In Asien liegt die Zukunft der klassischen Musik, hört man westliche Klassikkoryphäen wie Simon Rattle immer wieder sagen. Mit dem Abklingen der COVID-19-Pandemie in Taiwan und Südkorea wird dieses Klischee jetzt in gewisser Weise wahr. Ostasiatische Orchester fangen aufgrund von raschem, besonnenem Regierungshandeln und gut funktionierenden Gesundheitssystemen langsam wieder an, vor Live-Publikum zu spielen. Von der Wiedereröffnung können viele europäische und vor allem amerikanische Musiker:innen nur träumen. Wie sieht das post-COVID19-Konzert aus? Welche Musik wird gespielt, wer darf wo sitzen, wie sieht gemeinsames Musizieren unter Beachtung des Seuchenschutzes aus? Das National Symphony Orchestra in Taiwan gibt darauf mit einer Konzertreihe, die sowohl live als auch per Livestream zu erleben ist, erste Antworten: am 24. Mai mit den Serenaden von Dvořák und Tschaikowsky sowie einem Werk von Tyzen Hsiao, am 30. Mai mit Mozarts Gran Partita und Dvořáks Serenade op. 22 und am 12. Juni mit Beethovens Fünfter und Siebter. Letzte Woche sprach ich mit Shao-Chia Lü, der seit 2010 das Orchester leitet, und der Geschäftsführerin Wen-Chen Kuo.

VAN: Wie war die Stimmung bei Ihrem ersten Social Distancing-Konzert?
Shao-Chia Lü: Die Atmosphäre war schon eine sehr besondere. Die Erwartungen waren ziemlich hoch, seitens des Publikums, der Musiker:innen, auch bei mir selbst. Schon als ich auf die Bühne kam, war der Applaus überwältigend.
Wir erhöhen die Anzahl der Menschen auf der Bühne schrittweise; Sicherheit hat noch immer höchste Priorität. Bei den ersten beiden Konzerten haben jeweils in der ersten Hälfte die Holzbläser und in der Zweiten Hälfte die Streicher gespielt. Das waren Serenaden-Abende: Musik, die leicht ist, sehr melodiös, aber man muss sich beim Hören trotzdem konzentrieren. Das Konzert war ein voller Erfolg. Wir haben auch als Musiker:innen Social Distancing ernstgenommen, alle saßen mindestens zwei Meter voneinander entfernt. Alle Streicher trugen Masken. Ich allerdings nicht, es macht einfach einen zu großen Unterschied, ob man mein Gesicht sehen kann.
Beim dritten Konzert denken wir jetzt etwas größer. Auf dem Programm stehen nur Werke von Beethoven. Ich denke, wir brauchen noch immer auch Tiefe und Komplexität in der Musik, die ganze Bandbreite, nicht nur das Fröhliche.
Ich glaube, Taiwan ist aktuell einer der sichersten Orte der Welt. Gerade diskutieren wir, unser Haus bei den kommenden Konzerten für ein noch größeres Publikum zu öffnen. In zwei Wochen wollen wir sogar Mahlers Neunte spielen. Das ist ein ziemlich großer Schritt. Ich freue mich drauf.

Warum, meinen Sie, war das Publikum so euphorisch – schon als Sie auf die Bühne kamen?
Shao-Chia Lü: Durch die Pandemie mussten wir mehr als zwei Monate ohne Konzerte auskommen. Jetzt fühlen wir wirklich, wie sehr wir sie brauchen – wie sehr, wird uns im Normalbetrieb vielleicht oft gar nicht bewusst. Schon vor den Konzerten war klar, wie bedeutsam es ist, jetzt wieder live Musik hören zu können. Uns haben auch viele Nachrichten vom Publikum erreicht: ›Wann spielt ihr wieder live für uns? Wir können es kaum erwarten!‹
Leidet das Zusammenspiel unter der neuen Sitzordnung?
Shao-Chia Lü: Die Musiker:innen können sich so gegenseitig nicht so gut hören. Aber sie passen sich den Gegebenheiten sehr schnell an. In den Proben traten schon ein paar Herausforderungen zutage. Aber wir hatten genug Zeit, um mit ihnen umzugehen. Die Konzerte liefen dann wirklich sehr gut.

Mussten Sie etwas an Ihrem Dirigat ändern?
Shao-Chia Lü: Nicht wirklich. Manchmal musste ich etwas größere Gesten machen als sonst.
Waren die Programme dieser ersten drei Konzerte lange im Voraus geplant? Oder haben Sie das Repertoire erst gewählt, nachdem die Pandemie schon ausgebrochen war?
Shao-Chia Lü: Letzteres. Wir haben das alles sehr kurzfristig auf die Beine gestellt. Mit diesem Virus ändert sich die Situation täglich, deswegen haben wir immer wieder Notfall-Meetings, um zu überlegen, was unser aktueller Wissensstand ist und was wir darauf aufbauend für das Publikum tun können. Alle Programme, die wir jetzt spielen, haben wir mit sehr wenig Vorlauf auf die Beine gestellt.

