2022 hat Teodor Currentzis Utopia ins Leben gerufen. Das gleichnamige Orchester hat bereits mehrfach konzertiert, für die Salzburger Festspiele 2023 ist der Utopia Choir hinzugekommen, um Purcells Semi-opera Indian Queen und Mozarts c-moll-Messe zu erarbeiten und aufzuführen. Die Musiker aus über 30 Nationen kommen projektweise zusammen und werden durch die Kunst und Kultur DM Privatstiftung sowie verschiedene europäischer Mäzene unterstützt.

Als Chorsängerin habe ich an dieser ersten Arbeitsphase des Utopia Choir teilgenommen. Eine Forschungsreise in einer Doppelrolle als Teilnehmerin und Beobachterin. Dabei verändert nicht nur die Beobachterin das zu Beobachtende (siehe Heisenbergsche Unschärferelation), auch das Beobachtete und Erlebte wirkt auf die Feldforscherin zurück – eine transformative Erfahrung.

Purcells einzigartige Semi-opera Indian Queen (eingerichtet von Currentzis und Peter Sellars) ist ein Tableau aus zarten, melancholischen, erotischen und dionysischen musikalischen Momenten. Mozarts c-moll-Messe durchschreitet die Dunkelheit und das Licht, das Absolute und das Menschliche in feinsten Schattierungen, wie nur Mozart sie komponieren konnte und wie sie Currentzis jetzt rigoros aus uns und dem musikalischen Torso herausmeißelt. (Mozarts c-moll-Messe blieb unvollendet, wir singen die Ergänzung des Sanctus von Ulrich Leisinger.)

The Indian Queen in der Felsenreitschule, mit Andrey Nemzer (Ixbalanqué), Dennis Orellana (Hunahpú), Nicholas Newton (Maya-Schamane), Jeanine De Bique (Teculihuatzin/Doña Luisa) und Julian Prégardien (Don Pedrarias Dávila) • Foto © SF/Marco Borrelli

Liebevolle bis leidenschaftliche Unerbittlichkeit und Akribie ziehen sich durch den ganzen, ungewöhnlich ausführlichen Probenprozess: Jede noch so kleine musikalische Einheit erhält eine Farbe, eine Richtung, eine Form, eine emotionale und expressive  Qualität. Und das nicht nach- oder nebeneinander, sondern immer gleichzeitig auf allen Ebenen.

Mit der ersten Partiturseite des Kyrie aus Mozarts c-moll-Messe zum Beispiel verbringen wir alle Zeit der Welt. Bis Agogik, Artikulation, die Farben stimmen, der Lagenausgleich, der Duktus nahtlos wechselt, die Phrase sich organisch aufspannt, entfaltet und entspannt. Das »Ky« marcato und mezzoforte, das »ri« marcato, pünktlich, aber nicht scharf punktiert, dann ein fließendes »eleison«, sul fiato, misterioso. Kyrie objektiv, eleison flehend. E-le-i-son. (Deutliches, fast doppeltes l). Crescendo von der mittleren in die tiefe Lage – und so weiter.

Es braucht viele Wiederholungen, bis 40 Sänger, die noch nie miteinander gesungen haben, synchron und auf den Punkt an Bord sind. Zeit, in der die Musik ins Nervensystem und ins Körpergedächtnis einsickert, und mit jeder weiteren Runde Kapazitäten frei werden, sich selbst wahrzunehmen, den Nachbarn zu hören, den Gesamtklang zu spüren und zu antizipieren.

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Leidenschaftlich motivierend, freundlich, geduldig bis stoisch melden die Chorleiter Vitaly Polonsky und Evgeny Vorobyov »noch nicht« zurück: Die Lücken zwischen dem, was  – in der Sache kompromisslos – verlangt wird, dem, was wir davon umzusetzen glauben und dem, was tatsächlich musikalisch-klanglich realisiert wird, schließen sich anfangs nur langsam.

Singen auf Autopilot, unbewusstes, unpräzises, eher zufälliges Gestalten wird nicht toleriert. Wir werden inspiriert, den Klang aus dem Körper und dem Herzen entstehen zu lassen, nicht aus einer wie auch immer gearteten Steuerungseinheit zwischen unseren Ohren. Das braucht Mut zur Verletzlichkeit und wachsendes Vertrauen, das nur über die Zeit entsteht.

Auch der Weg ist das Ziel. Und der Weg braucht Zeit. Repetition um Repetition schweißt unseren aus allen Ecken Europas gecasteten, bunten, sehr lebendigen Haufen aus unterschiedlichen Nationalitäten, Sensibilitäten und Erfahrungshorizonten zusammen. Am Ende klingen wir wie ein Chor, der seit Jahren zusammen singt.

In der weiteren Durchführung, jetzt mit Teodor Currentzis, wühlen wir uns immer tiefer, immer detaillierter in den musikalischen Text. Er wird von allen Seiten betrachtet, gewendet, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, abgeklopft, geprüft, unsere unvollkommene Ausführung wird verworfen. Mehr als einmal wundere ich mich darüber, wie bereitwillig ich mich zum unablässigen Arbeiten gegen die Schwerkraft, die Trägheit, zum Schwimmen gegen den Strom der Standardinterpretation mitreißen und hinreißen lasse. Wie der innere Kritiker, der effizienzgetrieben und ergebnisorientiert rumnörgelt, einfach ins Leere läuft.

