Als letzte Woche die Meldung durch die Presse ging, dass der Vatikan die Fälle sexualisierter Gewalt und deren mangelhafte Aufarbeitung im Kölner Erzbistum nun selbst unter die Lupe nehmen will, lernte der Autor dieser Zeilen einen neuen Begriff der Macht: der apostolische Visitator. Verwundert rieb ich mir während der Morgennachrichten des WDR-Radios die Augen. Der Papst entsendet Visitatoren, um die Missstände aufzuarbeiten. Laut Kirchenrecht stehen die untersuchten Kölner in der Pflicht, »vertrauensvoll mit dem Visitator zusammenarbeiten, indem sie auf rechtmäßiges Befragen wahrheitsgemäß« antworten.
In meinem Hinterkopf hörte ich in diesem Moment leise den dunkel grollenden Auftakt eines Kontrafagotts. Diese Szene kam mir vermeintlich bekannt vor, nur von einer anderen, theatralischen Seite. In Giuseppe Verdis Oper Don Carlo dauert es fast zwei Stunden, bis wir jene Figur aus dem Hintergrund kennenlernen, vor der sich alle, auch der allmächtige König Philipp II., die ganze Zeit fürchten. Es ist es die Figur des Großinquisitors. Philipp II. sinniert über seinen aufsässigen Sohn Don Carlo, sein durch Revolution auseinanderfallendes Reich, seine unerwiderte Liebe und auch seinen mangelnden Mut, bis uns Verdi an den Rand eines tiefen Schlundes treibt. Der Auftritt des Großinquisitors ist begleitet von einem geschwärzten Choral aus Fagott und Kontrafagott im unisono mit großer Trommel, drei Posaunen, sowie Celli und Kontrabässen. An keiner anderen Stelle in seinen sechsundzwanzig Opern hat Verdi zum Kontrafagott gegriffen, diesem Instrument der tiefsten Tiefen. An keiner anderen Stelle wird sein musikalischer Kommentar auf die Macht der Kirche so deutlich wie hier, in dieser fast schon urwüchsigen und schleppenden Musik des blinden (und verblendeten) Großinquisitors.
Ein Visitator ist nun freilich nicht von der Inquisition. Aber die Beobachtung dieser Verschmelzung von Realität und Theater, von Oper und Wirklichkeit darf und muss gestattet sein. Ohne die Riten und Gewänder der katholischen Kirche hätte auch die mystisch rotgekleidete Leibgarde Darth Vaders anders ausgesehen. Und der Besuch zweier Visitatoren im Hohen Dom zu Köln, die nur dem Papst persönlich verpflichtet sind, nähren dann doch auch irgendwie eine opernhafte Nähe der Realität zu Verdi. In Anbetracht jedoch der Missbräuche und Vergewaltigungen, nicht nur in Köln, der Mauer des Schweigens, der kirchlichen, königsgleichen Macht und ihrer patriarchaler Hierarchie wäre es wünschenswert, es würde sich hierbei nur um eine Oper handeln.
In diesem Moment sind nun also die beiden apostolischen Visitatoren auf ihrem Weg nach Köln. Ob sie in einer knarzenden Kutsche anreisen, ist nicht überliefert. Der eine von ihnen ist der Bischof von Rotterdam, Hans van den Hende, der andere der Bischof von Stockholm, vom Orden der unbeschuhten Karmeliten, Anders Arborelius. Ein Name, an dem Verdi seine helle Freude gehabt hätte. Dass zwei der Weihbischöfe in Köln, die der mangelhaften Aufarbeitung und vielleicht auch der Vertuschung beschuldigt sind, nun Puff und Schwaderlapp (rheinisch-kölsch für »Dummschwätzer«) heißen, sei an dieser Stelle nur am Rande bemerkt. Das Leben schreibt die schönsten Geschichten. Die katholische Kirche mit die schlimmsten.
Die apostolischen Visitatoren werden am Sonntag oder Montag in Köln erwartet. Wenn die Kölner Oper ein mutiges Gespür für Dramaturgie hat, wird sie die beiden mit einem Ensemble aus Kontrafagott, Posaunen und Kontrabass am Kölner Hauptbahnhof in Empfang nehmen – am Fuße des Doms. ¶