Am 27. Oktober 2017 hat die Altistin Wiebke Lehmkuhl einen Ton gesungen – wenn ich mich nicht täusche, war es ein G oder ein Es – der so leise und glatt war, dass er noch mehr nach einem Knaben klang als so mancher Knabensopran. Es war die h-moll-Messe von Bach unter der Leitung von Ton Koopman in der Berliner Philharmonie, vorletzter Satz, Agnus Dei. Seitdem übe ich das Stück vergebens an meinem Keyboard. Ich wollte auch unbedingt mit Wiebke Lehmkuhl sprechen.

Foto © Sound & Picturedesign
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VAN: Wie fanden Sie die h-moll-Messe damals?

Wiebke Lehmkuhl: Ich habe seit Oktober viele Bachprojekte mit modernen Orchestern gemacht. Eigentlich bin ich ja so eine Alte-Musik-Tante und war auch eine ganze Zeit der Meinung, dass man die Musik anders gar nicht spielen dürfe.

Wieso hat sich Ihre Meinung geändert?

Die meisten Musiker, die jetzt in den Orchestern sitzen, sind schon mit Historischer Aufführungspraxis in Berührung gekommen. Früher musste man sich bei vielem den Mund fusselig reden, was heute selbstverständlich ist. Man kommt deshalb wirklich zum Musikmachen und muss nicht mehr alles haarklein erklären.

Im Agnus Dei hatten Sie eine sehr instrumentale Stimme – im positivsten Sinne. Kommt das auch aus der Alten Musik, dass man da anders singt, zum Beispiel mit weniger Vibrato?

Gerade dieses Agnus Dei begleitet mich schon lange. Bevor ich gesungen habe, habe ich Traversflöte gespielt, mit einer Lehrerin, die sehr barockaffin war. Wenn man diese Klangsprache verinnerlicht hat, weiß man: Man muss die Vorhalte und Reibungen ganz lang und gerade in den Raum stellen, Seelenschmerz ausdrücken, richtig wehtun lassen. Es ist sonst eine verpasste Chance. Gerade das Agnus Dei ist voll von Chromatik und Vorhalten, das geht durch alle emotionalen Register.

Als ich auf der Musikhochschule war, gab es wahnsinnig viele Sopranistinnen, die sich gewünscht haben, Alt zu singen, weil die Konkurrenz da nicht so groß ist. Stimmt das?

Auf jeden Fall. Man merkt schon bei den Vorsingen, dass es nicht so viel Konkurrenz gibt. Ich finde es eigentlich schade, dass heutzutage so sehr in Schubladen und Fächern gedacht wird, dass nicht viel Bewegung möglich ist. Vor allem Sopranistinnen werden oft schon in der Ausbildung gezwungen, sich auf ein Fach festzulegen und darauf dann intensiv hinzuarbeiten. Aber die Stimmen haben oft noch mehr Potential. Da denke ich manchmal ein bisschen neidisch an Karrieren wie die von Christa Ludwig, die eigentlich alles singen durfte, worauf sie Lust hatte – die natürlich auch eine Ausnahmestimme hatte.

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Dieses Agnus Dei ist nicht von Bach, sondern von Hasse. Aber auch hier ist Wiebke Lehmkuhl ziemlich gut.

Haben Sie die Sopranistinnen je um ihre großen Opern-Diven-Rollen beneidet?

Nein, überhaupt nicht! Das war nie mein Traum. An Musikhochschulen gibt es viele Studentinnen, die schon mit einer Traumrolle ins Studium reingehen. Das habe ich gar nicht. Natürlich freue ich mich, wenn ich in der Oper eine schöne, dankbare Partie zu singen habe, die mir auch liegt. Aber den ganzen Abend so im Fokus zu sein …

Was sind Ihre Traumrollen in der Alten Musik?

Bei mir müsste jetzt ganz dringend mal Monteverdi kommen! Meine absoluten Traumrollen sind Penelope in Il ritorno d’Ulisse und Ottavia in L’incoronazione di Poppea. Das ist so meins – ich hoffe, dass das jetzt auch mal was wird.

Kann man das ansteuern?

Ich übe mich in stetiger Wiederholung (lacht). Ich sage das immer wieder – schreiben Sie das bitte auch gerne! In Berlin hatten sie einen Monteverdi-Zyklus geplant, aber da ist dann doch irgendwie alles anders gekommen und es stand auf einmal nicht mehr zur Debatte. Es kommt und geht ja sowieso immer in Wellen, wann welche Stücke gerade aufgeführt werden. Die Monteverdi-Welle gab’s eigentlich gerade zum Jubiläum, aber irgendwie konnte ich die jetzt nicht mitnehmen.

Haben Sie je das Gefühl gehabt, Sie nehmen eine Rolle mit nach Hause?

Noch nicht so ausgeprägt. Letztes Jahr in Amsterdam habe ich Jephtha gemacht mit Claus Guth, und Anna Prohaska hat die Iphis, meine Tochter, gesungen. Da gab es Phasen in der Probenzeit, die so intensiv waren, dass ich fast schon unter Realitätsverlust gelitten und wirklich geglaubt habe: der Richard Croft, der Jephtha, der opfert jetzt mein Kind. Das hat gedauert, auf dem Weg nach Hause den Kopf wieder klar zu kriegen, und emotional zu einer Stabilität zu finden.