Nach einer zehrenden Durstrecke setzt das Runner’s High ein, wir betreten einen nächsten Raum. Wo etwas in uns durchbricht zur Wachheit, zum geistesgegenwärtigen Musizieren, zur vollen Anwesenheit. Zum wirklich gemeinsamen Atmen, Hören, Phrasieren. Wo die Wiederholung nicht einfach Wiederholung ist, sondern immer tieferes Verankern im Körper und im Geist. Die maximale Immersion in den musikalischen Text bringt maximale Freiheit im Umgang damit hervor.

Auf der Bühne der Felsenreitschule wird der Chor für die Indian Queen sternförmig in die Orchesterstimmen hineinplaziert. Wir sitzen also neben und hinter den Instrumentalisten, die mit uns colla parte spielen. Die Phrasierung jeder einzelnen Stimme im Satz wird zwischen Sängern und Instrumentalisten angeglichen, koordiniert, amalgamiert. Das Stück, ein Strophenlied in der Mitte der Semi-opera, ist eigentlich simpel. Die Maßnahme klingt banal. Die Wirkung beim erneuten Zusammensetzen des Satzes ist fantastisch und überraschend.

Die cum sancto-Fuge aus dem Sanctus aus Mozarts c-moll-Messe wird in Balance und Dynamik sehr lange austariert: »Streicher weniger! Noch weniger! mp bleiben!« Schließlich sind tatsächlich alle Stimmen durchhörbar. Eine sehr sprühende, tänzerische Fassung. Nach zwei spaßigen Durchgängen, in denen die Streicher ihre Stimmen rappen und wir rhythmisch akzentuiert sprechen, stimmt auch die Vertikale, der Groove stellt sich ein und verlässt uns nicht mehr. In diesen Momenten ist der Weg die Belohnung und das Ziel kommt auf magische Weise auf uns zu.

c-Moll-Messe in der Kirche St. Peter, mit Teodor Currentzis, dem Utopia Orchestra und dem Utopia Choir • Foto © SF/Marco Borrelli

Der Nachhall in der Kirche St. Peter, in der Mozart höchstselbst die Messe unter Mitwirkung seiner Frau Constanze uraufgeführt hat, beträgt fünf bis sechs Sekunden. In der Generalprobe finden wir im 6. Durchgang des Credo die Artikulation der Silben, die so trocken und so kurz ist, dass sie die Überakustik quasi aufhebt. Ein sehr belohnender und eindrücklicher Moment nach dreieinhalb Stunden Generalprobe. Im Konzert sind die akustischen Bedingungen durch die Anwesenheit des Publikums wieder verändert, eine Wiederholung gelingt uns leider nicht ganz.

Mit dem professionellen Abliefern einer gut gearbeiteten Interpretation auf hohem Niveau, wie sie in vielen Berufschören und -orchestern üblich ist, hat das wenig gemein. Im »Konzertbetrieb« ist man in der Regel nach einem Durchlauf und Generalprobe konzertreif. Bei Currentzis liegen da noch drei weitere Probentage dazwischen. Bis ganz zum Schluss und vor jeder weiteren Aufführung wird unablässig angepasst, neu kalibriert und gefeilt.

Zur ganzen Wahrheit gehört, dass meine Belastungsgrenze immer wieder erreicht wird. Das Auseinandernehmen wirkt zuweilen atomisierend. Manches schießt übers Ziel hinaus. Das Akribische kippt ins Pedantische, die Leine ist kurz. Umso entfesselter klingt es dann im Konzert.

Utopia als utopisches Projekt auf Zeit hat eingelöst, was es versprochen hat. Über die Musik im Zentrum haben wir neue Verbindungen geknüpft, unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen erforscht, sind uns in einem sehr bereichernden schöpferischen Austausch respektvoll und auf Augenhöhe begegnet. Die Kollegen, Russen, Briten, Iren, Italiener, Spanier, Ungarn, Slowaken, Japaner, Koreaner,  Deutsche, Österreicher sind mir ans Herz gewachsen. Fortsetzung folgt. 


Dankbar für eine künstlerisch und menschlich wertvolle Erfahrung spreche ich hier als Musikerin über die Arbeit mit Teodor Currentzis, den Kollegen und dem ganzen Team utopia. Zur politischen Debatte um Teodor Currentzis’ Person haben sich andere, wie Christine Lemke-Matwey, Bernhard Neuhoff oder Hartmut Welscher bereits differenziert geäußert. 

... ist seit 2000 als freischaffende Sängerin im klassischen Konzertbetrieb unterwegs und steht gleichermaßen gern auf den Bühnen großer europäischer Konzerthäuser wie auf den Orgelemporen weniger prominenter süddeutscher Gotteshäuser. Was sie rund um ihren Beruf inspiriert, antreibt und umtreibt, ist auf ihrem Blog Innenansichten nachzulesen.