Vincent Bababoutilabo ist müde. Gestern Nacht hat er ein Spontankonzert mit einer gegeben, es ist spät geworden. In einem gemütlichen Leipziger Hinterhof erzählt Vincent von seinen diversen Bandprojekten, mit denen er als Jazz-Flötist und -Sänger unterwegs ist, seinem Engagement für die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und seinem Studium (Musik/Lehramt, er ist »quasi fertig«). Für seine Masterarbeit hat er alle 40 in Sachsen zugelassenen Musik-Schulbücher für die Sekundarstufe II untersucht mit Blick auf die Frage: Wie werden Schwarze Menschen dargestellt? Rassismus in der Musikpädagogik ist eigentlich kein Thema für den ersten Kaffee am Morgen. Wir geben uns Mühe, während am Nachbartisch die Choro-Musiker schon wieder spielen.

VAN: Nächste Woche hältst du an der Universität der Künste einen Vortrag über Rassismus in Musik-Schulbüchern. Das Ganze ist studentisch organisiert, die Universität hat das Thema Rassismus nicht auf dem Schirm. Wie sieht das an anderen Hochschulen aus?
Vincent Bababoutilabo: Ich habe mir die Curricula von mehreren Hochschulen in Sachsen angeguckt, Dresden und Leipzig vor allem. Das ist eine riesige Leerstelle in der Lehrer*innenausbildung. Wenn man ehrlich ist, wird von Lehrer*innen so viel gefordert, die müssen eine Klasse managen mit 30 Schüler*innen, dann gibt es zum Beispiel Inklusion, sogenannte Willkommensklassen und so weiter … Die Ausbildung deckt da nicht annähernd alles ab. Ich hatte in meinem Lehramtsstudium ein verpflichtendes Seminar zu interkultureller Bildung. Und da gab es ein einziges Referat zum Thema Rassismus, das war’s.
Hat gerade die Musikpädagogik ein Rassismusproblem?
Nein, eigentlich alle. In Deutschland ist Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem und betrifft damit eben auch den pädagogischen Bereich. Mir persönlich ist es in der Musikpädagogik halt besonders aufgefallen. Ich habe mich auf race als Analysekategorie für Musik-Schulbücher fokussiert, aber neben race werden auch die Kategorien gender und class überhaupt gar nicht kritisch thematisiert. Das war teilweise schockierend. Was mich auch überrascht hat, ist, dass viele Musik-Schulbücher gar nicht mehr versuchen, Musikgeschichte linear zu vermitteln – angefangen bei der Gregorianik und dann irgendwann Schönberg – sondern vereinzelte Geschichten erzählen, zum Beispiel ›die Jazzmusik‹. Die Schulbücher, die noch eine lineare Erzählung vermitteln, thematisieren keine einzige Frau – mit Ausnahme von Clara Schumann, die aber auch nur als virtuose Pianistin an der Seite von Robert Schumann erwähnt wird. Und auch mit Blick auf class und race wird nur das Wissen einer sehr bestimmten Gruppe thematisiert: männliches, weißes, bürgerliches oder adeliges Wissen.
Ich habe das Gefühl, Rassismus spielt sich da auf unterschiedlichen Ebenen ab. Einmal in der Frage: Wessen Wissen transportiere ich als ›das wichtige Wissen‹ und dann aber auch inhaltlich, in der Weitergabe von rassistischen Klischees zum Beispiel.
Guter Punkt! Ein Ergebnis meiner Masterarbeit war die eindeutige Aufforderung, dass wir nicht nur die Objekte, die behandelt werden, thematisieren müssen, sondern auch den Blick auf die Objekte. Es macht keinen Sinn, ›afrikanische Trommelmusik‹ zu behandeln, ohne auch zu thematisieren, wie der Blick darauf sich entwickelt hat. Damit sind sehr viele rassistische Codes verbunden, die aber an keiner Stelle benannt werden. Ich habe mich in meiner Masterarbeit auf die visuelle Repräsentation von Schwarzen Menschen beschränkt, mir also wirklich nur die Bilder in den Schulbüchern angeschaut. Ein kleines Beispiel – ich könnte tausende nennen: Eine rassistische Karikatur kommt immer vor, dieses Bild von der ›entarteten Musik‹, eine schwarze Person mit einem Saxofon und einem Judenstern. Was ich daran problematisch finde, ist, dass diese Karikatur einfach nur dasteht und gesagt wird: ›Jazz und Klezmer wurden als ›entartete Musik‹ deklariert und dann verboten‹. Was aber nicht thematisiert wird, ist, dass diese Karikatur ganz spezifische Codes bedient, sowohl in Bezug auf Schwarze als auch auf jüdische Menschen.

