Eigentlich hätte Vitali Alekseenok in diesen Tagen in Lviv, Dnipro und Kyiv dirigiert und am 26. März als neuer Künstlerischer Leiter das Kharkiv Music Fest eröffnet. Stattdessen fuhr er am vorletzten Sonntag, vier Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, mit seiner Freundin und zwei vollbepackten Wagen mit Hilfsgütern an die polnische Grenze. Eine Woche blieb er dort, half als Fahrer, Vermittler und Dolmetscher. Am Tag nach seiner Rückkehr nach Berlin erreichten wir ihn per Zoom. Kurz nach unserem Gespräch machte er sich wieder auf an die Grenze.
VAN: Was ist dein Eindruck von der Situation an der Grenze, gibt es genügend Hilfe?
Vitali Alekseenok: Mein Eindruck ist, dass eigentlich genügend da ist, fast schon zu viel. Gleich am Sonntag, am vierten Tage nach der Invasion, durften wir in einem Lager keine Kleidung mehr abgeben, sondern nur Essen und Medikamente, weil es überfüllt war. Bei vielem von dem, was nicht gebraucht wird, versucht man jetzt, es in die Ukraine zu transportieren. Die polnische Seite organisiert das alles sehr gut. Wenn dann doch mal etwas fehlt, versuchen wir Freiwilligen, diese Lücken zu füllen.
Sind noch viele ukrainische Musiker:innen, die du kennst, in der Ukraine, oder schon geflohen?
Ich glaube, die Mehrheit ist mittlerweile im Ausland. Aber viele sind auch geblieben. Ich habe zum Beispiel Freunde, die in Charkiw geblieben sind, weil sie ihre 80jährigen Eltern, die nicht raus möchten, dort nicht alleine lassen wollen. Viele Männer mussten natürlich auch bleiben. Ich habe zwei Wochen vor der Invasion noch in Odessa dirigiert, viele aus dem Orchester haben sich dort der Territorialverteidigung angeschlossen. Sie schützen das Theater jetzt von außen. Andere Musiker, die nicht mit Waffen kämpfen wollen, versuchen anders zu helfen, zum Beispiel als Fahrer.

Klappt die Kommunikation noch?
Ja, sie funktioniert noch über das Internet, Facebook, Telegram… Vorgestern habe ich eine Nachricht von Musikern aus Kyiv bekommen: dass ich ihnen Noten schicken soll, damit sie weiter üben können. Sie würden sonst verrückt von all den Explosionen. Sie wollen nicht raus, meinten aber: ›Wir müssen weiter üben und Musik machen, damit wir Menschen bleiben.‹
Es gibt gerade viele Diskussionen darüber, wie einzelne russische Künstler:innen auf den Ukraine-Krieg reagieren oder reagieren sollen. Wie nimmst du die wahr?
Vor einem Jahr hattest du mir erzählt, dass Vladimir Jurowski euch mitgeteilt habe, sich zu politischen Themen grundsätzlich nicht äußern zu wollen …
Ja, das war im Februar 2021 nach der Verhaftung Nawalnys und der darauffolgenden Protestwelle in Russland.
Zufälligerweise habe ich Jurowski in den Tagen vor der Invasion bei allen Proben für ein Konzert des RSB begleitet und miterlebt, wie er auf den russischen Angriff reagiert. Er hat sehr schnell das Programm des Konzerts gewechselt und auch als einer der ersten ein sehr menschliches Statement abgegeben. Es gab ja auch viele andere, Vasily Petrenko, Semyon Bychkov, Kirill Petrenko … Alle Statements sind irgendwie anders und jeder ist in einer etwas anderen Situation. [Hier ein Überblick von Stellungnahmen russischer Musiker:innen gegen den Krieg.] Dass Gergiev sich nicht äußert, war mir klar. Er hat mit seinem Schweigen jetzt klar gesagt, dass er für Putin steht. Einige andere Künstler brauchen vielleicht noch mehr Zeit, um sich zu äußern.
