Das hätte sich Bohuslav Martinů sicher nicht träumen lassen, dass er mit seiner Griechischen Passion die Oper unserer Gegenwart schreiben würde. Noch weniger konnte er vorhersehen, dass diese Oper jetzt bei den Salzburger Festspielen zum umjubelten Erfolgsstück würde, als einzige der vier Neuproduktionen. Der Zuspruch kam umso überraschender, als der Abend davor mit der Premiere von Giuseppe Verdis Falstaff schon als Untergang der Festspiele gehandelt wurde. Zuletzt wurde Verdis letzte Shakespeare-Oper 2013 in Salzburg aufgeführt, in der Regie von Damiano Michieletto. Er hatte die Komödie in die Casa Verdi verlegt, in Verdis Altersheim für Musiker in Mailand. Christoph Marthaler transportierte ihn jetzt in ein Hollywood-Filmstudio und machte es damit auch dem Dirigenten Ingo Metzmacher nicht leicht.
Was ist los in der Zunft der Musikkritiker: Wird da noch zugehört oder nicht vielmehr zurechtgehört? Ist das noch Meinungsvielfalt, wenn dem einen die Musik als »permanent elektrisch aufgeladen«, dem anderen aber von »schwerblütiger Behäbigkeit« erscheint? Während der eine vergeblich auf »Eleganz und Delikatesse« wartet, und der andere gerade das »delikate, kammermusikalische Musizieren« des Orchesters preist? Da wird in einem Bericht bedauert, dass die Sänger »nicht besonders rücksichtsvoll begleitet« werden, und im anderen die Rücksicht des Dirigenten auf die Stimmen unterstrichen. »Pointiert, analytisch und schlank« sei die Interpretation gewesen – nein: spröde und unterkühlt. Von »präpotentem Lärmen« ist zu lesen und von der Entdeckung einer »herbstlicheren, wehmütigeren« Oper: Falstaff von Giuseppe Verdi.

Hinter diesem divergierenden Presse-Echo, demzufolge die Aufführung gleichzeitig zu laut und zu leise, zu schnell und zu langsam war, verbirgt sich eine Tendenz: Sie fußt auf einem Vorurteil gegenüber dem Dirigenten Ingo Metzmacher. Dieser Fachmann für die Moderne, der 2013 in der Salzburger Presse zum »hochverdienten Ersten Kapellmeister für das 20. und 21. Jahrhundert« ernannt wurde und mit seinen Aufführungen von Luigi Nono, Wolfgang Rihm, Harrison Birtwistle, Bernd Alois Zimmermann und George Enescu Heldentaten vollbrachte, der soll nun durch Verdis letzte Oper, dazu noch eine heiter parlierende Komödie, steuern? Ja klar, denn für Metzmacher ist der Falstaff ein Stück moderner Musik, wie er wie er mir bei einem prickelnden Wasser auf der Terrasse des Pressebüros einige Tage nach der Premiere erklärt: eine Art Figaro ohne Arien, jedenfalls ein Mosaik aus permanenten Wechseln ohne den »großen, wehenden Atem«. Entsprechend kräftig schüttelte er Verdis Cocktail aus blitzender Ironie, trockenem Kommentar und wahrhaftiger Anteilnahme durch. Das Blech der Wiener Philharmoniker wieherte vor Lachen, das Holz hielt voller Noblesse dagegen. Zum Piepen, wie Falstaffs Vorstellung, er könne an Gewicht verlieren, im Piccolo zerging. Es wurde geschmäht, geschwärmt, Mondscheinseligkeit beschworen und ein ganz liebes, streicherseliges Menuett kredenzt. Gefühle wurden aus der Erinnerung rekapituliert oder wie bei dem Liebespaar Nannetta und Fenton erstmals entdeckt (Giulia Semenzato und Bogdan Volkov auch sängerisch das Glückspaar dieser Aufführung).

