»Music education is now only for the white and the wealthy« war der Titel eines Beitrags im britischen Guardian von Mitte März. Charlotte Gill beklagt darin allgemein, dass die Wichtigkeit und der Wert musikalischer Erziehung an britischen Schulen schändlich verkannt und die Musik vernachlässigt werde. Schuld daran sei unter anderem der Leistungsindikator an englischen Schulen, der English Baccalaureate, mit dem eine konservative Politik die Zahl an Musik- und Fremdsprachstudierenden erhöhen wolle. Noch ein anderes Problem macht Charlotte Gill aus: Musik werde zu akademisch, zu verschult gelehrt, vor allem der zu starke Fokus auf Notation als Code schließe viele Kinder und Jugendliche aus. Sie fordert mehr Diversität. Die Reaktionen auf Gills Artikel waren gewaltig. Über tausend Kommentare am Artikel und so viele Gegenreaktionen, dass andere davon Übersichten erstellten. Einer der polarisierendsten Vorwürfe: Hier wird ein musikalischer Analphabetismus romantisiert. Wir wollen wissen, wie es um diese Thematik in Deutschland bestellt ist. Schließt die Vermittlung von Musik manche aus? Ist sie elitär? Den Anfang der Serie macht Norbert Schläbitz, Professor für Musikpädagogik an der Universtität Münster.

Gibt es ein soziales Gefälle bei der Teilnahme an musikalischen Angeboten?

Musikalische Angebote sind so vielfältig wie die Musik. Sie umfassen das Singen in Chören genauso wie das Arbeiten in Bandprojekten. Im einen Fall braucht man gewisse Notenkenntnisse, im anderen eher nicht. Sind bildungsnah Aufgestellte mehr in Chören zu finden und spielen Bildungsferne in Bands? Gibt es demnach gute musikalische Angebote (nach Noten spielender Musiker/Streicherensemble) und weniger gute (frei spielender Musiker/Rockband)? Drückt sich musikalische Bildung in Kenntnis von Notation und tradierter Musik aus und Nicht-Bildung in dem ganzen kulturellen Rest?

Diese Fragestellungen und auch die vorangestellte Eingangsfrage operieren auf der Basis eines humanistisch geprägten Bildungsbegriffs, der längst passé ist. Die Pluralisierung/Demokratisierung von Kultur und musikalischen Angeboten hat zur Folge, dass in allen Bildungsschichten das Populäre dominieren dürfte. Wenn man mit Blick auf die Vielfalt musikalischer Angebote eine Gleichwertigkeit – mal sind Notenkenntnisse notwendig, mal nicht – diagnostiziert, dann ist die Eingangsfrage zu verneinen. Die Schul-Curricula für Musik sehen in ganz Deutschland das Einführen in die Kulturtechnik Notation vor, so dass spätere musikalische Angebote, die das Notenlesen voraussetzen, im Prinzip wahrgenommen werden können. Besondere Förderprogramme an Schulen, die in Zusammenarbeit mit Musikschulen auf den Weg gebracht werden, zum Beispiel JEKI (Jedem Kind ein Instrument) in NRW, können Hindernisse überwinden helfen. Ein soziales Gefälle für notengebundene musikalische Angebote muss es daher nicht zwangsläufig geben.

Ist das verpflichtende Erlernen der Notation ein Grund dafür, dass sozial benachteiligte Schüler*innen ohne private Förderung von musikalischer Bildung abgekoppelt werden, oder ist es eine Voraussetzung für Teilhabe?

Das Erlernen der Notation ist somit auch keine Voraussetzung für Teilhabe an musikalischer Bildung, weil das Gros heutiger Kunst eher performativ aufgestellt ist oder sie andere, digitale Aufzeichnungsformen wählt. Das, was einst bildungsbürgerlich unter musikalischer Bildung verstanden wurde, Beethoven und Co., ist in dieser Engführung überholt.