Du hast am Tag der russischen Invasion auf Facebook geschrieben: ›Meine russischen Freunde, Bekannte und alle, die in Russland sind: Wenn ihr jetzt nicht widersprecht und schweigt, klebt dieses Blut auch an euren Händen.‹
Ich habe darüber lange nachgedacht, gleichzeitig war ich sehr emotional. Ich habe das an meine Freunde in Russland geschrieben, weil sie die einzigen sind, die direkt und unmittelbar etwas tun können. Ich bin mir bewusst, wie schwer es ist, in Russland überhaupt etwas zu machen, erst recht nach der neuen Gesetzgebung, die ein paar Tage nach meinem Post verabschiedet wurde. Aber man muss alles tun, was man kann. Man muss nicht unbedingt auf die Straßen gehen, aber sich doch irgendwie irgendwie positionieren und äußern. Kleine Taten sind besser als nichts. Das Schweigen ist wirklich sehr gefährlich, trotzdem tun es die meisten oder schließen die Augen. Ich habe auch ehrlich gesagt nicht mehr so viele Freunde oder Bekannte in Russland. Die meisten sind ausgereist in den letzten Jahren.
Du hast mir im letzten Jahr erzählt, dass du befürchtest, Belarus könnte ein Teil von Russland werden. Diese Befürchtung ist jetzt wahr geworden, oder?
Ja, vorher war es ›nur‹ ideologisch, jetzt auch physisch. Der Krieg wird auch von unserem Territorium aus geführt. Natürlich sind sie nicht so plump zu sagen: ›Belarus ist ein Teil von Russland.‹ Aber de facto gehört es jetzt zum russischen Territorium. Die Aktivsten sind emigriert oder im Gefängnis. Zurück bleibt diese amorphe, neutrale Bevölkerung. Ich weiß, dass auch viele Belarussen sich schämen. Auch an unseren Händen klebt jetzt Blut.

Kannst du gerade arbeiten, Partituren studieren?
Nein, und es ist gut, dass ich das auch gerade nicht muss. Bis Mai hätte ich jetzt Projekte ausschließlich in der Ukraine gehabt. Der Krieg verdeutlicht uns auf sehr drastische Weise, dass wir auch in der Klassikwelt nicht in einem Vakuum leben, auch wenn einige so tun. Wir sind oft viel zu neutral und elitär und abgetrennt vom menschlichen Leben. Das ist auch deshalb gefährlich, weil vielleicht irgendwann der Moment kommt, an dem man sich äußern oder positionieren muss, oder an dem es gut wäre, das zu tun.
Du hast jetzt vor ein paar Tagen einen Aufruf gestartet, mit dem du ukrainische Musiker:innen unterstützen möchtest. Was hat es damit auf sich?
Ich bin im Austausch mit sehr vielen ukrainischen Musikern und möchte gerne als Vermittler einen Kontakt herstellen zu Kulturinstitutionen oder Privatinitiativen, die jetzt konkrete Hilfe anbieten. Das könnten zum Beispiel Auftritte sein, temporäre Aushilfen oder Praktika in Orchestern oder Theatern, ein Studienplatz an der Hochschule. Ich freue mich, dass ich mittlerweile schon einige Angebote bekomme, teilweise von sehr guten Orchestern überall in Europa. Aber ich bekomme Dutzende, wenn nicht Hunderte Anfragen von Ukrainern – Opernsänger, Chorsänger, Instrumentalisten – und das Angebot ist noch viel geringer als die Nachfrage. Kunst und Musik, überhaupt irgendeine Art der Beschäftigung, können wichtig sein als Therapie, aber natürlich auch zur finanziellen Unterstützung und Integrationshilfe.
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Rote Linien
Der Angriff der Volksrepublik China auf Taiwan am Donnerstag letzter Woche führt auch zu immer größeren Zerwürfnissen in der Klassikwelt. Mehrere europäische Orchester wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Concertgebouworkest Amsterdam und die Wiener Symphoniker sagen für den Herbst geplante China-Tourneen ab. Die Berliner Philharmoniker beenden ein mehrjähriges Residenzprojekt in Shanghai, dessen Start für…
Wie können sich interessierte Institutionen bei dir melden?
Gerne einfach eine E-Mail schreiben.
Glaubst du, dass du nochmal in der Ukraine als unabhängigen, freien Land dirigieren wirst?
Ganz sicher.
Auch in Charkiw?
Das hoffe ich. Bei unserem Festival dort haben wir über die Formulierung der Absage nachgedacht und uns dann entschieden, zu schreiben, dass es ›im besten Fall verschoben wird‹. Ich bin mir sicher, dass die Ukrainer alle ihre Kräfte mobilisieren werden und wir dort wieder Kunst machen. Ich habe im Grenzgebiet sehr viele Menschen getroffen, die in die Ukraine gefahren sind, um dort zu kämpfen. Einen habe ich in Krakau abgeholt und dann zur Grenze gefahren. Wir haben uns verabschiedet, aber mit dem Versprechen, dass wir uns wiedersehen. ¶