möchte mich auf die letzten beiden Veranstaltungen des Festivals konzentrieren.

Es ist uns außerdem gelungen, ein Projekt umzusetzen, das wir ein Jahr vor dem Krieg geplant hatten und das in der aktuellen Situation zunächst kaum realisierbar schien: die Tanzproduktion IN C mit Musik von Terry Riley und der Choreographie von Sasha Waltz. Aktuell ist die Ukraine fast vollständig isoliert von internationalen Künstler:innen (die meisten möchten aus Sicherheitsgründen das Land nicht bereisen, vor allem nicht Regionen wie Charkiw). In C entstand am Beginn der Pandemie, als die Tänzer:innen nur von zu Hause aus arbeiten konnten. So entwickelte sich eine Produktion, in der alle Bewegungen zunächst einzeln gelernt wurden.

Etwas Ähnliches geschah im ukrainischen Kontext: Tänzerinnen und Tänzer in Charkiw und Kyiv versammelten sich gleichzeitig in verschiedenen Studios und studierten mehr als einen Monat lang online unter der Leitung von Orlando Rodriguez von der SW&G [Sasha Waltz & Guests]. Erst Mitte Juni, wenige Tage vor der Aufführung, trafen sich alle in Charkiw zu gemeinsamen Proben. Es war ein mitreißendes Projekt, bei dem schwer zu sagen ist, wer begeisterter war – die Tänzer:innen von der Möglichkeit, mit einer renommierten Choreografin zu arbeiten und etwas Neues zu lernen, das sie in der Ukraine nicht hätten finden können, oder SW&G von der Möglichkeit, an einer für uns alle so wichtigen Zusammenarbeit beteiligt zu sein.

Darüber hinaus spiegelt die Idee von IN C in der Sprache der Kunst die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen. Sowohl in der Musik von Terry Riley als auch in der Choreografie von Sasha Waltz gibt es 53 musikalische und tänzerische Muster, die nacheinander ablaufen und sich überschneiden. Alle Darstellenden entscheiden selbst, wann sie zum nächsten Muster übergehen, und inspirieren auf diese Weise Kolleg:innen, zu folgen. Ein interessantes Detail ist, dass die Tänzer:innen in chronologischer Reihenfolge zu neuen Bewegungen übergehen müssen und zeitlich nicht zu weit voneinander entfernt sein dürfen. Auf diese Weise entsteht eine Gruppendynamik, die zu einer ständigen Entwicklung führt, bei der alle die jeweils anderen wahrnehmen, reagieren und gleichzeitig führen müssen. Wir wollten zeigen, dass man auf der Bühne und auch außerhalb nicht immer einen bestimmten Anführer braucht, der einem ständig sagen muss, was man zu tun hat. Die Tänzerinnen und Tänzer haben selbst viel zu bieten und können andere mit ihren Vorschlägen unterstützen. Kompetenz, Kooperation, Vielseitigkeit, Können und Inspiration, Führung und Solidarität – das sind die Prinzipien von IN C, und die wollten wir dem Publikum in Charkiw vermitteln.

Nach einer langen Pause habe ich es endlich geschafft, nach Charkiw zurückzukehren (das letzte Mal war ich dort einige Wochen vor dem großen Krieg) und den Abschluss unseres diesjährigen Festivals persönlich zu leiten.
Meine Eindrücke von der Stadt waren ziemlich ambivalent. Einerseits konstruieren wir außerhalb der Ukraine aufgrund der Unmöglichkeit persönlicher Erfahrungen und des ständigen Medienkonsums ein Bild von der Lage in der Ukraine, das nicht immer der Realität entspricht. Oft haben wir den Eindruck, dass dort, wo russische Raketen fliegen, das Leben völlig zum Erliegen kommt. Aber Charkiw, in dem nach verschiedenen Schätzungen inzwischen wieder mehr als eine Million Menschen wohnen, lebt sein buntes Leben. Das Stadtzentrum ist tagsüber überfüllt, und es kann schwierig sein, einen Parkplatz zu finden. Einkaufszentren und Parks sind voller Menschen, die den Sommer genießen. Die Bombenschäden sind sauber geflickt, nur mit Sperrholzplatten anstelle von Glas. Und die Denkmäler sind eingehüllt, als hätte sich der Winter zu lange hingezogen. Serhiy Polituchiy, der Gründer und Mäzen unseres Festivals, sagt: »Die Stadt ist verwundet, aber lebendig.«
Aber ab und zu ändert sich das Leben, vor allem nachts. Es ist wie im Spiel: Der Düsterwald schläft ein, die Werwölfe wachen auf. Jeder hat mehrere Telegram-Kanäle abonniert, die vor den nahenden Bombenangriffen warnen. Es gibt mehrere Einsatzteams, die ständig den unruhigen Osthorizont im Blick behalten und die Bevölkerung alarmieren, sobald sie Raketen starten sehen, und dann versuchen, deren Richtung zu bestimmen. Täglich und regelmäßig gibt es Luftalarm. Aber in Charkiw gibt es ein gewisses Phänomen: Niemand beachtet die Alarme. Ich erwischte einen in der ersten Stunde nach meiner Ankunft und musste sehr schnell eine einfache Regel lernen: Wenn es einen Alarm gibt, bedeutet das, dass die Rakete nicht in der Stadt, sondern in der Region ist, also ist alles ruhig. Auf meine Frage, was man in der Stadt selbst tun solle, antworteten mir alle meine Gesprächspartner, dass es keinen Sinn habe, sich Sorgen zu machen. Charkiw liegt so nahe an der russischen Grenze, dass die Alarme meistens nicht rechtzeitig losgehen können, bevor die Rakete eintrifft, und man kann deswegen einfach weiterhin der eigenen Arbeit nachgehen. Mut und Fatalismus gehen hier Hand in Hand.