Und da läuft man natürlich Gefahr, wenn man in dem Fall Antisemitismus und Rassismus nicht benennt, dass man die Klischees und Stereotype reproduziert.
Ich hab mir außerdem auch angeschaut, wo die Schwarzen Menschen, die abgebildet werden, geografisch positioniert werden. Die Kategorien waren stark vereinfacht: auf dem afrikanischen Kontinent, in den USA, in Lateinamerika oder in Europa. Die meisten Bilder gab es von Schwarzen Menschen in den USA, weil Jazz immer thematisiert wird. Die Menschen, die geografisch dem afrikanischen Kontinent zugeordnet sind – da gab es knapp 200 Bilder – waren fast alle in ›traditioneller Kleidung‹ oder halbnackt abgebildet. Es gab nur drei Bilder mit normaler Alltagskleidung oder in normalen Alltagssituationen. Die dominanteste Geschichte über Schwarze Menschen auf dem afrikanischen Kontinent ist die über Trommelmusik im Dschungel mit Lendenschurz – was ja ganz eindeutig ein rassistisches Klischee ist. Aber als solches wird’s halt nie benannt.

Beschränkt sich das auf die Musikpädagogik? Ich habe das Gefühl, diesen von Klischees gelenkten Blick auf ›das Andere‹ oder ›das Fremde‹ gibt es auch in der Musikwissenschaft.
Ich habe an der Uni Leipzig bei Christoph Hust Seminare belegt, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, zum Beispiel mit Wagners Schriften und seinen Zuschreibungen und seiner Konstruktion von ›dem Fremden‹. Aber das Seminar habe ich freiwillig belegt. Und das ist auch ein Knackpunkt für mich: Ich glaube, dass die rassismuskritische Perspektive und die Perspektive der Migration für alle Lehrerinnen und Lehrer, auch Musiklehrerinnen und -lehrer natürlich, verpflichtend sein sollte im Studium. Alle müssen Bildungswissenschaften machen. Es wäre ein Leichtes, das ein bisschen umzustrukturieren und in den Bildungswissenschaften eine rassismuskritische Perspektive zu etablieren. Nochmal zu dem Punkt: Wir müssen auch den Blick auf die Objekte, die wir behandeln, thematisieren: Ich glaube, die Musik bietet da eine elegante Möglichkeit. Beispielsweise die Entführung aus dem Serail – Musik, die sich mit ›dem Fremden‹ oder ›Anderen‹ auseinandersetzt. Wenn man sich die Musik anhört – diese Klischees, diese Fantasie des Orients, das hat ja mit der Realität nichts zu tun. Das ist ja der Knackpunkt: Dass ›der Westen‹ ›das Andere‹ konstruiert, um sein Selbstbild vom ›Abendland‹ zu bekommen. Wir schaffen ›das Fremde‹, um ›das Eigene‹ klarer zu kriegen. Ganz oft wird dieser Gegensatz aufgemacht: Auf der einen Seite ›das Afrikanische‹, der ›schwarzen Kontinent‹ mit Trommelmusik und Rhythmus im Vergleich zu Harmonielehre und Kontrapunkt im ›aufgeklärten‹ Europa. Wie können wir Musiken denken, ohne immer einen ›westlichen Standard‹ anzuwenden? Das ist eine Frage, auf die ich auch keine Antwort weiß, über die aber nachgedacht werden muss.
