In der Welt der vermarkteten Eitelkeit, der Hochglanzcover, Verkaufsstrategien und Echo-Verleihungen, mutet der Pianist Kirill Gerstein fast wie ein Geheimtipp an. Hinter der Welt des trügerischen Scheins verbirgt jedoch auch die klassische Musik eine Wirklichkeit, für die Alfred »Adi« Preißlers Fußball-Weisheit gilt: »Entscheidend is auf’m Platz«. Dort, wo sich die Spreu vom Weizen trennt, ist Gerstein seit vielen Jahren Stammspieler: Ein gut gefüllter Konzertkalender, Auftritte und Wiedereinladungen bei den großen Orchestern, die weit verbreitete Wertschätzung von Kolleg_innen und Connaisseuren. Ein entspannter, bisweilen belustigter Blick auf die Aufgeregtheiten der eigenen Branche fallen schnell auf, wenn man mit Kirill Gerstein spricht. Ich treffe ihn zwischen den Jahren in der Berliner Kaffeerösterei Bonanza im Prenzlauer Berg. Ein großer Kerl, der so zugewandt und gemütlich rüberkommt, dass man sich gleich auf das Gespräch freut. Das Bonanza ist ein Pionier der so genannten Third-Wave Kaffeerevolution in Berlin: Kaffee nicht mehr als Ware, sondern als Genussmittel, bei dem es um handwerkliche Qualität, Sorgfalt und Nachhaltigkeit geht. »Music is a science of sound, whose end is pleasure«, zitiert Kirill Gerstein später den schottischen Musiktheoretiker Alexander Malcolm. Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen, kurz vor Weihnachten ist Gerstein noch für den erkrankten Krystian Zimerman eingesprungen bei einem Konzert mit Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra in Paris, danach noch ein letzter Auftritt in Finnland, »Beethovens 4. Klavierkonzert als letzter Akkord des Jahres, das war schön.« Dann kehrten für zwei Wochen Ruhe ein. Ein guter Moment für ein Jahresendgespräch bei zwei Flat White.
Weißt du, wie viele Konzerte du in 2017 gespielt hast?
Dieses Jahr war wirklich viel, ich zähle zwar nie mit, aber es waren zwischen 8 und 14 Konzerte pro Monat, also insgesamt über 100.
Du hast zwei kleine Kinder, wie kriegst du das mit deiner Familie unter einen Hut?
Wenn ich in Berlin bin, versuche ich tagsüber mit meiner Familie zusammen zu sein und eher abends und nachts zu üben, wir haben ein schallisoliertes Zimmer in der Wohnung. Dann schlafe ich aber natürlich weniger.
Wieviel Schlaf brauchst du?
Konzerte kann ich mit drei, vier Stunden Schlaf spielen, aber ob ich dann noch so ein angenehmer Mensch bin? Sechs Stunden ist okay, eigentlich wären acht schön.
Kannst du unterwegs gut schlafen, oder macht dir zum Beispiel der Jet Lag zu schaffen?
Die gute Sache ist, dass ich jederzeit schlafen kann, selbst wenn ich – wie jetzt im November – in einem Monat drei Mal zwischen Europa und den USA hin- und herfliege. Es ist mir in meinem Leben vielleicht erst vier, fünf Mal passiert, dass ich wirklich nicht schlafen konnte.
Hast du oft die Sorge, etwas bei deinen Kindern zu verpassen oder kein guter Vater zu sein, wenn du so viel unterwegs bist?
Natürlich, das ist jeden Tag, jede Woche, jeden Monat etwas, wo meine Frau und ich den Puls fühlen: ob ich präsent bin, wie ich präsent bin. Wir reisen öfter auch alle zusammen, mit einem Kind war das aber leichter. Und wir haben eine Regel, dass ich nie länger als vierzehn Tage unterwegs bin. Zehn Tage sind eigentlich schon kritisch.
Warum habt ihr Berlin als Lebensmittelpunkt gewählt?
Vor allem aus Gründen des Lebensgefühls. Wir wollten als Familie an einem Ort in Europa wohnen, wo es offen und international zugeht, ökonomisch und sozial durchmischt ist, es ein lebendiges Kulturleben und einen großen Freundeskreis gibt. Da ist Berlin für uns klar die Nummer eins.
Der Begriff ›Heimat‹ wird hierzulande in der politischen Diskussion mal wieder heiß umkämpft. Beschäftigt er Dich?
