Ein Interview mit Christophe Rousset
Am 17. Dezember endete das Actus Humanus-Festival für Alte Musik in Danzig. Ich habe dort das Abschlusskonzert mit dem Cembalisten Christophe Rousset, Sopranistin Ann Hallenberg und dem Ensemble Les Talens Lyriques angehört. Das Programm, vokale und instrumentale Stücke, war inspiriert vom Oscar-gekrönten Film über den berühmten Kastraten Farinelli. Les Talens Lyriques hatten 1994 den Soundtrack eingespielt, den sie in Danzig wieder auf die Bühne brachten. (Der Vollständigkeit halber: Das Festival hat meine Flüge und meinen Hotelaufenthalt bezahlt, deswegen habe ich keine Rezension geschrieben).
Das Konzert fand in einer großen Kathedrale statt, die alten Mauern rot und blau angestrahlt, viel Publikum, viel Presse. Eine Crew filmte sogar mit einem großen Kamera-Kran. Manchmal wirkte es, als würde dieser Kran mit der Musik interagieren, er schien über das Publikum zu schweben wie eine riesige metallene Schlange, die dem Beschwörer nicht folgt.Ich traf Rousset am nächsten morgen vor dem Frühstück. Er trug einen beigen Rollkragenpullover und ein silbernes Armband. Wir sprachen über vergessene Italiener, die Rolling Stones und Notfall-Cembalo-Reparaturen.
VAN: In Danzig haben Sie Musik von Riccardo Broschi, Nicola Porpora, Johann Adolph Hasse and Leonardo Leo gespielt. Keinen von denen kannte ich vorher.
Christophe Rousset: Broschi war Farinellis Bruder. Er hat vor allem komponiert, um mit den Fähigkeiten seines Bruders anzugeben. Für mich ist er kein großer Komponist – es ist nur interessant zu zeigen, wie er die Stimme seines Bruder präsentiert hat.
Meine Lieblingskomponisten aus diesem Konzert sind Porpora und Leo, zwei bedeutende Komponisten der Neapolitanischen Schule. Leo blieb sein Leben lang in Neapel, aber er war auch über die Stadt hinaus sehr bekannt – Händel dirigierte seine Stücke in London. Er brachte die Musik auf den Weg in Richtung Vorklassik. Manchmal hört man Leo und denkt: ›Das klingt wie der junge Mozart!‹ Aber es wurde 1730 oder 1740 geschrieben.
Und während Händel mit seinem Theater pleite ging, war Porporas Theater erfolgreich. Er war außerdem einer der Lehrer Haydns. Im Grunde kam das Orchester der Mannheimer Schule, von Haydn und Mozart, aus Neapel, was ziemlich interessant ist.
Warum sollte man einen Komponisten wie Broschi, einen, den Sie nicht großartig finden, spielen?
Erstens, weil seine Musik Teil des Films Farinelli ist (lacht). Der Film spielt für die Geschichte von Les Talens Lyriques eine große Rolle. Das Programm wurde für den 20. Geburtstag des Ensembles gestaltet – jetzt sind wir 26, aber wir touren noch immer viel mit diesem Programm.
Broschis Son qual nave ch’agitata und Ombra fedele anch’io waren im Film sehr wichtig, deswegen wollten wir sie spielen. Außerdem hat Ann Hallenberg das Virtuose daran Spaß gemacht. Sie ist eine verrückte Sängerin und mag es, unmögliche Koloraturen zu singen. Die Herausforderung reizt sie.
Singt sie in derselben Lage, in der auch Farinelli gesungen hätte oder transponiert sie nach oben?
Nein, das ist absolut die richtige Lage.
Konnte er so hoch singen?
Offensichtlich, denn die Musik war ja für ihn geschrieben. Wir haben sogar Verzierungen, die er selbst für einige Arien geschrieben hat und man fragt sich wirklich, wie ein Sänger so was realisieren konnte. Er hat diese sehr, sehr schnellen Koloraturen noch mit Trillern versehen. Und es reicht schon, so eine Geschwindigkeit zu haben. Das war offensichtlich wirklich nicht normal.