Warum haben Sie, neben der erwähnten Leichtigkeit und dem Melodiösen, Mozarts Gran Partita und die Serenaden von Tschaikowsky und Dvořák ausgewählt?
Shao-Chia Lü: Wir wollen nicht nur Musikliebhaber:innen ansprechen, sondern wirklich die ganze taiwanesische Gesellschaft. Diese Musik ist sehr zugänglich, es ist einfach, ihr zu folgen. Und trotzdem bleibt sie Kunst, geschmackvoll, mit Tiefe. Deswegen halte ich sie für eine gute Wahl.
Erinnern Sie sich an bestimmte Publikumsreaktionen nach dem Konzert?
Wen-Chen Kuo: In der Pause des ersten Konzerts hat man schon gemerkt, dass es für viele ein erhebendes Gefühl war, wieder Livemusik zu hören. Dieses Konzert war ein Zeichen dafür, dass wir uns wieder in Richtung Normalität bewegen, und das bedeutet allen hier sehr viel.
Sie sind den Orchestern in Europa und den USA um einiges voraus was die Wiederaufnahme der Konzerte angeht. Haben Sie irgendwelche Ratschläge, die für Orchester andernorts hilfreich sein könnten?
Shao-Chia Lü: Ich glaube, der Grund dafür, dass wir hier wieder spielen können, ist, dass es hier sicher ist. Unsere Notfallmaßnahmen und die Umsicht der taiwanesischen Bevölkerung … Die Menschen waren hier wirklich sehr wachsam, auch schon bevor die Pandemie ausbrach. Deswegen leben wir hier in Sicherheit. Und deswegen können wir jetzt Konzerte spielen. Nicht wir machen das möglich, alle Menschen in Taiwan machen das möglich. Ich weiß darum nicht, ob ich Orchestern in anderen Ländern zu irgendwas raten kann. Wir sind einfach dankbar, dass wir Teil dieser Gesellschaft hier sind und den Menschen hier gute Musik nahebringen können.

Wie sind die Konzerte ganz praktisch organisiert? Wie weit entfernt voneinander müssen die Zuhörer:innen sitzen? Welche Gruppengröße ist erlaubt?
Wen-Chen Kuo: Ganz wichtig ist bei uns vor allem der Temperaturcheck. Wir messen bei allen Zuhörer:innen und Musiker:innen die Körpertemperatur. Wir müssen außerdem alle Kontaktdaten erfassen – nur für den Fall – und uns natürlich auch Gedanken über die Größe des Publikums machen. Wir haben ungefähr 2.000 Sitze, lassen im Moment aber nur etwa 1.000 Menschen rein. Paare dürfen nach wie vor nebeneinandersitzen.
Auf der Bühne können die Streicher Masken tragen, deswegen müssen sie nicht mehr als 1,5 Meter voneinander entfernt sitzen. Die Bläser sitzen durch Plexiglas voneinander getrennt.

Wie lange brauchen Sie für die Temperatur-Kontrolle vor dem Konzert?
Wen-Chen Kuo: Weil wir hier in Taiwan technisch sehr gut ausgestattet sind [lacht], brauchen wir dafür etwa 50 Minuten, wenn alle Mitarbeiter:innen vorbereitet und am Platz sind.
Die New Yorker Metropolitan Opera hat alle Musiker:innen in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt, viele andere haben die Bezahlung der Angestellten deutlich zurückgefahren. Wie ist das bei Ihnen?
Wen-Chen Kuo: Wir zahlen den Musiker:innen ihren ganz normalen Lohn. Zum Leben eines professionellen Orchestermitglieds gehört ja nicht nur das Auf-der-Bühne-Sitzen. Man muss auch täglich üben, das machen gerade alle sehr viel. Und das ist sehr gut für uns. Wenn die Musiker:innen jetzt wieder auf der Bühne stehen, spielen sie so auf demselben Niveau wie vorher – oder sogar besser. Shao-Chia Lü: Auch vor diesem Eröffnungskonzert, während der letzten beiden Monate, haben sie durchgängig gearbeitet. Wir hatten auch andere Projekte: Wir haben Kammermusik eingespielt. Wir haben die ganze Zeit gearbeitet, um in Form zu bleiben.

Konnten Sie die Musiker:innen auch ohne Konzerte weiter bezahlen, weil Sie von öffentlicher Hand finanziert sind? Oder sind Sie überwiegend auf private Sponsoren angewiesen?
Wen-Chen Kuo: Wir werden zu 60 Prozent durch öffentliche Gelder finanziert. Wir müssen immer noch ein bisschen aufs Budget schauen, aber eigentlich läuft es für uns ganz gut, finanziell sind wir gut aufgestellt. Das waren ja jetzt auch nur drei schwierigere Monate, im Juni läuft alles wieder seinen gewohnten Gang. Shao-Chia Lü: Wenn der Ausnahmezustand länger als ein Jahr dauern würde – erst dann hätten wir wirklich ein Problem.
Sie haben angekündigt, bald Mahler Neun spielen zu wollen. Gab es einen bestimmten Grund, gerade dieses Werk aufs Programm zu setzen?
Shao-Chia Lü: Mahler Neun war nicht Teil des Pandemie-Programms der ersten drei Wiedereröffnungs-Konzerte. Wir hatten sie bereits letztes Jahr als letztes Konzert dieser Saison geplant. Und wir freuen uns sehr, wenn es dabei bleibt. ¶