Weil sich in modernen Partituren das Tempo meist nur aus den Metronom-Angaben erkennen lässt, orientierte sich Metzmacher auch bei Verdi an dessen Tempo-Vorgaben – und lag damit etwas langsamer als Toscanini. Akribisch hatte er das Faksimile der autographen Handschrift studiert und daraufhin seine Dirigierpartitur mit lauter Fähnchen versehen, wo er Abweichungen feststellte. Außerdem, so erzählt Metzmacher weiter, ist er sich ganz sicher, dass Verdi seinen Falstaff vom Schluss her komponierte, von der Fuge, die als Finale gegen jede Norm und Erwartung verstoße. Sie kündige sich in den ersten drei Takten der Partitur auch schon an. Und gleich im ersten Takt werde »wider den Stachel gelöckt«, wenn die Musik auf der zweiten Zählzeit beginne und auf der unbetonten letzten einen Akzent erhalte.
Dass diese Produktion schwierig werden würde, schwante Metzmacher schon vor der Premiere, wie er ganz unaufgeregt gesteht. Das Hauptproblem für ihn waren die großen Entfernungen auf der Bühne des Großen Festspielhauses und das Bühnenbild von Anna Viebrock, bei dem die Nähe zwischen Orchester und Sängern »nicht immer gegeben« war. Aber er sei auch nicht der Dirigent, der vom Regisseur verlange, alles drei Meter nach vorne zu ziehen: »Ich hab’s halt probiert.« Und die von ganz rechts bis ganz links auseinander gezogene Aufstellung des Nonetts im Gartenbild des ersten Akts erfreute Metzmacher sogar, weil man dann viel besser hören könne, wie sich Männer- und Frauengruppe mit jeweils unterschiedlichen Rhythmen ansingen (im Sechsachteltakt die Frauen, im Alla breve die Männer).
In der Presse wurde dieses zelebrierte, kompositorische Störmanöver allerdings als mangelnde Koordinationsfähigkeit des Dirigenten kolportiert: als Lotse sei er »im Ernstfall überfordert«, so Markus Thiel im Merkur. Den Buh-Orkan, der ihn dann am Premierenabend streifte und in voller Wucht über Christoph Marthaler samt Team niederging, hatte Metzmacher freilich nicht erwartet. Darauf, dass Falstaff weder einen dicken Bauch vor sich herschieben noch in der Themse landen würde, hätte man bei Marthaler wetten können. Dass er aber Verdis altersweises Lustspiel in ein inszenatorisches Trauerspiel verwandeln würde, schmerzt auch den treuesten Marthaler-Fan. Die Komik lagerte er in eine seiner typischen Slapstick-Szenen aus, in eine Versuchsanordnung für den Tänzer und Turner Joaquin Abella, sich im Wäschekorb zusammenzufalten. Davon abgesehen aber trieb Marthaler seine Dekonstruktion in die Annullierung des Stücks.

Eigentlich sei es ja auch gar keine Komödie, so hatte er schon im Terrassentalk für die Presse Ende Juli verkündet. Wenigstens eine Operette? Nein, nur nachhaltige Langeweile, die von Akt zu Akt die Lust am Hinschauen nahm. Inspiration fand Marthaler in zwei Filmen von Orson Welles, in denen dieser selbst als Falstaff (Chimes at Midnight von 1965) und als Regisseur (The Other Side of the Wind von 1976) auftrat. Also befinden wir uns in einem Filmset, rechts ein Swimmingpool als Stellvertreter für Verdis Garten, links ein Vorführ- und Abhörraum: Dort verfolgt man gerade die Schlussfuge in einer historischen Aufnahme. Der Regisseur alias Orson Welles alias Falstaff unterbricht (Schauspieler Marc Bodnar), das Skriptgirl eilt herbei, die Maskenbildnerin, der Kameramann. Alle begeben sich auf die Studiobühne in der Mitte – Klappe, erste Szene.