Sie waren sieben Jahre lang der Assistent von William Christie. Haben Sie wegen ihm angefangen zu dirigieren?
Ja, er hat mich wirklich dazu gedrängt. Er hat mir angeboten, Kammermusikprogramme mit Sängerinnen und Sängern, dann Madrigale, dann Chor, dann Orchester und schließlich eine Opernproduktion zu dirigieren. An dem Punkt habe ich festgestellt, dass ich dirigieren wirklich mag (lacht). Ich liebe Oper – das ist mein Ding.
Welche barocken Komponisten werden Ihrer Meinung nach nicht genug gespielt?
Leo war ein Genie: Er hat der Sprache geholfen sich zu entwickeln, hatte eine Gabe für Melodien und war sehr feinfühlig was Gesangslinien angeht. Wie Mozart, wenn man so will, nur viel früher. Er hatte dasselbe Niveau wie Händel – nur dass Händel heute überall gespielt wird und sehr bekannt ist und Leo kennt niemand.
Warum, denken Sie, ist das so?
Wahrscheinlich, weil er nicht reiste. Händel schrieb so viele Stücke auf Englisch, die in England Teil des Repertoires geblieben sind. Niemand hat aufgehört ihn zu spielen, während Leo komplett vergessen wurde – es ist nicht leicht, ihn wieder ins Rampenlicht zu rücken. Außerdem ist das italienische Repertoire so umfangreich, von Monteverdi bis Puccini und Berio.
Leonardo Leo, Salve Regina; Sabina Puértolas (Sopran), Christophe Rousset (Dirigent), Les Talens Lyriques
In Ihrer Biografie steht, dass Sie ›schöne‹ Cembali spielen. Was ist ein ›schönes‹ Cembalo für Sie? Muss es ein historisches Instrument sein?
Das ist ein Pluspunkt, aber es muss nicht sein. Das Cembalo war wie eine Zeitmaschine für mich, seit ich Kind war. Ein Weg, in eine vergessene, vergangene Welt einzutauchen, in die Zeit des Barock. Heute haben wir wirklich gute Kopien, moderne Modelle mit der richtigen Seele des Instruments: innig, tief, nussig … es ist schwer, dafür Adjektive zu finden.
Wenn du die Cembali heute mit denen vergleichst, die wir in den 1960er hatten – das waren diese riesigen Tanks mit unglaublich vielen Pedalen und einem sehr nasalen Klang.
Georg Anton Benda, Cembalokonzert, III. Allegro; Christophe Rousset (Dirigat und Orgel), Les Talens Lyriques
Nehmen Sie Ihr Cembalo mit auf Reisen?
Das ist schwierig, weil es sehr fragil ist. Sonst muss ich am Tag vorher das Cembalo vor Ort ausprobieren. Das Instrument muss ausgewogen sein. Wenn es das nicht ist, dann ist es eine echte Herausforderung, darauf zu spielen – auch, wenn es ein gutes Modell oder von einem guten Cembalobauer ist.
Was machen Sie in dem Fall?
Wenn ich kann, versuche ich, einen Ersatz zu bekommen. Wenn das nicht geht, versuche ich, es selbst zu regulieren, um es spielbar zu machen. Stimmen ist einfach. Die Federkiele, die die Saiten zupfen, sind am wichtigsten. Wenn sie ungleich sind, wenn einer zu hart ist und einer zu weich, wirkt sich das auf das Gefühl an den Tasten aus. Dann musst du dein Messer nehmen und versuchen, die Federkiele zu korrigieren.
Wenn Sie mit modernen Orchestern spielen – wie bringen Sie die dazu, historisch korrekt zu spielen?
Du musst einen Weg finden, dass sie dich akzeptieren, musst sie dazu bringen, dich zufriedenstellen zu wollen. Ich zeige ihnen, wie viel besser es klingt, wenn es in die Richtung geht, die ich vorgemacht habe. Das ist mein Weg.