Der Sound vergangener Jahrhunderte bleibt der Sound vergangener Jahrhunderte. Er klingt wie die Comedian Harmonists bei allem möglichen Gefallen stets zeitlich fern. Wenn jemand der »Klassischen Musik« nichts abgewinnen kann, hat das nicht unbedingt etwas mit musikalischer Unbildung oder sozialem Gefälle zu tun. Mancher fraglos sozial Bessergestellte (humanistisch Gebildete) dämmerte sogar bei der Eröffnung der Elbphilharmonie bei den Klängen von Beethovens Prometheus schlicht weg. Musikalische Bildung setzt nicht mehr notwendig auf die Kenntnis tradierter Musik. Sie ist heute viel breiter aufgestellt. Überlieferter Musik fällt es schwer, sich noch nachhaltig zu behaupten angesichts der Vielfalt musikalischer Angebote, aus denen sich auch musikalische Bildung generiert.

Braucht es einen neuen, besseren Musikunterricht und sind Musiklehrer*innen in der Lage, diesen umzusetzen?

Musikunterricht muss sich besser einstellen auf eine Kultur, in der Werte konkurrieren, neue musikalische Angebote sich etablieren. Was im Musikunterricht geschieht, basiert auf einem musikpädagogischen Studium. Wünschenswert wäre hier eine Eignungsfeststellung, die auch den gegenwärtigen künstlerischen Produktionsbedingungen genügte: Arbeiten mit Software, Apps, Turntables, digitale Notationstechniken, Kreativität in unnotierter Genremusik – Blues, Rock, Sounddesign, HipHop, Techno etc. Dabei können überlieferte musikalische Kompetenzen relativiert werden.

Eine kleine Geschichte: Vor einigen Jahren hat der Präsident einer Hochschule für zwei HipHop-Künstler das Studium an der Hochschule, der er vorstand, durchgesetzt, ohne dass diese die vorangestellte Eingangsfeststellung je hätten bestehen können. Die musikalisch wenig traditionsaffinen, aber hervorragenden Künstler lehnten es konsequent ab, Noten zu lernen und folglich auch, Harmonie- und Analysekurse zu belegen. Sie argumentierten, die Gefahr bestünde, dass sie damit ihrer künstlerischen Kraft beraubt und Musik nur noch traditionsgemäß nach Schema F machen würden.

Veränderte Eingangsbedingungen könnten junge Talente ansprechen, die ansonsten der Schule verlorengingen. Entsprechende Inhalte könnten in der Ausbildung zentraler stehen. So ließe sich auch schulintern für zeitgemäße künstlerische Kreativität ein Raum eröffnen, weil angehende Lehrende in Sachen Musik weniger in den musikalischen Floskeln der Vergangenheit zu denken angeleitet wären. Die Welt der Noten spielt hier nur eine begleitende Rolle. Im positiven Sinne aus dem Rahmen fallen hier allerdings die Forschungen und Projekte zur Appmusic von Marc Godau und Matthias Krebs, die immer auch auf die Musikvermittlung an Schulen zielen. Hier gilt es anzusetzen und zu unterstützen.

Eine bessere musikpädagogische Ausbildung beträfe auch die Überarbeitung vermittelter musikgeschichtlicher Inhalte, für die in der Regel die Nachbardisziplin (Historische) Musikwissenschaft verantwortlich zeichnet. Die Begleitdisziplin sieht ihre Geburtsstunde in der Romantik. Und so lesen sich auch manche ihrer Schriften wenig wissenschaftlich. Ob die Vertreter nun A. B. Marx, G. Adler, A. Schering, W. Wiora geheißen haben, stets ist ihr Schreiben von einem romantischen, fantastischen (postfaktischen) Element begleitet. Tiefpunkt aller Wissenschaftlichkeit war mit Arnold Schering und seiner, wie Burkhard Meischein sie genannt hat, »berühmt-berüchtigten« Beethoven-Deutung in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erreicht. Objektivierte Nachprüfbarkeit wies er mit der originellen Aussage zurück, seine schriftstellerischen Ergüsse wären Folge eines »geistig-seelischen« Verstehens. Ein solch unwissenschaftliches Schreiben konnte anstandslos in der Fachdisziplin Musik publiziert werden, fand sogar Nachfolger. Dieser romantische Impetus lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen, zum Beispiel bei P. Gülke, der für seine poetische Schreibkraft gepriesen wird. Folgen solcher Wissenschaft genannten belletristischen Fantasiereisen mit Schlegel’schem Einschlag (romantische Universalpoesie) sind alternative Fakten transportierende Geschichten vom zeitlosen, universalen Werk, vom Urgrund, von Heroen/Titanen oder auch von der Musik als universaler Sprache, die auf der ganzen Welt verstanden würde. Der Musiktheoretiker H. Fladt hat einmal geschrieben: »Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Das ist blühender Unsinn.« Weil Musik sich nicht erklärt, konnte diese Mär Fuß fassen. Man kann alles, was man möchte, hineinfantasieren: Kommunikation mit Gott, Weltsprache – nur zu … Daraus leitete sich auch die Trennung in »E«- und »U«-Musik ab. Diese immer noch nicht recht überwundene Dichotomie, die Werkzu-/Rückwärtsgewandtheit, auch das Meisterwerkediktum in der Fachdisziplin liegen ganz in der Tradition der Schriften dieser und vieler anderer Autoren. Sie zeigen die Schwierigkeit des Faches bis heute an, sich zur Populären Kunst von heute wissenschaftlich vertretbar und gegenwartsrelevant zu positionieren und haben zurecht eine nicht abebbende Diskussionen um den Verbleib des Faches selbst an Universitäten ausgelöst.