Ja, sehr. Ich habe Russland verlassen, als ich vierzehn war, also nicht zu früh, als dass ich keine Erinnerungen oder eine Verbindung zur Sprache oder Kultur mehr hätte. Gleichzeitig war ich, als ich in die USA kam, noch jung und offen genug, um die Sprache schnell zu lernen und die Kultur aufzusaugen. Dann gibt es den Gravitationspol der europäischen Kultur, dann das jüdische Element – in der Sowjetunion war das ja keine religiöse, sondern eine ethnische Bezeichnung, die als solche im Pass vermerkt war. Auch dort waren wir immer ein bisschen fremd, das ist im Alltag auf subtile, aber immer präsente Weise durchgestoßen. ›Was für ein Nachname? Gerstein, aha.‹ Ein Gefühl von Heimat, das zum Beispiel meine Frau hat, wenn sie nach Israel fährt, das stark mit bestimmten Kindheitserinnerungen verknüpft ist, das habe ich nicht. Ich vermisse das manchmal, aber das ›Outsider‹-Sein hat auch seine Vorteile. Ich bin mal gespannt, wie das bei unseren Kindern wird.
Die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, hat gestern gesagt, dass jüdisches Leben in Deutschland angesichts eines aggressiven Antisemitismus zunehmend bedroht sei. Seid ihr schon davon betroffen gewesen?
Wir persönlich nicht, aber ich war – allein schon wegen meiner Kindheitserfahrung – auch nie der Auffassung, man könne sich entspannt zurücklehnen, weil Antisemitismus oder Rassismus ausgerottet seien und die Ideale der Aufklärung Einzug gehalten hätten. Man schaut schon vorsichtig um sich, andererseits muss man sagen, dass Deutschland immer noch ein sympathisches Land ist, in dem auf Rassismus und Antisemitismus viel entschlossener und organisierter reagiert wird als in vielen anderen Ländern. Es gab einmal einen Vorfall in Stuttgart [wo Gerstein zehn Jahre an der Musikhochschule unterrichtet hat]: Jemand hatte an die Hochschule einen Artikel über die Novemberpogrome 1938 geschickt und dazu geschrieben, dass ›wir wieder mehr solcher Pogrome bräuchten und weniger Juden wie Gerstein als Professoren‹. Ich war beeindruckt, wie ernst und verantwortungsvoll Rektorat und Polizei darauf reagiert und versucht haben, das zu verfolgen. Es gibt viele freie demokratische Länder, in denen die Polizei darüber gelacht hätte.
Wie verfolgst du mit diesem ›Outsider-Blick‹ – und auch als einer, der viele Sprachen spricht – die aktuelle Nachrichtenlage, die geprägt ist von Fake News, Partikularstandpunkten, Ideologien?
Ich bin ein Newsjunkie, ich setze für mich mein eigenes Bild aus den unterschiedlichen Perspektiven zusammen. In der Sowjetunion hat man gewusst, dass man nicht alles hundertprozentig für bare Münze nehmen sollte, was gedruckt wurde. Man musste zwischen den Zeilen lesen.
Siehst du es als deine Aufgabe als Künstler an, in der Öffentlichkeit politische Aussagen zu treffen, wie es einige deiner Kollegen tun?
Ich bin da eher vorsichtig. Es gibt die Gefahr, dass man – wenn man ein bisschen speziell in seinem Feld ist – die Illusion bekommt, die eigenen Aussagen seien automatisch auch in anderen Feldern bedeutsam. ›Ich gehe auf die Bühne vor 2.500 Leuten, also kann ich auch mal kurz was zur politischen Situation sagen‹. Manchmal ist es klug, manchmal ist es weniger klug. Diesen Impuls muss man immer ein wenig dämpfen, finde ich. Das kann schnell anmaßend sein. Aus meiner eigenen Profession weiß ich, was alles dazugehört an handwerklicher und intellektueller Arbeit, wenn man sich ganz einem Feld verschreibt, so wie Politiker, politische Kommentatoren und Aktivisten der Politik.
Eine gemeinsame Freundin hat mir erzählt, dass du sehr gerne und gut Jüdische Witze erzählen kannst. Ist es leicht gegenüber Nicht-Juden Jüdische Witze zu erzählen?
Das ist eine Frage der Auswahl. Ich weiß nicht, ob das besonders jüdisch ist, oder eher russisch, dass Witze soziale Referenzpunkte sind – wenn irgendwas passiert, sagt man die Punchline von einem Witz, und alle wissen, was gemeint ist und wie du zu etwas stehst. Eine ähnliche Funktion hat vielleicht das Fernsehen für Amerikaner, wo man im Alltag oft Bezug nimmt auf Star Wars, Seinfeld, Curb Your Enthusiasm … In der russischen Kultur waren das die Witze. Das war auch ein Ventil, durch das alles komprimiert entladen werden konnte.
