Die Februarrevolution 1917 brachte die Zarenherrschaft in Russland bekanntlich zu ihrem Ende. Auf dem Gebiet der Ukraine witterte man damals die Chance auf die Gründung eines von Russland unabhängigen Staats. Am 17. März des Jahres rief man eine provisorische Regierung aus und wählte den Geschichtswissenschaftler Mychajlo Hruschewskyj (1866–1934) zum Vorsitzenden des ukrainischen Volksrates.

13 Tage nach dieser Wahl wurde am 30. März 1917 im ostukrainischen Dimitrijewsk (heute: Makijiwka) Els Aarne geboren, als Kind von Marie Aaarmann und dem Ingenieur Jan Aarmann. Weder im Metzler Komponisten-Lexikon noch in dem »Lexikon« Neue Musik (Stuttgart 1992) von Jörn Peter Hiekel und Peter Utz (Kassel 2016) gibt es einen Eintrag über Aarne. Die Informationen über sie sind überhaupt äußerst spärlich gesät. 

Wann die Übersiedlung – möglicherweise der ganzen Familie Aaarmann – nach Estland erfolgte, ist nicht herauszubekommen. Estland genoss jedenfalls von 1918 bis 1940 Unabhängigkeit – und galt als Land mit guter Förderung junger musikalischer Talente. Am Konservatorium von Tallinn studierte Els Aarne ab Mitte der 1930er Jahre Komposition, Klavier und Musikpädagogik. Aarnes estnischer Kompositions-Professor Heino Eller (1887–1970) war im Ersten Weltkrieg für die russische Armee in den Krieg gezogen. Seine Frau – die Pianistin Anna Kremer – wurde (wahrscheinlich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft) 1942 in einem Konzentrationslager ermordet. (Ellers programmatische Musik – obwohl international nie groß rezipiert, wie auch das Werk seiner Studierenden – klingt erstaunlich farbenfroh, hörenswert und nicht im unangenehmen Sinne »national«.)

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Aarnes Klavierlehrer in Tallinn, der Este Theodor Lemba (1876–1962), kam jedoch durchaus zu internationalerem Ruhm. Lemba, Schüler des berühmten Klavierprofessors und Horowitz-Lehrers Felix Blumenfeld (1863–1931), bereiste mit seinem Kammermusikpartner, dem tschechischen Geiger Jan Kubelík (dessen Sohn Rafael als Dirigent eine Weltkarriere hinlegte und deren Enkelin Anna bis heute als Bildende Künstlerin in Berlin lebt) die Welt.

Den Schritt »hinaus in die internationale Welt der Musik« machte Els Aarne jedoch nicht. Sie blieb nach Abschluss ihres ersten Studienfachs (Musikpädagogik) – sicherlich auch aufgrund des ausbrechenden Zweiten Weltkriegs – in Estland und unterrichtete von 1939 bis 1945 Klavier am Lehrerseminar in Tallinn. Von 1944 an arbeitete Aarne schließlich für drei volle Jahrzehnte (bis 1974) als Klavier- und Musiktheorie-Dozentin am Tallinner Konservatorium.

Dort lernte Aarne den Geiger Mart Paemurru (1908–1972) kennen. Paemurru, gebürtiger Tallinner, hatte Horn und Violoncello studiert und auch die Fächer Dirigieren und Komposition belegt. Von 1929 bis 1930 war er offenbar Cellist im Estnischen Radio-Sinfonieorchester (Eesti Riiklik Sümfooniaorkester, ERSO), von 1932 bis 1942 Hornist im Orchester der Nationaloper Estonia (Rahvusooper Estonia) und von 1948 bis 1968 – erstaunlich – wieder zurück als Cellist beim ERSO.

Aus der Ehe mit Mart Paemurru – Eels Aarne hatte inzwischen den Namen ihres Gatten angenommen – gingen zwei Söhne hervor, die beide ebenfalls Musiker wurden. Eels Paemurru entwickelte neben ihren Berufen als Mutter und Komponistin ihre pianistische Laufbahn weiter, spielte Uraufführungen eigener Stücke mit Klavierbeteiligung meist selbst, arbeitete mit Dirigenten wie ihrem berühmten Landsmann Neeme Järvi (*1937) zusammen, schrieb musikpädagogische Lehrwerke, Musikkritiken, konzipierte Radiosendungen und war außerdem als Fotografin und Kurzfilm-Macherin aktiv.

Els Aarne – auch bekannt als Else Paemurru – starb am 14. Juni 1995 im Alter von 78 Jahren in Tallinn.

Els Aarne (1917–1995)
Konzert für Klavier und Orchester (1945)

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Els Aarne komponierte vor allem Kammermusikwerke, Stücke für Orchester (darunter zwei Symphonien sowie mehrere Werke für Solo-Instrument und Orchester), typisch estnische, folkloristisch-nationale Chorwerke, zehn Liederzyklen, Klavier-Solo-Musik und Werke für Blasorchester.

1945 entstand ihr Konzert für Klavier und Orchester. Das Ganze beginnt mit dramatischen Aktionen des Klaviers. Wohin? Das Orchester setzt fast unmerklich ein. Gleichwertige Kammermusikpartner. Ein fassbares Thema ist noch nicht herauszuhören. Nach knapp einer Minute hat das Orchester sein Quasi-Schweigen satt und fällt mitten ins Wort. Dramatik? Aber warum? Eine fahle Klarinette schält sich als Stimme eines Individuums heraus. Das Klavier scheint diese »Meldung« nun zu paraphrasieren. Irgendwie ein bisschen Rachmaninow. Volle Klangkaskaden.

Anschließend entführen silbrige Geigen in lichte Höhen. Lohengrin? Leicht hymnische Töne mischen sich hinzu. Hier ist eine Tonalität am Werke, die ganz klar ins 19. Jahrhundert »gehört«. Doch atemlos findet die Harmonik kaum Ruhe. Die Suche des Orchesters wird fast beruhigend-heroisch vom Klavier darauffolgend kontrapunktiert. Leicht filmmusikalische Anmuten geben weitere Rätsel auf. Musik, die niemand so leicht erklären oder deuten kann. Spannend! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.