Es ist immer gut, selbst zu spielen. Als ich Le Nozze di Figaro in Covent Garden dirigiert habe, habe ich die Rezitative gespielt. Es ist ein gutes Signal an die Musikerinnen und Musiker, dass du einer von ihnen bist. Du stehst nicht einfach nur eine Stufe höher in der Hierarchie. Du bist Musiker und du versuchst, gemeinsam Musik zu machen. Du bist Teil der Gruppe. Das hilft.
Bei einer Umfrage für Playbill aus dem Jahre 2009 konnten Sie auf die Frage nach Ihren drei Lieblingsmusikerinnen, -musikern oder -aufnahmen aus dem Popmusikbereich keine nennen. Heißt das, Sie hören gar keine moderne Popmusik?
Nein. Das liegt an einem Trauma aus meiner Jugend. Ich hatte eine schlechte Beziehung zu meinem älteren Bruder. Er hat immer Popmusik und ich hab immer klassische Musik gehört. Die Fronten waren klar. Es gab keine Brücke zwischen diesen Welten (lacht).
Johann Sebastian Bach, Französische Suite No. 1 in d-Moll BWV 812; Christophe Rousset (Cembalo)
Welche Musik hat Ihr Bruder gehört?
Die Rolling Stones, Queens [sic!] und solche Sachen. Ich konnte das nicht ertragen. Ich dachte, das wäre nur Lärm. Ich mochte das überhaupt nicht. Ich mag auch Jazz nicht, das ist nicht mein Ding. Für mich ist diese Musik immer im Zweier. Eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei. Binär. Ich fühle es nicht. Es fehlt etwas: Die Textur, die Sprache, es ist für mich nicht schlüssig. Es befriedigt mich nicht. Ich bevorzuge Stille.
Was ist mit zeitgenössischer klassischer Musik, wie Ligetis Continuum für Cembalo?
Ich schätze es, aber ich spiele es selbst nicht. Ich habe keine Affinität für dieses Repertoire. Wenn ich ein bestimmtes Repertoire auswähle, muss ich immer ganz tief fühlen, dass ich diesem Repertoire helfe, wenn ich es aufführe. Jahrelang habe ich geglaubt, ›nach 1800 kann ich nicht mehr helfen.‹ Jetzt habe ich Rossini gemacht, Berlioz und ein paar Arien von Verdi, solche Sachen. Ich habe mich mit diesem Repertoire sehr wohlgefühlt und Les Talens Lyriques und ich werden Gounods Faust, was überhaupt nicht barock ist, aufführen und aufnehmen. Aber ich habe jahrelang geglaubt, ich könnte da nicht helfen. Jetzt denke ich, ich kann helfen.
Aber zeitgenössische Klassik … damit fühle ich mich nicht wohl. Allerdings gehe ich gern in Konzerte und höre mir das an. Ich habe ein Stück bei Pascal Dusapin in Auftrag gegeben. Er hat ein Gefühl fürs Cembalo. Er kam zu mir und ich habe für ihn gespielt und er saß vor dem Cembalo und hat nur versucht, herauszufinden, wie es funktioniert. Dusapin kennt Barockmusik, sie inspiriert ihn.

Wie weit würden Sie, abgesehen von Dusapin, in der Musikgeschichte gehen wollen?
Debussys Pelléas et Mélisande reizt mich sehr. Wenn du Gounod machst, Massenet oder Berlioz, gibt es da durchgängig eine französische Seele. Da ist etwas in diesem Repertoire, das ich kenne und mit dem ich mich wohlfühle. Das ist was anderes, als direkt in Wagner einzutauchen.
Obwohl ich sagen muss: Ich würde gern irgendwann mal Wagner dirigieren. Ich glaube, es wird viel zu schwerfällig dirigiert. Es kann nicht so gewesen sein. In Bayreuth kann man nicht so viel vom Orchester hören, weil es weit weg ist. Der Text ist klar und die Sängerinnen und Sänger müssen nicht schreien. In anderen Opernhäusern klingen die Orchester immer zu wuchtig, zu laut und es ist zu langsam. Es fühlt sich für meine Ohren nicht richtig an. Ich denke, ich könnte da weiterhelfen. ¶