Es gibt derzeit gegenüber einigen, auch prominenten Personen der klassischen Musik Vorwürfe der sexuellen Belästigung und des Missbrauchs. Einer davon ist Charles Dutoit, mit dem du im Verlauf deiner Karriere oft gespielt hast und mit dem auch in dieser Spielzeit einige gemeinsame Auftritte geplant waren. Haben dich die Vorwürfe überrascht?
Zu mir war Charles Dutoit immer sehr unterstützend und freundlich, persönlich wie musikalisch.
Es gibt aber keinen Grund, warum in unserer kleinen Branche irgendetwas anders sein sollte als in der Politik, im Filmgeschäft oder sonstwo in der Gesellschaft. Dazu kommt diese romantische Idealisierung der ›starken Persönlichkeit‹, für die die Regeln der Gesellschaft eventuell auch nicht zu gelten haben. Diese Vorstellung stammt noch aus dem 19. Jahrhundert, es ist höchste Zeit für eine Neubewertung, vor allem auch um die Benachteiligung von Frauen aufzubrechen.
Wenn man deine bisherige Karriere betrachtet, dann habe ich den Eindruck, dass sie stetig und stabil aufwärts geht, ohne dass es jemals einen Hype-Moment gegeben hätte. Stimmt das?
Semyon Bychkov hat mir einmal gesagt, eine lebenslange Karriere in der Musik sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Der Hype-Moment kann helfen, aber es wäre auch schade, wenn man den Peek mit 35 erlebt, oder? Was soll dann noch kommen? Ich bin deswegen nicht unglücklich, ich habe auch eher in einen langfristigen Aufbau und musikalische Substanz investiert, als für mich irgendein Marketing-Gimmick zu entwickeln. Ich finde es wahnsinnig interessant, Klavier zu spielen, ich finde die Musik interessant, auch das Konzerterlebnis, die soziale Architektur des Ganzen. Selbst das Marketing, als eine Art Spiel. Aber man soll es nicht so ernst nehmen.
Bist du denn mal in Versuchung gekommen, Dir ein Marketing-Gimmick zuzulegen?
Man denkt schon mal, ›ah, sollte ich vielleicht so oder so?‹, aber die Leute riechen es, ob man sich selbst gegenüber ehrlich bleibt, oder irgendwas nachmacht oder sich aufpumpt. Ich bin ja jetzt schon länger im ›Betrieb‹, wenn ich sehe, was vor zehn Jahren ein ›Hype‹ war … vieles davon ist überhaupt nicht geblieben. Ich finde die Wichtigtuerei in unserer kleinen Branche manchmal ziemlich lustig. Letzten Endes interessiert es dann doch nur sehr wenige. Selbst jemand wie Lang Lang, der wie ein Popstar vermarktet wird, ist ein ganz kleiner Planet wenn wir über echte Popstars reden wie Beyoncé oder Taylor Swift. Sehr berühmt in der klassischen Musik ist immer noch ziemlich unbekannt. Und in finanzieller Hinsicht ist bei uns irgendeine Eintagsfliege, ein neuer Sensationsgeiger oder –pianist, auch nicht lukrativer als ein ernsthafter Künstler wie zum Beispiel Christian Tetzlaff, zumindest nicht langfristig gesehen.
Du hast dich für deine Aufnahmen für das relativ kleine Label Myrios entschieden. Wieso?
Das Label, und sein Gründer Stephan Cahen, geben mir die Möglichkeit größtmöglicher künstlerischer Freiheit – in dem Repertoire, das mich interessiert. Mehr PR würde ich vielleicht bei einem Major-Label bekommen, aber ich weiß, dass dort die persönlichen Präferenzen nicht unbedingt Vorrang hätten. Ich habe gerade ein Gershwin-Album aufgenommen, das Mitte Februar erscheint – die Jazz-Band-Version von Rhapsody in Blue, sein Klavierkonzert mit St. Louis Symphony und David Robertson, außerdem drei Gershwin-Lieder bearbeitet von Earl Wild, Summertime, gesungen von Storm Large von Pink Martini, und ein Jazzstandard von Oscar Levant mit meinem ehemaligen Lehrer Gary Burton, alles live im Konzert aufgenommen. Joseph Horowitz hat das Booklet geschrieben, das Cover hat Michael Roberts gestaltet. Das Tolle an dem Projekt war, dass ich jeden Aspekt selbst ausgewählt habe. Das wäre bei einem Major kaum möglich gewesen.