Eine andere wichtige Frage ist: Wer ist eigentlich das Objekt und wer ist das Subjekt von Musikpädagogik? In den 40 Büchern, die ich durchgesehen habe, gibt nur ein einziges Schwarzes Kind, das in einer Schüler*innenrolle abgebildet wird. Und du kennst ja diese Musikschulbücher – auf jeder Seite sind mindestens acht Abbildungen und davon viele von Schülerinnen und Schülern. Das ist dann etwas, was die Realität in Deutschland nicht abbildet, wenn Schwarze Menschen nicht in allen Lebenssituationen gezeigt werden. Was interessant ist: Der Bereich Oper ist ziemlich divers. Da werden auch die, die ich jetzt mal als nicht-weiß beschreibe, in handelnden Positionen gezeigt – als Papageno in der Zauberflöte zum Beispiel. Das ist leider auch etwas zynisch, da die Zauberflöte mehr als nur ein bisschen rassistisch ist. Oft kommen Leute in Workshops zu mir und fragen zum Beispiel ›was sage ich denn jetzt zu Schwarzen Kindern? Wie soll ich mit türkischen Kindern umgehen?‹, und das kann und will ich so allgemein natürlich nicht sagen, das kommt auf die spezifische Situation an. Ich glaube, der erste Schritt ist die Anerkennung von Rassismus – das ist ein großer Schritt, der erst noch passieren muss.
Meinst du damit, als Lehrkraft zu sagen …
Vincent: … ›Es gibt Rassismus. Ich erkenne an, dass du als Schüler*in in einem rassistischen System lebst.‹ Kinder, die Rassismuserfahrungen gemacht haben, denen muss man nicht beweisen, dass es Rassismus gibt. Die wissen’s ja. Aber die Anerkennung von einer Lehrperson ist natürlich super (lacht). Und gerade Musik kann eine ermächtigende Funktion haben. Wenn man beispielsweise Lieder thematisiert wie Fremd im eigenen Land von Advanced Chemistry, also der ersten deutschen Rap-Crew, die eben über diese Migrations-Phänomene viel gerappt hat, wie: ›Ich hab einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf‹, aber ich bin trotzdem ›fremd im eigenen Land‹, weil es sowas wie Rassismus gibt, man außerhalb der deutschen Gesellschaft positioniert wird und so weiter. Das zeigt: Es gibt das Problem und es gibt auch eine Gemeinschaft von Leuten, die sich da gegenseitig bestärken und sich positionieren. Das ist etwas, was mein Musikunterricht nicht leisten konnte, weil wir immer nur weiße Männer thematisiert haben.
Das männlich-weiße Wissen spielt in der klassischen Musik aber ja eine große Rolle. Soll man die dann gar nicht mehr unterrichten?
Es spricht ja nichts dagegen, viele Geschichten zu thematisieren. Und es spricht auch nichts dagegen, zu sagen: Hey Leute, passt mal auf, das war Beethoven, französische Revolution und so weiter. Aber man sollte sich vielleicht davor hüten, eine lineare Geschichte zu schreiben. Man kann ja Beethoven, Mozart und Clara Schumann thematisieren, der Knackpunkt ist dann nur der Kontext. In der rassismuskritischen Pädagogik sagt man: Alle Materialien können aus einer rassismuskritischen Perspektive heraus sinnvoll sein. Das wichtige ist die Handlungsebene im Unterricht. Es ist erstmal überhaupt kein Problem, wenn ich eine eurozentristische Musikgeschichtsschreibung in einem Schulbuch habe. Wenn ich sie als solche benenne, kann ich damit auch sinnvollen Unterricht machen. Dann kann man in dem Kontext darauf hinweisen, wie selektiv die Musikgeschichtsschreibung in Deutschland ist, weil sie zum Beispiel Frauen und nicht-weiße Menschen ausklammert.
Ich habe das Gefühl, wenn darüber diskutiert wird, wie guter Musikunterricht sein soll, werden die Ideale sehr hoch gesteckt und klingen dann auch sinnvoll, lassen sich aber so in der Realität nicht ansatzweise umsetzen. Hast du schon Erfahrungen mit dem rassismuskritischen Unterrichten?