Die übergestülpte Story aber läuft ins Leere, verheddert sich in Nebensächlichkeiten, wird immer abstruser. Außerdem handelt sich Marthaler ein psychologisches Problem ein, denn wie soll ein Opernpersonal glaubhaft singen, wenn es von der Regie weitgehend lahm gelegt wird? So schön die Stimmen von Elena Stikhina als Mrs. Alice Ford und Cecilia Molinari als Mrs. Meg Page sein mögen – als Filmschauspielerinnen langweilten sie sich selbst. Nur Simon Keenlyside als Ford steigerte sich in seine Eifersuchtsszene so hinein, dass er sie selbst zu glauben schien. Gerald Finley in der Titelrolle ist ein salzburgerprobter Bariton, aber auch nicht ansatzweise der heruntergekommene Schwerenöter – strikt muss er verweigern, sich einen Kunstbauch umschnallen zu lassen. Mit seiner Angst vor dem Klischee kam sich Marthaler allerdings selbst in die Quere: Finley wirkte in seiner Zurückhaltung plötzlich ritterlicher als jeder noch so burleske »Ritter Falstaff«. Dieser wankte zu guter Letzt in Rüstung auf die Bühne und sang nur zwei Worte: »tutti gabbati« – »Alles Betrogene«. Zu spät.

Einhellig fiel das Votum dagegen bei der letzten Salzburger Premiere aus: The Greek Passion von Bohuslav Martinů nach dem Roman von Nikos Kazantzakis. Ursprünglich für den Londoner Covent Garden geplant, wurde die 1957 entstandene Oper nach einer gründlichen Umarbeitung erst postum, 1961 in Zürich, uraufgeführt. Und wer sich von Marthaler enttäuscht fühlte, war bei dem Regisseur Simon Stone mindestens überrascht, denn eine solche Konzentration auf Text und Handlung hatten ihm viele nicht zugetraut. Das Stück erzählt eine Flüchtlingsgeschichte und ist so aktuell, dass es keinerlei Aktualisierung bedarf. Und Stone war klug genug, weder die Moralkeule zu schwingen noch durch Drastik zu schockieren.
Schauplatz ist ein abstrakter weißer Bühnenkasten, der die gesamte Breite der Felsenreitschule einnimmt und die oberste Arkadenreihe ins Geschehen einbezieht (Bühnenbild: Lizzie Clachan). Manchmal öffnen sich in der Rückwand kleine Fenster, lassen auf Glocken, Dorfbewohner oder einen Akkordeonspieler blicken. Am Schluss ist die Wand mit roter Farbe beschmiert: »Refugees out«.

Da hat sich die Flüchtlingsgruppe mit Zelten und Rucksäcken schon wieder aufgemacht. Mit einem »Kyrie eleison« beginnt ihr Weg von vorne. Zurück bleibt der »wiedergekreuzigte Christus« – so der Originaltitel des Romans – in einer Blutlache: der Hirte Manolios, der in einem Passionsspiel die Rolle von Jesus übernehmen sollte und diese Aufgabe so ernst nimmt, dass er in Konflikt mit der Kirchenobrigkeit gerät (Sebastian Kohlhepp ist ein erleuchteter Christós).

Die Scheinheiligkeit der Kirche ist das eine Thema dieser Oper, das andere die Kernfrage, wie sich eine Gesellschaft verhält, wenn an ihr Mitgefühl appelliert wird. Musikalisch spiegelte sich das Gruppenverhalten in den gewaltigen Chorpartien und einem massiven Orchester inklusive Klavier. Der junge Dirigent Maxime Pascal, der mit dieser Passion sein Debüt bei den Wiener Philharmonikern gab, brachte Martinůs arg anachronistische Musik prächtig zum Klingen. So abstrakt die Bühne, so konkret und direkt die Musik aus dem Graben: tschechisches Idiom, Sakralmusik verschiedener Glaubensrichtungen, Folklore und Unterhaltungsmusik. Schließlich eine schlagzeuggesteuerte Massenhysterie und eine orchestrale Hinrichtung. Zu dirigieren ist diese großräumig angelegte Musik freilich viel leichter als der Falstaff. Sie ist so eindeutig, dass sie sogar den Regisseur an die Kandare nimmt. Er muss nur zuhören (wollen). ¶