Noch manche universitäre Ausbildung, mancher Lehrplan oder manches Schulcurriculum fußt noch/schon wieder auf solch hanebüchenem Unsinn. Mit echter Verwissenschaftlichung der Fachdisziplin wäre es möglich, vorbehaltlos Musik zu erforschen, relevantes Wissen für die Schule bereitzustellen.

Ist der Musikunterricht zu »akademisch« im Sinne einer Priorisierung theoretischen Wissens und einer Fokussierung auf den (westlichen) klassischen Musikkanon?

Wo alles bewegt und unsicher geworden ist, könnte ein Kanon, als Fels in der Brandung, Orientierung geben. Die Sorge um die musikalische Bildung und das kulturelle Erbe führen zu folgender Passepartout-Ästhetik-Argumentation: »Die ›Sachverhalte‹ der Musik, Literatur, Kunst sind komplex. Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so« (Holger Noltze). Schon Cages Werke widersprechen aus Mangel an komponierter struktureller Komplexität dieser Aussage, auch die monochromen Werke von Malewitsch oder Rothko. Duchamps Pissoir, von Kunsthistorikern zu einem der einflussreichsten und wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts erhoben, widerspricht auch diesem von Noltze vorgetragenen Unsinn. Es gibt nicht die ästhetische Idee, es gibt Ästhetik nur im Plural, bezogen auf ein bestimmtes Genre. Logisch betrachtet macht es überhaupt keinen Sinn, eine nach spezifischen Kriterien konstruierte Musik auf der Basis einer gänzlich anderen Ästhetik zu qualifizieren. Trotzdem aber geben »Klassik-Apologeten« munter ihre jenseits aller Logik geronnenen Urteile zu Populärer Kunst ab.

Ästhetische Normen sind nur zeitlich wie räumlich begrenzt gültig. Es gibt sie an sich nicht. Insofern ist das Argument kanonischer Orientierung albern. Ein übersichtlicher Kanon befördert allein einen musikalischen Analphabetismus im Raum eines stetig wachsenden Universums der Musik. Danach gilt es nicht, einen Kanon zu propagieren, sondern ihn zu neutralisieren. Er suggeriert Gewissheit, diese aber verleidet das Lernen, auf das es heute ankommt. Man wiegt sich lediglich in einem Hort kanonischer Sicherheit, während die eigentliche Musik längst woanders gespielt wird. Der vermeintliche Fels in der Brandung trägt nicht, er zerfällt, geht unter. Wer Schüler*innen einen Kanon anträgt, befördert deren musikalischen Analphabetismus.

Trotzdem bestimmt der Kanon als Wiedergänger als vermeintlich Orientierung gebendes Allheilmittel hin und wieder die musikpädagogische Diskussion. Die zu Beginn des neuen Jahrtausends stark beachtete Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts), darin die Benennung von Werken als »überzeitlich« (und so die Marx/Adler & Co.-Ideologie weiterträumend), der darin ausgelobte, praktisch alle Gegenwartsmusik vernachlässigende Werkekanon und insbesondere die folgende, jene restaurativen Bestrebungen verteidigende Schrift Bildungsoffensive Musikunterricht, herausgegeben von J. D. Gauger/ H. Wilske im Jahre 2007, stehen exemplarisch für die immer wieder aufkeimende Kanon-Diskussion.