Ich habe da eine sehr sehr schöne Erfahrung gemacht. Ich habe dreieinhalb Monate an der Quinoa-Schule in Berlin ein Musikprojekt mitgestaltet. Ich glaube, an der Schule haben 98 Prozent der Kinder einen sogenannten ›Migrationshintergrund‹. Wir hatten unfassbare ›Disziplin-Probleme‹. Als wir dann gesagt haben: ›Ihr bringt Musik mit, die ihr cool findet, und dann thematisieren wir die‹, hat ein Schüler ein Lied von Kurdo mitgebracht, das ist ein kurdischer Rapper aus dem Irak. Das Lied hieß Heimat. Kurdo erzählte da seine Fluchtgeschichte und wie er sowohl in Deutschland als auch im Irak als Fremder wahrgenommen wird und wie er in dieser Zwischenwelt versucht, seine Identität mit seinen Brüdern und Schwester zu finden. Das unglaubliche Erlebnis war, dass die Klasse 90 Minuten mucksmäuschenstill war und die Schüler*innen sehr intensiv, eigenständig und kreativ gearbeitet haben, weil die Musik ihnen was geliefert hat, womit sie sich eindeutig identifizieren können, nämlichen diesen Identitäts-Struggel in einem Land, in dem sie rassistisch diskriminiert werden. Das war mit mein schönstes Erfolgserlebnis mit der These, dass man Rassismus auch thematisieren muss. Ich glaube, Kinder sind sehr sensibel für Probleme in der Gesellschaft – vor allem in so Städten wie Leipzig und Berlin – und wir können ihnen da auch sehr viel mehr zutrauen.
Hast du auch schon Erfahrungen damit gemacht, im Unterricht zu besprechen, dass es eine Vielzahl möglicher Geschichten neben der weißen, eurozentristischen gibt? Das spielt sich ja auf einer sehr abstrakten Ebene ab: ›Wie funktioniert überhaupt Wissen?‹ Ist das nicht zu komplex für Schülerinnen und Schüler?
Ja, oft und nein, es ist nicht zu komplex. Man muss sich einfach häufiger vergegenwärtigen, dass es für sehr viele Kinder keine abstrakte Ebene ist, sondern Alltag. Viele von ihnen tragen ja in sich Geschichten und Wissen, das in Lehrplänen, Schulbüchern und so weiter einfach ausgeklammert wird. Die verschiedenen Communitys oder Gemeinschaften mit all ihren Geschichten und all ihrem Wissen sind da. Weder Rassismus und Antisemitismus noch Migrationsbewegungen nach Deutschland sind irgendwie neue Phänomene. Es wird Zeit, dass die Perspektive der Migration, eine rassismuskritische Perspektive in allen gesellschaftlichen Bereichen etabliert wird, auch in der Musikpädagogik. ¶
»Music education is now only for the white and the wealthy« war der Titel eines Beitrags im britischen Guardian von Mitte März. Charlotte Gill beklagt darin allgemein, dass die Wichtigkeit und der Wert musikalischer Erziehung an britischen Schulen schändlich verkannt und die Musik vernachlässigt werde. Schuld daran sei unter anderem der Leistungsindikator an englischen Schulen, der English Baccalaureate, mit dem eine konservative Politik die Zahl an Musik- und Fremdsprachstudierenden erhöhen wolle. Noch ein anderes Problem macht Charlotte Gill aus: Musik werde zu akademisch, zu verschult gelehrt, vor allem der zu starke Fokus auf Notation als Code schließe viele Kinder und Jugendliche aus. Sie fordert mehr Diversität. Die Reaktionen auf Gills Artikel waren gewaltig. Über tausend Kommentare am Artikel und so viele Gegenreaktionen, dass andere davon Übersichten erstellten. Einer der polarisierendsten Vorwürfe: Hier wird ein musikalischer Analphabetismus romantisiert. Wir wollen wissen, wie es um diese Thematik in Deutschland bestellt ist. Schließt die Vermittlung von Musik manche aus? Ist sie elitär? Dies ist die fünfte Folge der Serie. Außerdem erschienen Beiträge von Christoph Hein in VAN-Ausgabe #107 von Merle Krafeld in VAN-Ausgabe #106, von Thomas Erlach in VAN-Ausgabe #105 und von Norbert Schläbitz in VAN-Ausgabe #104.