Konzerte und andere Massenveranstaltungen mit mehr als 50 Zuschauer:innen können in der Stadt nur in sehr begrenztem Umfang durchgeführt werden. In der Tat gibt es nur zwei Veranstaltungsorte, an denen das überhaupt möglich ist: ein Theater- und Konzertzentrum (ehemals der Kleine Saal der Oper Charkiw) und das Yermilov-Zentrum. Im ersten fand IN C statt, im zweiten war unser Abschlusskonzert. Es gibt noch einen dritten Veranstaltungsort, der aber im Gegensatz zu 2022 nur noch für seinen eigentlichen Zweck genutzt wird – die U-Bahn. Also mussten wir unser Abschlusskonzert im Yermilov-Zentrum abhalten. Es ist ein Ausstellungskomplex, der auch als Luftschutzbunker dient. Er ist nicht für musikalische Veranstaltungen konzipiert, ziemlich hallig und hat keine richtige Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Also beschlossen wir, mit diesem Ort zu spielen, und der Großteil des Programms bestand aus Stücken, die trotz des Nachhalls gut aufgeführt werden konnten.
Unser Konzert ließ sich konzeptionell in zwei Teile gliedern, die sich ständig vermischten: eine Operngala und ein Sinfonieprogramm. In der Gala traten eine ukrainische Sängerin und ein ukrainischer Sänger auf, die den Mut hatten, nach Charkiw zu kommen: Tamara Kalinkina (Sopran) von der Nationaloper der Ukraine in Kyiv und Vitaliy Bilyy (Bariton) von der Oper Odessa. Es spielte das Kammerorchester der Charkiwer Oper – und damit das Ensemble der wenigen professionellen Orchestermusiker:innen, die es in der Stadt noch gibt (trotzdem konnten wir in der ganzen Millionenstadt keinen einzigen Fagottisten finden). Als Konzertmeisterin spielte Vera Lytovchenko, die zu Beginn des Krieges ständig Konzerte aus dem Luftschutzkeller gab und aus Charkiw berichtete. Verschiedene berühmte Opernarien sowie ukrainische Lieder sorgten für ein Gefühl der musikalischen Feierlichkeit – schließlich gab es in der Stadt seit anderthalb Jahren kaum noch Konzerte dieser Art.

Der zweite Teil des Konzepts war geprägt durch meinen Wunsch, die Menschen in Charkiw zu unterstützen, ihnen musikalische Grüße und Solidarität zukommen zu lassen. Es gab stille Musik von Valentin Silvestrov, die sich mit ihrem phantasmagorischen Echo erstaunlich gut in die Akustik des Bunkers einfügte. Ich lernte Silvestrov zu Beginn des Krieges persönlich kennen, denn durch Zufall war ich derjenige, der ihn von der ukrainischen Grenze nach Berlin fuhr. Seitdem lebt er dort, und für mehrere Monate stand mein Klavier in seiner Wohnung, damit er neue Werke komponieren konnte. Eines davon – die Hymne – spielte er mir vor, als wir uns wieder trafen. Seitdem hat mich der Gedanke, das Stück in Charkiw aufzuführen, nicht mehr losgelassen, aber Silvestrov hat es für ein melodisches Soloinstrument (Fagott oder Horn) geschrieben, das ein Echo mit einem Klavierpedal verwendet. Also vereinbarten wir, dass ich das Stück, das beunruhigende Motive (für »Unruhe« benutzt man im Ukrainischen übrigens dasselbe Wort wie für »Alarm«) und Fragmente der ukrainischen Nationalhymne enthält, speziell für dieses Konzert orchestrieren würde. Silvestrov gab mir Anweisungen, wie ich die Echoeffekte sowie die zerklüftete, unsichere Textur der Hymne darstellen sollte. Die Hymne, die sich immer wieder zu entwickeln und zu verstärken beginnt, und immer wieder plötzlich verstummt …
Außerdem spielten wir eines der beliebtesten Werke von Arvo Pärt, Cantus in Memoriam Benjamin Britten, das allerdings wohl noch nie in Charkiw aufgeführt wurde. Pärt und seine Frau richteten nicht nur musikalische, sondern auch persönliche Grüße an die Menschen in Charkiw. Wegen seiner Dramatik haben wir beschlossen, dieses Werk all jenen Helden zu widmen, denen wir es zu verdanken haben, dass wir an diesem Tag im Zentrum der freien Stadt überhaupt zu einem musikalischen Ereignis zusammenkommen konnten. Und für mich, einen in Deutschland lebenden belarussischen Dirigenten, war es besonders wichtig, dass dieses Stück von einem Ukrainer geleitet wird. So füllte mein Assistent Ivan Stetsky zusammen mit den Orchestermusikern den Saal mit einer emotionalen Tiefe, die vielen Tränen in die Augen trieb.

Aber am emotionalsten war das Ende des Konzerts (und des Festivals), als wir als Zugabe die Hymne der Ukraine spielten – jetzt im vollen und vollständigen Klang, ohne jegliche Anspielungen und Alarme. Alle standen sofort auf und begannen mitzusingen; niemand brauchte etwas zu erklären, die Menschen standen bis zum letzten Ton zusammen. So wie sie es in Charkiw und der Ukraine immer noch tun. ¶