Mit der Akzentverschiebung hin zu musikalischen Ästhetiken öffnet sich für Schule der ganze musikalische Kosmos. Theorie bleibt notwendig, spielt aber eher eine begleitende Rolle. Überlieferte Musik ist im Musikunterricht nur noch ein Baustein neben anderen. Gewicht erhalten die Schüler*innenperspektive (Stichwort: ästhetische Wahrnehmung) und die praktische Annäherung an Musik, was eine gewollte Multiperspektivität impliziert und einer eindimensionalen Akademisierung vorbeugt.

Was ist »guter Musikunterricht«, welche Musik und Methodik eignet sich besonders für den Anfang, wann und wie sollten Noten ins Spiel kommen (wenn überhaupt)?

Guter Musikunterricht sucht den Ausgleich von Produktion, Reflexion und Rezeption. Das relativiert die reflexionsferne, alleinige Orientierung auf die Praxis in der Sekundarstufe I (zum Beispiel im Aufbauenden Musikunterricht), sowie die prominent verfochtene Musikanalyse in der Sekundarstufe II. Carl Dahlhaus glaubte an die notenimmanente Analyse, aus der sich alles begründen ließe. »Man muß diesen Gedanken nur einmal aussprechen, um zu sehen, wie absurd er ist«, meint Albrecht Wellmer zu solcher »Betriebsblindheit« (Martin Geck), die Dahlhaus einflussreich vertrat.

Was wäre auch gewonnen, wenn man allein formal analytisch die Form der Fuge nachgewiesen hat oder eine Sonatenhauptsatzform? Betrachten wir eine formale Gedichtanalyse: 7 Strophen, 58 Verse, freie Rhythmen, kein festes Reimschema, Verwendung von Apostrophe, Imperativ, Hyperbel, Ellipsen, Antithese, Metonymien, Metaphern, Neologismus. Diese formale Analyse sagt über das Gedicht Prometheus von Goethe nichts aus. Eine Interpretation beginnt erst jenseits dessen. Der formale Nachweis von Fugenschema, Sonatenhauptsatzform etc. bietet nur ein selbstgenügsames Glasperlenspiel. Musikunterricht, in dem die das Notenwerk berücksichtigende Analyse dominiert, in dem Begleitinformationen sich dagegen in marginalen Zitaten erschöpfen, transportieren lediglich das überholte notenimmanente Analysemodell von Dahlhaus. Sie sind lässlich und doch nach wie vor im Musikunterricht vorzufinden – zumindest da, wo Musik Abiturfach ist, denn die Aufgaben im Zentralabitur setzen in der Regel maßgeblich auf die naive Notenanalyse und provozieren somit einen schlechten Musikunterricht.

Folgende Aspekte erscheinen dagegen wichtig:

Die Analyse (+Notenkenntnisse) macht einen Aspekt aus. Die eigentliche Interpretation ergibt sich in Auseinandersetzung mit den übrigen Punkten, zum Beispiel den Betrachtungsweisen einerseits des geschichtlichen Hintergrundes einer Musik, andererseits ihrer Rolle für die Entwicklung, die sich gegenseitig erhellen, aber auch Kritik und Relativierung zulassen. Zum notwendigen Aufbau von Wissen gehört immer wieder auch dessen Dekonstruktion, das Aufzeigen, dass sich darin eine motivierte Perspektive abbildet. Das beugt der Dogmatisierung/Romantisierung von Musikunterricht vor. Musik ist Ausdruck ihrer Zeit und nicht isoliert zu betrachten. Ein guter Musikunterricht ist daher fachübergreifend aufgestellt und umfasst auch soziologische, biografische, politische, philosophische und weitergehende künstlerische Aspekte. Zum Was (Inhalt) tritt das Wie: Wie lerne ich, welche Methode? Zur Reflexion tritt die Produktion, das Musizieren. Der Integrierende Musikunterricht, ausgedrückt in den Lehrwerken »O-Ton« (Schöningh-Verlag), zeigt die Konkretisierung des Schemas. Auf diese Weise, durch das Einbinden in Kontexte, macht auch das Einführen in die Kulturtechnik Notation Sinn und ist nicht Selbstzweck. Musikalische Angebote in alle Richtungen stehen späterhin prinzipiell weit offen. ¶


Zur Vertiefung: N. Schläbitz: Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen. Vom Neu-Humanismus als Leitkultur, von der »Wissenschaft« der Musik und von anderen Missverständnissen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2016.