Du hast neben klassischer Musik auch Jazz studiert. Fallen dir spontan drei Dinge ein, die in der Jazzkultur besser sind als in der Klassik?
Jazzveranstalter sagen, ›wir möchten Gary Burton und Chick Corea einladen‹. Die sagen nicht, ›wir möchten Gary Burton und Chick Corea einladen, aber nur wenn die Crystal Silence spielen von meiner Lieblingsplatte‹. Bei uns in der Klassik heißt es ›wir laden Kirill Gerstein ein, aber er muss dieses und jenes Klavierkonzert spielen, sonst darf er nicht kommen‹. Im Jazz wäre es eine Beleidigung, wenn du Leute einlädst unter der Bedingung, dass sie bestimmte Lieder spielen. Ein zweiter Punkt, der mir spontan einfällt, ist, dass der Jazz viel weniger fixiert ist auf diesen selbstreferentiellen ›Sterbe-ich-aus-oder-nicht‹-Diskurs. Es stirbt alles irgendwann. Wer sein ganzes Leben mit der Frage verbringt, ob er in den nächsten anderthalb Minuten stirbt, dem raubt das sehr viel Zeit und Energie. Außerdem finde ich Konzertkritiken im Jazz fast immer substanzieller als in der Klassik.
Ist es anstrengend, wenn man Musik nicht mehr hören kann, ohne zu bewerten und zu vergleichen?
Meistens ist es interessant, manchmal irritierend. Es gibt zum Beispiel dieses romantische Klischee, dass in der Musik alles subjektiv sei. Nein, ist es nicht! Kennst Du dieses wunderbare Zitat aus dem 18. Jahrhundert: Music is a science of sound, whose end is pleasure? Es gibt eben auch viel Handwerk und viel Wissen. Manchmal sitze ich in einem Recital und höre eine unglaublich schlechte Interpretation einer Liszt-Sonate. Zwei Takte doppelt so langsam, zwei doppelt so schnell, keine Pause und kein Tempo ist nachzuvollziehen, wenn man das Stück und die Partitur kennt. Ich lese zehn Kritiken, ›der Mann ist ein Genie, so individualistisch, er hat eine starke subjektive Ansicht‹, und denke, nein, Entschuldigung, es ist nicht alles subjektiv.
Du schreibst manchmal auch Beiträge für die New York Review of Books. Welchen Impuls brauchst du dafür?
Der Text muss irgendeine, zumindest von mir so empfundene, Leerstelle füllen, so wie beim Artikel über die verschiedenen Versionen von Tchaikovskys Klavierkonzert. Dann habe ich gesehen, dass Radu Lupu seinen 70. Geburtstag feierte, und – wie ich fand – peinlich wenig in den großen Magazinen darüber zu lesen war. Entschuldigung, aber für mich ist Radu viel interessanter als the newest flavor of the month, der oder die gerade Beethovens Pathétique eingespielt hat. Also habe ich was geschrieben.
Es gibt auf Youtube eine Konzertaufzeichnung von dir mit deinem Lehrer Ferenc Rados. Bist du mit deinen ehemaligen Lehrern noch viel in Kontakt?
Mit ihm bin ich nach wie vor eng verbunden, wir sehen uns mehrmals im Jahr, neulich habe ich ihm zum Beispiel eine Aufnahme von einer Konzertreise geschickt und um sein Feedback gebeten. Er ist einer der intelligentesten Menschen, die ich kenne, nicht nur was Musik angeht. Das bleibt immer aktiv. Mein Leben wäre viel ärmer ohne ihn und ohne meinen anderen Lehrer, Dmitri Bashkirov. Es war für mich nie ein Thema, zu sagen, jetzt bin ich erwachsen und brauche keinen Lehrer oder Mentoren mehr. Ich habe fast zehn Jahre unterrichtet, dieses Jahr beginnt ein neues Programm mit András Schiff bei der Kronberg Academy, für das András mich neben drei weiteren Pianisten eingeladen hat. Das Unterrichten war für mich immer sehr produktiv. Es gibt dieses Martial Art Konzept, dass man als Lernender nicht weiterkommt, wenn man nicht selbst auch lehrt. Das empfinde ich als etwas sehr Echtes. ¶