Haben Sie dafür eine Methode? Ein Spaziergang oder ein Glas Wein?

Mit den Kollegen nachher noch zusammen zu sein und über etwas anderes zu sprechen. Das hilft. Ich denke, dieser Moment ist sehr wichtig, nach der Vorstellung nochmal zusammenzusitzen und sich auf einer anderen Ebene zu begegnen.

Letzte Woche gab es ein Porträt der Sängerin Danika Loren im NOW Magazine aus Toronto. Sie hat sich dafür nackt fotografieren lassen, um zu zeigen, dass in der Oper Frauenkörper immer noch stark verurteilt werden. Haben Sie so was auch schon erlebt?

Ich glaube, da habe ich ein bisschen den Schutz des Stimmfachs. Es ist bestimmt aber auch ein körperlicher Faktor, warum ich erst sehr selten Orpheus und solche Hosenrollen singen durfte, für die sich Regisseure einen sehr androgynen Typ wünschen. Das ist schade, weil ich es eigentlich besonders reizvoll finde, wenn man es schafft, das zu überbrücken.

Eine Produktion, die ich gesehen habe, hat mich sehr beeindruckt: Die Sängerin, die die Gänsemagd in Königskinder gesungen hat, war eine riesige Frau, wirklich eher der Typ Walküre. Die hat es innerhalb von zwei Minuten geschafft, dass jeder vergessen hat, dass sie größer ist als alle anderen, weil sie so wunderbar gespielt und gesungen hat. Das macht dann erst recht den Zauber aus. Doch das verschenkt man, wenn man ein Typ-Casting macht und auf diese Äußerlichkeiten so viel Wert legt.

Einmal gab es eine sehr lustige Casting-Entscheidung: Es ging auch um die drei Rheintöchter und wäre ein Einspringer gewesen, der mich sehr interessiert hätte, mit einem tollen Dirigenten, den ich gerne kennenlernen wollte, und der Termin passte perfekt in meinen Kalender. Dann hieß es, sie wären sich noch nicht ganz sicher und müssten zwischen zwei Sängerinnen entscheiden. Ich habe mitgekriegt, dass die an allen Häusern, an denen ich vorher gesungen hatte, meine Konfektionsgröße erfragen wollten – es ging um einen silbernen Glitzer-Body, den die Rheintöchter in der Inszenierung tragen. Später hat sich herausgestellt, dass sie einfach eine Sängerin mit den gleichen Maßen wie die ursprüngliche Besetzung gesucht hatten, damit sie diesen Body nicht neu nähen mussten.

Manche Sänger sagen: Der Regisseur verlangt zu viel, ich kann das nicht machen und gleichzeitig singen. Andere sagen: Ich will nicht die ganze Zeit auf der Bühne stehen, ich will mich auch bewegen. Gehören Sie eher zu der zweiten Kategorie?

Ja, absolut. Ich mag es sehr, viele szenische Aufgaben zu haben. Am liebsten, wenn ich auch verstehe, warum (lacht). Deshalb, finde ich, macht man ja Oper.

Wenn ich mich zwischen Oper und Konzert entscheiden müsste, würde ich mich wahrscheinlich für’s Konzert entscheiden. Die Musik ist einfach noch mehr das, wo ich herkomme, als das Theater. Wenn ich Oper mache, möchte ich dann aber auch richtig spielen. Ich mag die Herausforderung sehr.

Von der Stimme her könnten Sie auch gut nur Liedkonzerte machen. Aber diesen Weg, so habe ich den Eindruck, gibt es nur für Männer. Der große Poet, der mit dem Pianisten um die Welt reist. Es gibt weniger Frauen, die hauptsächlich Liedkonzerte geben…

Das fällt mir auch auf, das hat sicher auch mit Tradition zu tun. Baritone gibt es als Liedsänger am meisten, weil die in einer Lage singen, die dem Sprechen am nächsten und wo auch die Textverständlichkeit am größten ist. Ich würde gerne mehr Lied singen. Da kämpfe ich auch immer ein bisschen drum. Aber ausschließlich? Ich finde die Mischung, so wie sie gerade ist, für mich sehr schön.

Gibt es genug Nachfrage für Liedkonzerte?

Ich habe das Gefühl, für Liedkonzerte muss man einmal richtig in den Kreis aufgenommen werden. Meine Agentur, bei der auch viele Liedsänger untergebracht sind, sagt, sie brauchen eine Aufnahme. Der Ball ist also in meinem Feld. Ich muss zusehen, dass ich mal eine Liedaufnahme auf den Markt bringe, damit sie das besser verkaufen können. Ich hatte jetzt im Sommer in Brügge bei einem kleinen Festival einen Liederabend zum Thema Femme fatale. Die haben sich gewünscht, dass ich Schumanns Frauenliebe und –leben singe, was für mich eigentlich der Gegenentwurf zur Femme fatale ist. Aber es ist eine schöne Herausforderung, etwas ›Fataleres‹ da drumherum zu gruppieren.

Was würden Sie auf Ihrer ersten Liedaufnahme gerne singen?

Bei Brahms gibt es so viel Unterschiedliches, was mir gut liegt. Gerade die Gesänge für Alt, Bratsche und Klavier liebe ich sehr. Ich habe das Gefühl, Brahms passt auch zu meiner Stimme am besten. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.